Aufruf

Strukturelle Diskriminierung an deutschen Schulen – kein Thema für Deutschlands Medien?

Die Studie "Chancenspiegel" zeigt: Die soziale Herkunft hat erheblichen Einfluss darauf hat, welche Schule ein Kind besucht. Besonders betroffen sind Kinder ausländischer Herkunft. Sechzig Journalisten rufen Medien dazu auf, nicht mehr zu schweigen.

Montag, 19.03.2012, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 21.03.2012, 8:32 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Der aktuell veröffentlichte „Chancenspiegel“ der Bertelsmann-Stiftung und des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund haben der Republik einmal mehr vor Augen geführt, dass die soziale Herkunft eines Kindes erheblichen Einfluss darauf hat, ob es nach der Grundschule in Deutschland auf ein Gymnasium geht oder nicht, oder ob es gar auf der Förderschule landet und abgehängt wird. Was dabei oft nur als ein Aspekt zur Sprache kommt und selten explizit skandalisiert wird: Kinder mit ausländischer Herkunft sind davon besonders und seit langem betroffen. Wir möchten daher als Neue Deutsche Medienmacher dazu aufrufen, diesen lautlosen, alltäglichen Skandal in unserem Land nicht einmal mehr in der Schublade verschwinden zu lassen – die institutionelle Diskriminierung im deutschen Schulwesen.

Worum es uns geht:
Kinder aus Einwanderer- und Arbeiterfamilien werden in Deutschland oftmals trotz guter Noten auf Haupt- und Sonderschulen geschickt, die ihre Chancen auf ein erfolgreiches Leben deutlich mindern. Die Pisa-Studie 2009 belegte bereits, dass Einwandererkinder bei vergleichbarer Leistung eine vier- bis fünfmal geringere Chance haben, eine Empfehlung für das Gymnasium zu erhalten, als Kinder aus deutschen Familien. Ein Beispiel aus der Praxis: Der heute 20-jährigen Sara Pias aus Wuppertal wurde nach der Grundschule die Hauptschule empfohlen. Erst nach drei Schulwechseln schaffte die Tochter einer italienischen Arbeiterfamilie das Abitur – viele Eltern sind nicht so hartnäckig. Saras Erfahrung mit struktureller Diskriminierung ist einer von vielen Fällen. Sie passieren auch heute tagtäglich, sie sind mitverantwortlich für die Bildungsmisere, doch ihnen fehlt die angemessene Publizität.

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Dass bei der Benachteiligung die ethnische Herkunft eine Rolle spielt, belegte auch der Befund des Nationalen Bildungsberichts, der konstatiert, dass Einwandererkinder selbst bei gleichem sozioökonomischen Status doppelt so häufig an Hauptschulen zu finden sind wie Kinder ohne Migrationshintergrund. Bildungsforscher wie Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke haben vielfach nachgewiesen, dass diese Diskriminierung Teil des derzeitigen Schulsystems ist. Lehrkräfte, die sich dem entgegen stellen, bekommen Probleme. So wurde die bayerische Grundschullehrerin Sabine Czerny strafversetzt, weil ihre Schüler zu gut in Mathematik waren und zu wenige an die Hauptschule empfohlen werden konnten. Jeder weiß es, kaum jemand spricht es offen aus: Die Kinder, die diese Schulform „befüllen“ sollen, sind meist Einwandererkinder.

Die Vereinten Nationen kritisieren Deutschland für die systematischen Benachteiligungen aufgrund der frühen Selektion. Es handelt sich hier um die Verletzung eines Menschenrechts – des Rechts auf Bildung. Dabei handelt es sich nicht um ein Randgruppenthema: Fast jeder dritte Jugendliche in Deutschland hat einen Migrationshintergrund.

Umso unverständlicher ist es, dass darüber in Deutschland nicht angemessen berichtet wird. Auch nach den Ergebnissen der PISA-Tests ging es in der Berichterstattung meist eher um das Aufholen in einzelnen Kompetenzen und nicht um die strukturelle Benachteiligung. Sicher, es gibt auch zu diesem Thema vereinzelt Beiträge und Artikel. Aber ganz im Gegensatz zu seiner Bedeutung findet dieses Thema in den Medienformaten, die die öffentliche Debatte prägen, faktisch nicht statt.

