Kısmet

Ich denke, also bin ich Türke

Manchmal erscheinen mir Anne und Baba so gegensätzlich wie die Türkei. Moderne und Tradition. Während ich darüber nachdenke, nehme ich einen Bissen. Heute gibt es Burger, weil bei der Aufregung über die Demonstrationen am Taksim Platz in Istanbul niemand ans Kochen denkt.

„Grüß dich des“, entgegnet Anne 1 aufgeregter als sonst, mit einem Bein im Hausflur, mit beiden Armen mir um den Hals fallend. Dieser Satz ist schon fast so etwas wie Annes Markenzeichen geworden. „Wie geht es mein Sohn?“, dicker Kuss links, dicker Kuss rechts und noch einmal fest umarmen. So viel Zeit muss trotz alle der Aufregung sein.

Einmal in Aufruhe hat Baba 2 auch gleich etwas an ihrem Deutsch auszusetzen. Sie ist pikiert. „Was?! Mein Deutsch ist besser als deins. Dein Deutsch scheiße“. Und Baba erwidert üblicherweise etwas in der Art wie „egal scheiße“. Worauf hin er wiederum von uns korrigiert wird. Aber er gibt nicht nach: „Scheißegal oder egalscheiße, alles scheiße.“ Als wäre es sein Stichwort, deutet er auf die Demonstrationen, die im Fernseher laufen. Mit einer Lautstärke, als wäre der Gezi Park in Istanbul direkt vor der Haustür.

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Deutsch werde ich von meinen Schwiegereltern nicht mehr lernen. Wenn ich nicht langsam meinen Hintern hochbekomme, dann wohl auch kein Türkisch mehr. Dafür durfte ich viele andere Dinge durch meine deutsch-türkische Familie kennenlernen, wofür ich so dankbar bin.

Ich möchte gerne die Türkei, dort wo die Wurzeln eines Teils meiner Familie liegen, besser verstehen. Seit sechs Jahren versuche ich, die türkische Seele zu verstehen. Es gelingt mir nicht so recht. Aber ich verstehe zumindest die Entrüstung meiner Familie über die Geschehnisse in der Türkei. Meine Schwiegereltern sind wunderbare Menschen. Sie nahmen mich im Schoß der Familie auf, schenken Geborgenheit, geben mir Denkanstöße, Einblicke in ihren Erfahrungsschatz, in ihre Kultur und öffnen mir Tore in neue Welten. Das war es, was Baba immer wollte. Erleben, Lernen, Staunen. Anne war dabei seine stete Konstante, die ihm Rückhalt und Mahnerin zugleich war, wenn er zu viel Neues wagen wollte.

Manchmal erscheinen mir die beiden so gegensätzlich wie die Türkei selbst. Moderne und Tradition. Während ich darüber nachdenke, nehme ich einen Bissen. Heute gibt es Burger, weil bei der Aufregung niemand ans Kochen denkt. Am Ende darf ich bestimmt wieder Reste verzehren. Sonst ist es Günah 3. Oder wir haben kein Bereket 4. Stattdessen gibt es Wortgefechte. Anne schreit entrüstet, dass ihre Ministerin „Merkel“ sei. Sie nickt jedoch auch heftig, als Baba ergänzt, sie solle Atatürk nicht vergessen. Er habe in kürzester Zeit Unglaubliches geleistet. Uns eine Identität gegeben. Wo wären wir ohne ihn.

Während ich vor mir hinkaue, denke ich an eine Türkei, wie sie mir mein Schwiegervater durch seine Erzählungen lebendig werden lässt. Ein junger Mann im adretten Anzug. Eine stolze Frau an seiner Seite im schicken Kostüm. Aber auch eine gläubige Großmutter im Kopftuch, die sich dennoch an den Spaghettiträger-Kleidchen ihrer Enkelinnen erfreut. An seine Kinogänge. Seinem Traum von einem Cadillac. Vom blühenden Leben am Bosporus. Traurigen, aber hoffnungsvollen Momenten in der nächtlichen Brise bei einem einsamen Çay 5. Rakı mochte er nie so recht, aber alte Geschichten von Hodschas und von Sultanen.

Als Baba geboren wurde, war die türkische Republik noch nicht einmal sieben Jahre alt. Wahrscheinlich ist er deshalb so, wie er ist. Ein Mensch voller Sehnsucht. Babas atatürksches Türkeibild ist gezeichnet von Tradition und Werten, aber eben auch von Bürgerlichkeit, Laizismus und Moderne. Von der Sehnsucht nach einer stolzen Identität. Von der Diskussion, die gegen die Lautstärke des Fernsehens ankämpft, als wären wir direkt auf dem Taksim Platz, bekomme ich nur wenig mit.

Unterbrochen werden meine Gedanken von Babas energischen Tätscheln auf meiner Schulter. „Cogito ergo sum“, sagt er abrupt. Sichtlich stolz auf seinen kleinen Bildungsschatz. Denken sei wichtig, ergänzt er. Die Leute sollen lernen, hinterfragen und Dinge nicht hinnehmen. Wer freies Leben verbietet, verbietet freies Denken, meint er. Natürlich glaube er an Gott. Und an die Propheten. Aber was hat das mit Politik zu tun? Er glaube, aber er müsse zuerst denken… er gerät ins Stocken.

Er müsse an seine Familie denken. An das Leben, das er mit ihnen genießen will. Er will streben. Er ist eben gezeichnet von der atatürkschen Republik. Von einer Zeit, als man erwartungsfroh einer noch jungen Idee von einer Zukunft entgegenstrebte. Die Gegenwart ist Deutschland. Sein Wohnzimmer. Ist sein Türkeibild etwa sentimentale Vergangenheit?

Das Telefon klingelt. Es sind die Verwandten aus Istanbul. Das Schlagen der Töpfe aus der Leitung ist fast synchron mit den Klängen aus dem Fernseher. Hektische Diskussionen. Zu Hause in Istanbul wollen sie gerne demonstrieren, trauen sich aber nicht. Zu groß ist die Angst vor der Omnipräsenz des Staatsapparates. Sie beklagen dieselben Dinge wie Baba und Anne.

Baba fällt in seinen philosophischen Gedanken zurück. Wer nicht frei seine Meinung äußern könne, könne auch nicht frei denken. Dafür habe Atatürk gekämpft. Um eine stolze, moderne und freie Türkei aufzubauen. Dieses Erbe müsse man bewahren. Als gerade Erdogan ins Bild tritt und verkündet, dass vor ihm die richtige Türkei zu sehen sei, schüttelt Baba nur den Kopf. Anne hetzt inzwischen zur Tür. „Grüß dich des“, hört man aus dem Flur. Es ist meine Schwägerin. Sie eilt zu uns und steigt gleich in die Diskussion ein. In voller Aufgeregtheit fragt sie mich: „Verstehst du denn nicht, was das zu bedeuten hat?“ Ich verstehe es in der Tat nicht ganz. Aber ich denke, dass ich Baba verstehe. Währenddessen werden mir die restlichen Pommes vorgesetzt. Ich solle essen, man könne doch keine Reste lassen. Ich höre nur halb zu, weil ich noch am Grübeln bin. Insgeheim hoffe ich, dass der Schlüssel zur türkischen Seele in Babas Erzählungen steckt. Er ist ein guter Mann. Maşallah 6.

  1. Mutter
  2. Vater
  3. Sünde
  4. Sinngemäß: Ergiebigkeit
  5. Tee
  6. Gott beschütze/behüte dich/es