Beschneidungsurteil

Was der Kölner Richter am Landgericht übersehen hat

Die Beschneidung läuft laut Kölner Landgericht dem Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwider. Das ist schlicht falsch!

Von Andreas Wojcik Dienstag, 07.08.2012, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 09.08.2012, 0:50 Uhr Lesedauer: 2 Minuten  |  

Die Beschneidung von Jungen geht Schätzungen zufolge zurück bis in das antike Ägypten. Heute – Jahrtausende später – schätzt man, dass circa 35 % aller Männer weltweit beschnitten sind. In mehreren führenden Industriestaaten wie z. B. den USA oder Südkorea wird bis heute ein Großteil der Jungen bei der Geburt vorbeugend beschnitten. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt die Praxis aus gesundheitlichen Gründen. Hinzu kommen religiöse Motive, die vor allem für die drei monotheistischen Religionen Islam, Judentum und Christentum von Bedeutung sind.

So geht das muslimische Selbstverständnis davon aus, dass man unabhängig davon, ob man beschnitten oder nicht beschnitten wird, als Muslim geboren wird. Im Koran selbst findet sich kein Hinweis darauf, dass die Beschneidung vorgenommen werden muss. Es wird lediglich auf den Weg Abrahams verwiesen, dem gefolgt werden soll. Deshalb wird die Beschneidung vor allem aus dem islamischen Gewohnheitsrecht (Sunna) hergeleitet.

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Bei den Juden wird der Bund zu Gott erst mit der Beschneidung hergestellt. Deshalb ist das sogenannte Brit milah (Beschneidungszeremonie) auch historisch einer der meist praktizierten jüdischen Bräuche. Schon im Frühmittelalter wurde zum Gedenken an die Beschneidung Jesu, acht Tage nach seiner Geburt, am 1. Januar, das Fest der Beschneidung des Herrn (Circumcisio Domini) gefeiert.

Die Urchristen wurden ebenfalls aus religiösen Gründen beschnitten. Diese Praxis wurde im Mittelalter zu einer Zeit aufgegeben, als die Judenverfolgung anfing – man brauchte ein Unterscheidungsmerkmal. Heute wird die Beschneidung nur noch von einigen orthodoxen Christen wie etwa den Aramäern vorgenommen.

Insofern stellt die Beschneidung von Jungen mitnichten ein Indiz auf eine religiöse Zugehörigkeit dar und erst gar nicht ein Indiz, auf eine ganz bestimmte religiöse Zugehörigkeit. Doch genau damit argumentiert das Kölner Landgericht. „Diese Veränderung [Anm. d. Red.: Beschneidung] läuft dem Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwider“, heißt es in der Urteilsbegründung.

Das ist schlicht falsch. Denn es gibt keinen bekannten Glauben oder Nicht-Glauben, der voraussetzt, dass man nicht beschnitten sein muss. Es gibt dagegen sehr wohl einen Glauben, der praktisch voraussetzt, dass man beschnitten sein muss. Aktuell Meinung

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  1. Herbert Eisenbeiß sagt:

    Ich teile Ihre Sicht der Dinge nicht, auch sind einige Fakten die Sie nennen schlichtweg überholt.

    Es stimmt, dass es in den USA die Praxis der generellen Beschneidung von Säuglingen gegeben hat. Allerdings hat sich inzwischen beim Dachverband der amerikanischen Kinderärzte die Einsicht durchgesetzt, dass eine Beschneidung zwar medizinische Vorteile mit sich bringen würde, diese aber nicht ausreichen, generell eine Beschneidung auch noch zu empfehlen und durchzuführen. Ob ein Kind nun beschnitten wird oder nicht, das entscheiden die Eltern. Daher ist die Zahl der Beschneidungen in den USA seit Jahren rückläufig, 2008 lag sie noch bei 57%. Eltern lehnen inzwischen die Beschneidung ab und wegen der nicht mehr gegebenen medizinischen Indikation zahlen einige Versicherungen auch nicht mehr dafür.

    Dass das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit in der Einzelfallabwägung schwerer wiegen muss als das auf freie Religionsausübung, das war zu erwarten. Der darauf folgende Shitstorm aber auch.