In den vergangenen Jahren hat kein einziges der politischen Talk-TV-Magazine die beschriebene Diskriminierung von Einwandererkindern im Schulsystem explizit zum Thema gemacht. Gleichwohl stand etwa das Thema „Integrationsverweigerer“ mehrfach im Fokus, ebenso wie Sendungen zur Frage, wie viele Einwanderer respektive „Islam“ Deutschland vertrage. War Bildung das Thema, wurde gefragt, ob die Jugend „dumm“ (Maybrit Illner) oder „zu doof“ (Anne Will) sei. Ähnliches gilt auch für die Titelgeschichten der auflagenstärksten Printmagazine und Zeitungen. Gerade bei den meinungsbildenden Leitmedien ist diese Einseitigkeit bei der Themensetzung nicht hinzunehmen und mehr journalistische Ausgewogenheit gefragt.

Wir wollen dazu aufrufen, dieses Thema, das Einwanderer und ihre Nachkommen in Deutschland aber auch die Gesamtgesellschaft existenziell betrifft, nicht mehr zu vernachlässigen. Wir sprechen dabei auch aus eigener Erfahrung, denn vielen von uns, die wir diesen Aufruf unterzeichnen, wurde fälschlicherweise auch nicht zugetraut, das Abitur zu machen und zu studieren. Wir fordern daher die Programm- und Blattmacher_innen, die Chefredaktionen und Sendeanstalten, Wochenmagazine und Tageszeitungen auf, diesen Missstand im Jahr 2012 als ein Schwerpunktthema zu setzen. Die Neuen Deutschen Medienmacher, eine Initiative von 400 Journalistinnen, Journalisten und Medienschaffenden mit Migrationshintergrund, bieten an, dabei ihr spezifisches Wissen und ihre journalistische Kompetenz einzubringen.

Die UnterzeichnerInnen: Aktuell Gesellschaft

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  1. Migrantin sagt:

    @Pepe
    Der Direktor wollte deswegen verhindern, dass ich seine Schule besuche, weil er keine türkischstämmigen Schüler wollte (ich war dann auch die Einzige). Die Dame hat deswegen einen Termin bei der Einschreibung vorgeschlagen, weil ihr der Name zu ausländisch klang.

    @Andreas Kampfenbaum
    Ja, eine unfassbare Geschichte, die das Leben schreibt. Und die tausendfach vorkommt in Deutschland.

  2. Pepe sagt:

    @Andreas:

    Wenn Sie die persönliche Geschichte der Nutzerin „Migrantin“ für unglaubwürdig halten, dann beweisen Sie die weit verbreitete Ignoranz der Deutschen bezüglich der typischen Hürde, mit welchen Deutsche mit Migrationshintergrund konfrontiert werden und zwar nicht selten, sondern zu oft.

  3. Mel sagt:

    @Andreas Kampfenbaum
    Aber-Aber-Aber-Tausende Fälle sprechen eine mehr als deutliche Sprache!
    Die strukturelle Bildungs-Einbahnstraße ist nicht nur weit verbreitet, sondern Normalität in Deutschland. Leider! Sie wird nicht nur als ein unausweichliches Übel ertragen, sondern von wichtigen Bildungsakteuren bewusst und absichtlich herbeigeführt. Genauer: sogar organisiert! Dass man sich über schlechtere Bildung der Neudeutschen-Kinder pikiert, obwohl diese eigentlich geplantes und beabsichtigtes Ergebnis ist, ist scheinheilig und bigott!

  4. Pepe sagt:

    Warum merken Leute nicht, die stets ihre Sätze mit Ausrufezeichen enden, dass sie ärgerlich wirken?

  5. Hauptschullehrerin sagt:

    Mal ehrlich – ich hätte sie gern – die begabten Migrantenkinder, die eigentlich auf eine höhere Schulform gehören. Leider sind sie – zumindest bei mir – nicht vorhanden.
    Bis jetzt habe ich knapp 100 Schüler zum Abschluss geführt, darunter nur einer, der ohne einen Abschluss die Schule verließ (war allerdings auch erst kurz in Deutschland). Dieses Mal werden es zu meinem Entsetzen wohl gleich drei sein – und alle mit Migrationshintergrund. Und ich kann mit bestem Gewissen versichern, dass das nicht an irgendwelchen Vorurteilen und Bosheiten meinerseits liegt.
    Die Akten sind ab der ersten Klasse voll von Bemühungen, die schwachen Leistungen zu verbessern, vielfach waren die Schulsozialarbeiter etc. tätig – und prallten an der Lethargie der Eltern ab.
    Gleichzeitig sehe ich auch, dass sehr viele Migrantenkinder zumindest auf die Realschule wechseln – teilweise auch auf das Gymnasium (nach der 5. Klasse Hauptschule). Der Eindruck, dass hier mit Gewalt zurückgehalten wird, drängt sich mir jetzt nicht auf – auch kommt kaum einer zurück – und das, obwohl die höheren Schulen sehr ausgelastet sind. Und ich denke wüsste nicht, warum unser Sprengel da eine Ausnahme sein sollten. ???

