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Bildungsstudie

Chancengerechtigkeit hängt vom Bundesland ab

Wie gerecht und leistungsstark sind unsere Schulsysteme? Dieser Frage geht der Chancenspiegel nach. Ergebnis: Chancengerechtigkeit und Leistungsstärke sind vereinbar. Dafür müssten die Bundesländer mehr voneinander lernen.

Dienstag, 13.03.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 08.01.2020, 15:45 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Die Chancen von Schülern, soziale Nachteile zu überwinden und ihr Leistungspotenzial auszuschöpfen, unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland deutlich. Das zeigt der Chancenspiegel, mit dem die Bertelsmann Stiftung und das Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der Technischen Universität Dortmund die Schulsysteme aller Bundesländer auf Chancengerechtigkeit untersucht haben. Ergebnis: Kein Land ist überall spitze, kein Land überall Schlusslicht – aber die Unterschiede zwischen den Ländern sind erheblich.

„Es wird zwar viel über Chancengerechtigkeit debattiert, aber als Diskussionsgrundlage fehlt bislang ein Ländervergleich, der auf Fakten beruht“, sagte Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung. Daher bewertet der Chancenspiegel Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der Schulsysteme in vier Dimensionen: Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe.

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An ihnen kann man ablesen, wie integrativ Schulsysteme sind, ob sie soziale Nachteile wettmachen, Klassenwiederholungen und Schulabstiege vermeiden, welche Lesekompetenzen sie vermitteln, wie viele Schüler sie zur Hochschulreife führen oder wie erfolgreich insbesondere Schulabgänger ohne oder nur mit Hauptschulabschluss sind, einen Ausbildungsplatz zu finden. Im Kern beschreibt der Chancenspiegel somit, wie die Schulsysteme der Länder mit Vielfalt umgehen: Inwiefern werden starke ebenso wie schwache Schüler gefördert? Werden diejenigen wirksam unterstützt, die schon bei der Einschulung benachteiligt sind?

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Regel- statt Förderschule
„Die Bundesländer müssen deutlich mehr voneinander lernen.“ Das ist für Jörg Dräger die zentrale Schlussfolgerung aus den großen Unterschieden zwischen den Ländern, die der Chancenspiegel abbildet. Das Ausmaß der Unterschiede verdeutlichen einige Beispiele: In Sachsen-Anhalt ist der Anteil der Kinder, die auf einer separaten Förderschule unterrichtet werden und keinen Zugang zur Regelschule haben, nahezu drei Mal höher als in Schleswig-Holstein. Und in Sachsen besuchen drei von vier Schülern eine Ganztagsschule, in Bayern nicht einmal jeder zehnte. „Hier bestehen Gerechtigkeitslücken, denn sowohl die Ganztagsschule als auch der Besuch einer Regel- statt einer Förderschule steigern die Bildungschancen“, sagte Dräger.

Ein regionales Gefälle zeigt sich auch im Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenz, der in Bremen fast doppelt so hoch ist wie in Brandenburg. Eine Hochschulzugangsberechtigung erreichen in Nordrhein-Westfalen, Hamburg, im Saarland und in Baden-Württemberg jeweils mehr als die Hälfte der Schüler – in Mecklenburg-Vorpommern nicht einmal 36 Prozent.

Download: Mehr Informationen zum Chancenspiegel gibt es auf chancen-spiegel.de. Eine Zusammenfassung des Chancenspiegels mit den zentralen Befunde kann bei bertelsmann-stiftung.de (PDF) heruntergeladen werden. Die Studie kann hier bestellt werden.

Licht und Schatten
IFS-Direktor Professor Wilfried Bos betonte, dass ausnahmslos alle Bundesländer Entwicklungsbedarf haben. „Wir hoffen, dass der Chancenspiegel die bildungspolitische Debatte um Chancengerechtigkeit in Deutschland zu versachlichen hilft“, sagte Bos. Wünschenswert für die Zukunft sei eine bessere und transparentere Datenlage. „Die Ergebnisse des Chancenspiegels können durchaus als Argumente für einen Wettbewerbsföderalismus verwendet werden. Dafür allerdings ist es unverzichtbar, die Vergleichbarkeit zu stärken. So wäre es zum Beispiel auch interessant, die Abschlüsse von inklusiv beschulten Kindern zu vergleichen mit den Abschlüssen von Förderschülern. Hier besteht noch Entwicklungspotenzial in der Datenbereitstellung der allgemeinen Statistik“, warb Bos für eine größere Offenheit der Länder gegenüber vergleichenden Länderstudien.

Der Chancenspiegel zeigt auch, dass Schulsysteme in Deutschland durchaus fair und leistungsstark zugleich sein können. In Sachsen etwa ist das Schulsystem vergleichsweise durchlässig: Die Chancen für Kinder aus unteren Sozialschichten auf einen Gymnasialbesuch sind relativ gut, nur wenige Schüler bleiben sitzen. Sachsen überzeugt aber nicht nur in dieser Gerechtigkeitsfrage, sondern auch bei der Kompetenzförderung. Sowohl die leistungsstärksten als auch die leistungsschwächsten Schüler gehören deutschlandweit zu den Besten ihrer jeweiligen Vergleichsgruppe. „Leistung und Gerechtigkeit sind im Bildungssystem kein Widerspruch – und dürfen es auch nicht sein. Gute Bildungspolitik strebt beide Ziele gleichermaßen an“, sagte Dräger.

Gemeinsame Strategie für Gerechtigkeit
Für Marianne Demmer, stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)sind die Ergebnisse des Chancenspiegels insgesamt ernüchternd: „Elf Jahre nach der ersten PISA-Studie zeigt sich, dass die Länder immer noch nicht in der Lage sind, die Chancen der Kinder und Jugendlichen nachhaltig zu verbessern. Statt hauptsächlich auf Bildungsstandards, Vergleichsarbeiten und zentrale Prüfungen zu setzen, hätten die Kultusminister längst eine gemeinsame konsequente Strategie für mehr Gerechtigkeit entwickeln können.“

Der bildungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Ernst Dieter Rossmann sieht sich durch den Chancenspiegel bestätigt: „Das deutsche Bildungssystem ist ungerecht und nimmt vielen jungen Menschen Bildungs- und damit Lebenschancen.“ Ohne Chancengleichheit in der Bildung könne keine Gesellschaft sozial gerecht sein. Deshalb brauche Deutschland mehr Lehrer, mehr Ganztagsangebote, mehr frühkindliche Bildung und besser ausgestattete Schulen. „Was Deutschland aber bekommt sind immer mehr Schulformen und mehr Schulbürokratie, wie zuletzt bei der Debatte zum deutschen Qualifikationsrahmen oder zur Vergleichbarkeit beim Abitur“ ,erklärte Rossmann abschließend. (sb) Gesellschaft Leitartikel Studien

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