    Nur: soll man jetzt nur deswegen, weil sich einige Religionen in der Ausübung ihres Glaubens gestört fühlen könnten, auf einmal die Religion über die körperliche Unversehrtheit stellen? Ich finde: Nein!

  2. Andreas sagt:

    Es scheint wirklich schwer zu sein, die einfachsten Argumente zu verstehen. Also noch einmal, die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt die Beschneidung nur in einigen Afrikanischen Staaten und auch nur von Erwachsenen und NICHT von Kindern. In den USA selber ist die Beschneidung seit Jahren in der Kritik mit der Folge, dass sie immer weiter zurückgeht. Gerade hier wird die Diskussion in Deutschland sehr aufmerksam verfolgt und von sehr vielen sehr wohlwollend.
    Sich im Zuge der Diskussion um religiös motivierte Beschneidungen auf die USA oder die WHO zu berufen ist daher schlicht unredlich.
    Natürlich ist es richtig, dass auch ein beschnittenes Kind sich später noch gegen den Glauben seiner Eltern entscheiden kann, aber seine körperliche Unversehrtheit bekommt es dadurch nicht zurück.
    Und was den jüdischen Glauben angeht, bringt es nichts sich immer an die reine Lehre zu orientieren. Viele Juden aus Osteuropa sind eben nicht beschnitten und die meisten Juden gehen wie auch die meisten Christen eher lax mit ihren jeweiligen Geboten um. Auch gibt es längst in Israel eine wachsende Gruppe von Beschneidungsgegnern und Reformjuden, die sich natürlich als Juden verstehen. Wie wäre es also sich etwas pragmatischer um die Menschen und etwas weniger um die Betonköpfe der religiösen Führer zu kümmern?
    Und nochmal, für die Ausübung der Religionen gilt die Einschränkung, dass diese nicht im Widerspruch zu den geltenden Gesetzen stehen darf. Entsprechend ist der Spruch des Kölner Gerichtes absolut folgerichtig, dass die körperliche Unversehrtheit des Kindes höher zu bewerten ist, als die Religionsfreiheit der Eltern. Und es gibt ein weiteres Grundrecht, welches hier zu beachten ist. Herr Dr. Wojcik könnte ja mal erklären, warum Jungen im Namen der Gleichberechtigung ein vermindertes Anrecht auf körperliche Unversehrtheit haben sollten als Mädchen. Eine Vorhaut mit absolut vergleichbaren Funktionen gibt es auch beim weiblichen Geschlecht.

  3. Chris sagt:

    Das ist soweit ich weiß nicht ganz richtig. Die WHO empfiehlt nicht die Beschneidung an Kleinkindern.
    Außerdem gibt es Studien von Traumata, die aus einer Beschneidung hervorgehen können. Viele mögen hier einwenden, dass sie von keinem Fall dieser Art gehört haben. Selbstverständlich schweigen die meisten darüber, da es sich um eine intime Sachen handelt.
    Von Seiten der Gleichstellung kann man außerdem einwenden, dass es kein Ritual gibt, in der das weibliche Geschlechtsorgan auf eine ähnliche Weise gefeiert wird. Jungen haben einen ganzen Tag nur für sich und dazu zahlreiche Geschenke. Der Penis wird somit in den Mittelpunkt des Rituals gerückt.
    Ich denke außerdem – habe dazu aber leider noch keine wissenschaftlichen Quellen gelesen –, dass alte religiöse Rituale oft kontextabhängig aus der Not heraus geboren wurden. Zum Zeitpunkt der Einführung mag es tatsächlich notwendig gewesen sein, einen solchen Eingriff an Kleinkindern vorzunehmen, da die hygienischen und medizinischen Bedingungen in Kombination mit den klimatischen dies erforderten. Und ich denke, man führte dies an Kleinkindern durch, da man lange Zeit bis in letztes Jahrhundert fälschlicherweise annahm, dass Kleinkinder keinen Schmerz verspüren würden. Es ist heute aber nicht mehr vornehmlich praktikabel.
    Wenn man allerdings dem Urteil folgen möchte, sollte man auch die Zwangsmissionierung der KatholikInnen bei der Taufe bis 14 aussetzen und allgemeinen Ethik-/Philosophie-/Religionsunterricht einführen. Erst dann kann man anfänglich davon sprechen, dass die freie Wahl der Religionszugehörigkeit statt finden kann.