  6. Anne sagt:

    @Hauptschullehrerin: die Frage wäre noch, in welchem Bundesland Sie unterrichten.
    In meiner Bekanntschaft gab es etliche dieser Fälle, wo trotz guten Notendurchschnitts nur eine Hauptschulempfehlung gegeben wurde. In einem Bundesland, wo das verbindlich ist, bleibt einem da nur Resignation oder – Umzug. In einer Stadt, die direkt an ein anderes Bundesland grenzt, kann man das Kind dann auch über den Fluss in ein Gymnasium schicken.
    Grund für die Hauptschulempfehlung: diese Eltern könnten dem Kind ja beim Schulstoff des Gymnasiums nicht „helfen“.

  7. Hauptschullehrerin sagt:

    Ich bin aus Bayern – bei uns ist der Schnitt verbindlich – man kann aber auch noch Probeunterricht machen. Man hat entweder den Schnitt oder nicht – Mutmaßungen, ob die Eltern dann helfen können oder nicht sind also völlig egal.
    Damit wir uns nicht missverstehen – ich finde es natürlich völlig daneben, wenn jemandem – aus welchen Vorurteilen heraus auch immer – die richtige Schulart verwehrt wird – aber ich frage mich andererseits auch, warum meine eigene Wahrnehmung völlig anders ist – nämlich dass der „Aufstieg“ immer leichter wird und unsere Schülerschaft immer schwächer.
    Inwieweit begabte Migrantenkinder eher auf die Realschule als auf das Gymnasium „einsortiert“ werden kann ich allerdings gar nicht beurteilen.

  8. xyz sagt:

    @pepe

    Markus hat schon ansatzweise etwas richtiges gesagt! Es gibt in vielen Ländern immer mehr automatische SB-Kassensysteme. Langfristig droht in vielen Ländern ein Rückgang bei Kassierertätigkeiten. Selbigen Prozess gab es mit Schalterangestellten bei Banken, Bahn etc…. — im Zuge der Umstellung auf IT-Technische Systeme wie die Bankautomaten wurden Stellen abgebaut — das war ein langfristiger Prozess der sich seit deren Einführung vollzog seit den 1970er Jahren.

    es gibt in Dänemark jetzt schon eine Supermarktkette, die nur noch SB-Kassensysteme in ihren futureStores einsetzt — natürlich braucht man langfristig dann weniger Personal! Es ist eine große Kostenersparnis — in DE fallen 45% aller Kosten im Kassenbereich beim Personal an!

    das entwickelt sich immer alles weiter – IKEA hat die auch schon teilweise — noch wurde niemand abgebaut, aber langfristig braucht man tendentiell weniger Personal.

  9. Sehr geehrte Damen und Herren,
    Ihren ausgezeichneten Artikel unterstützen ebenfalls Purschke und Juristen. Seit über 20 Jahren retten wir Kinder vor der Schmach Sonderschule „Förderschule“. Eine Beinahe-Förderschülerin – sie war ja bloß eine Türkin – legt in diesen Wochen ihr 2. juristisches Staatsexamen ab; in Kürze wird sie Rechtsanwältin sein.
    Erziehungsstabile, bisweilen unorthodoxe Maßnahmen führen nach unserer Erfahrung zum absoluten Erfolg für das betroffene Schulopfer, wenn zugleich schulrechtlich versierte Rechtsanwälte zugeschaltet werden. Besonders Ausländer, die die deutsche Sprache nicht vollends beherrschen, kennen das deutsche Schul- und Verfassungsrecht nicht, um sich rechtlich wirksam gegen die unbotmäßigen Angriffe der diskriminierungsfreudigen Schulbehörden zu wehren.
    Mit freundlichen Grüßen
    Purschke und Juristen Ronnenberg, den 14.7.2012