  4. Heinz Hertlein sagt:

    „Bei den Juden wird der Bund zu Gott erst mit der Beschneidung hergestellt.“

    „Insofern stellt die Beschneidung von Jungen mitnichten ein Indiz auf eine religiöse Zugehörigkeit dar und erst gar nicht ein Indiz, auf eine ganz bestimmte religiöse Zugehörigkeit.“
    Da scheint es einen Widerspruch in der jüdischen Exegese zu geben. Einerseits wird das Wegoperieren der Vorhaut als zwingend für den Bund zu Gott angesehen, andererseits ist sie doch nicht ausschlaggebend für den Bund zu Gott.

    „„Diese Veränderung [Anm. d. Red.: Beschneidung] läuft dem Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwider“, heißt es in der Urteilsbegründung.“
    Das ist richtig, hier argumentiert das Gericht falsch. Allerdings läuft es dem Interesse des Kindes, später selbst über seinen Körper entscheiden zu können, zuwider. Dieser Fehler in der Begründung ist daher nicht sonderlich bedeutsam, für das gefällte Urteil.

  5. Detlev Beutner sagt:

    Mit verdrehten Tatsachen und verkürzten Darstellungen bringt man die Debatte nicht weiter. Also mal wieder ein paar Korrekturen:

    In den USA ist die Beschneidungsrate zwar noch rel. hoch, aber sie geht seit Jahren stark zurück. Hintergrund der hohen Rate bzw. der Einführung der mehr oder minder flächendeckenden nicht-medizinisch und nicht-religiös indizierten Zirkumzisionen war die Verhinderung der Masturbation, ein Vorgehen, dass dem Viktorianischen Zeitalter entsprang.

    Die WHO empfiehlt die Maßnahme in Hochrisikogebieten bei einwilligungsfähigen Männern – das hat mit der vorliegenden Frage schlicht nichts zu tun. Die „Begründung“ ist in etwa so, als wenn man allen Jungs ab dem achten Tag ein Kondom 24 Stunden über den kleinen Schniedel ziehen würde und sagen: Wieso, die WHO empfiehlt doch den Einsatz von Kondomen!?

    Der zitierte Satz vom LG Köln ist, keine Frage, unglücklich (streng genommen auch: falsch) formuliert. Wenn man das Urteil aber in Summe liest, so wird klar, was das Gericht zum Ausdruck bringen wollte: „Diese Veränderung läuft dem Interesse des Kindes, später selbst über seine aus einer Religionszugehörigkeit entstehenden körperlichen „Markierung“ entscheiden zu können, zuwider.“ — Man kann den wirklich schlecht formulierten Ursprungssatz natürlich nutzen, um Polemik zu betreiben. Man kann aber auch versuchen zu verstehen, wo das Problem liegt. Viel geistige Anstrengung ist dazu nicht vonnöten.

    Soweit im Übrigen auf die „Tradition an sich“ abgestellt wird, ist dies wie immer das schlechteste (bzw. gar kein) Argumente. Viele Dinge waren seit tausenden von Jahren nicht anders, aber man hat erkannt: Sie waren nicht gut. Die Züchtigung von Kindern durch Eltern etwa wurde in Deutschland erst vor 12 Jahren abgeschafft.

    Es ist nur logisch, dass kurze Zeit später, wenn Kinder als eigenständige Rechtsträger anerkannt werden, auch das Amputieren von Vorhäuten aus religiösen Gründen (der Eltern) zur Diskussion steht. Immerhin hat man die ebenso alte Tradition bei Mädchen schon länger als „geht gar nicht“ verinnerlicht.

  6. Haanna sagt:

    „Insofern stellt die Beschneidung von Jungen mitnichten ein Indiz auf eine religiöse Zugehörigkeit dar und erst gar nicht ein Indiz, auf eine ganz bestimmte religiöse Zugehörigkeit. Doch genau damit argumentiert das Kölner Landgericht. „Diese Veränderung [Anm. d. Red.: Beschneidung] läuft dem Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwider“, heißt es in der Urteilsbegründung.

    Das ist schlicht falsch. Denn es gibt keinen bekannten Glauben oder Nicht-Glauben, der voraussetzt, dass man nicht beschnitten sein muss. Es gibt dagegen sehr wohl einen Glauben, der praktisch voraussetzt, dass man beschnitten sein muss.“

    Man kann es drehen und wenden wie man will, es ist und bleibt eine Körperverletzung. Die Eltern haben einfach nicht das Recht (egal ob religiös oder erzieherisch motiviert), in das Sexualleben ihrer Kinder einzugreifen.

    Muslime, Juden und Beschneidungs-Sympathisanten können doch versuchen ihre Kinder mit 14 Jahren mit den gleichen Argumenten zu überzeugen. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland sind gegen die Zwangsbeschneidung von Kindern und dafür, dass man selbst über die körperliche Unversehrtheit seines Körpers zu entscheiden hat.

    Hier werden nicht Haare geschnitten, Nasen gepierct oder Ohren gestochen, sondern es wird ein vollfunktionstüchtiges nicht irrelevantes Organ entfernt, das dem Betroffenen in seinem Sexualleben einschränken kann. Ich betone KANN, nicht MUSS. Und weil man es nicht weiß, sollte man es sein lassen.

    Falls man Beschneidungen trotzdem erlaubt lassen will, dann wäre ich dafür, dass auch die Verjährung auf solche Taten abgeschafft werden soll. Die betroffenen Jungen müssen ihre Eltern verklagen können, falls diese nicht in seinem Interesse gehandelt haben und es zu einer Deformation oder ähnlichem gekommen ist.

  7. Herbert Duncker sagt:

    Der Richter am Kölner Landgericht hat nichts übersehen. Im Gegensatz zu Ihnen hat er allerdings genug Abstraktionsvermögen aufgebracht, um eine irreversible körperliche Markierung von nicht einwilligungsfähigen Kindern aus religiösen Gründen als Eingriff in DEREN Religionsfreiheit zu begreifen.

    Ihre Ausführungen zur Bedeutung der Beschneidung im Christentum sind in kruder Weise falsch. Überprüfen Sie Ihre Quellen. Dass die Urchristen als Anhänger einer jüdischen Sekte beschnitten waren, stellt dabei niemand in Frage. (Und letztlich ist das auch alles reichlich irrelevant für die Frage, ob medizinisch nicht indizierte Beschneidungen HEUTE legal sein sollen.)

  8. Kleinstedt sagt:

    Alles gehört zu Deutschland. Aber keine Rituale die anderen Schaden zufügen. Wer einmal die Sicht von Leuten lesen möchte wo die Beschneidung schief ging, sollte auf http://www.beschneidungsforum.de sich diese einmal verinnerlichen, bevor er über ein Thema diskutiert, von welchem er keine Ahnung hat.

  9. Grenoble sagt:

    „Es gibt dagegen sehr wohl einen Glauben, der praktisch voraussetzt, dass man beschnitten sein muss.“

    Nein, das Christentum setzt dies nicht voraus, das Judentum überträgt die Religion mittels der unbeschnittenen Mutter per Geburt. Muslim wird man ebenso per Geburt über den muslimischen Vater oder als Konvertit mit zwei Sätzen, gesprochen vor Zeugen (es gibt nur einen Gott und Mohammed ist sein Prophet).
    Nebenbei, wie kann ein 8-Tage altes Kind einen Glauben entwickeln ?

  10. Rasti sagt:

    „Falls man Beschneidungen trotzdem erlaubt lassen will, dann wäre ich dafür, dass auch die Verjährung auf solche Taten abgeschafft werden soll.
    Die betroffenen Jungen müssen ihre Eltern verklagen können, falls diese nicht in seinem Interesse gehandelt haben und es zu einer Deformation oder ähnlichem gekommen ist.“

    Wie soll das konkret juristisch funktionieren?

    Ob eine Handlung eine Straftat ist, hängt vom objektiven Tatbestand (der Handlung) und vom subjektiven Tatbestand (den Absichten des Handelnden ab), aber nicht davon, was ein Dritter später darüber denkt, auch wenn der Dritte hier das „Opfer“ ist.

    Und auch für eine zivilrechtliche Haftung muss ein konkretes Verschulden des Handelnden nachgewiesen werden.

    D. h. wenn die Eltern „in bester Absicht“ handeln, sind sie nicht zu belangen.