Leos Wochenrückblick

Deutschland schafft sich demographisch ab. Deutschland schafft sich transkulturell neu.

Deniz Yücel begrüßt swiftisch Deutschlands demographisches Ableben. Ein WELT-Journalist sträubt sich gegen Kamuran Sezers Konzept der transkulturellen Gesellschaft.

Von Leo Brux Montag, 08.08.2011, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 19.01.2016, 9:40 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Natürlich wird noch viel über Breivik geschrieben, aber kommen mal davon weg. Zu bieten hat die Woche zum Beispiel einen ganz besonders scharfen Kommentar – einen satirischen Generalangriff auf Deutschland, dazu eine interessante Kontroverse im Anfangsstadium.

Deutschland geht an Schwindsucht zu Grunde.
Auf je 1.000 Einwohner kommen nur noch 8,3 Geburten – der geringste Wert in Europa. Nur noch 18,5 Prozent der Bevölkerung ist unter 18, kein Land hat weniger.

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Deniz Yücel ist sarkastisch begeistert. In seinem in der Swift-Tradition verfassten taz-Kommentar reibt er Deutschland den Geburtenschwund böse unter die Nase. Deutschland schafft sich ab. Freiwillig! Und Ostdeutschland extra schnell.

Besonders erfreulich: Die Einwanderer, die jahrelang die Geburtenziffern künstlich hochgehalten haben, verweigern sich nicht länger der Integration und leisten ihren (freilich noch steigerungsfähigen) Beitrag zum Deutschensterben.

Yücel kennt die deutsche Geschichte:

Woran Sir Arthur Harris, Henry Morgenthau und Ilja Ehrenburg gescheitert sind, wovon George Grosz, Marlene Dietrich und Hans Krankl geträumt haben, übernehmen die Deutschen nun also selbst, weshalb man sich auch darauf verlassen kann, dass es wirklich passiert. Denn halbe Sachen waren nie deutsche Sachen („totaler Krieg“, „Vollkornbrot“); wegen ihrer Gründlichkeit werden die Deutschen in aller Welt ein wenig bewundert und noch mehr gefürchtet.

Wir Deutsche werden also von der Weltbühne verschwinden. Einfach mangels Nachwuchs. Und es wird nicht schade um uns sein … Braucht denn jemand diese freudlose, ewig besserwisserische, ständig missgelaunte Nation?

Eine Nation, deren größter Beitrag zur Zivilisationsgeschichte der Menschheit darin besteht, dem absolut Bösen Namen und Gesicht verliehen und, wie Wolfgang Pohrt einmal schrieb, den Krieg zum Sachwalter und Vollstrecker der Menschlichkeit gemacht zu haben …

Die deutsche Sprache liefert Yücel noch ein Argument dafür, dass es uns besser nicht mehr gibt:

Apropos Sprache: Die Liste jener deutschen Wörter, die sich nicht oder nur mit erheblichem Bedeutungsverlust in andere Sprachen übersetzen lassen, illustriert, was der Welt mit dem Ableben der Deutschen verlustig ginge: Blitzkrieg, Ding an sich, Feierabend, Gemütlichkeit, Gummibärchen, Hausmeister, Heimweh, Kindergarten, Kitsch, Kulturkampf, Lebensabschnittsgefährte, Nachhaltigkeit, Nestbeschmutzer, Ordnungsamt, Querdenker, Realpolitik, Schlager, Spaßvogel, Tiefsinn, Torschlusspanik, Vergangenheitsbewältigung, Volksgemeinschaft, Weltanschauung, Wirtschaftswunder, Zwieback.

Welcher Mensch von Vernunft, Stil und Humor wäre betrübt, wenn diese Wörter und mit ihnen die ihnen zugrunde liegenden Geisteshaltungen verschwinden?

Uff!

Langsam, langsam, Deniz Yücel!

Mindestens die Hälfte dieser Begriffe ist ausgesprochen positiv, einige sind witzig, auch die negativ konnotierte Hälfte hat ihren Wert – sie bringt Realität auf den Begriff.

Diese Liste spricht also FÜR UNS!

Diese Liste zeigt: Die Welt braucht uns! Sie braucht uns so, wie wir sind! Wir Deutsche dürfen der Welt nicht verloren gehen!

Zwischen den Zeilen lesend bemerken wir: Deniz Yücel ist ein Deutscher, mit deutschem Humor, argumentierend mit deutscher Zielstrebigkeit, für den Streit mit dem geschliffenen schweren Degen der deutschen Sprache ausgerüstet, sarkastisch Grundsatzprobleme aufreißend, dabei die radikale deutsche Selbstkritik verkörpernd …

In Deniz Yücel lebt das klassische Deutschland der Selbstkritik fort. Das Deutschland, das der Welt so viel technologisch Nützliches und kulturell Großartiges gebracht hat.

Und nun überlegen wir uns bitte gemeinsam und ganz unironisch, welche konstruktiven Vorschläge es gibt, um aus der demographischen Falle herauszukommen, den Blick auf das Gemeinwohl eines Landes gerichtet, das längst multikulturell geworden ist.
Der zweite Teil des Wochenrückblicks zeigt eine Richtung an.

(Anmerkung: In der Liste fehlen noch die Begriffe Schadenfreude und Zeitgeist.)

Kontroverse um die „transkulturelle Gesellschaft“

Die multikulturelle Realität und ihre Weiterentwicklung – das wird eine große Kontroverse in den nächsten Jahren.

Kamuran Sezer hat in einem Beitrag zum MiGAZIN (26. Juli) einige Schlussfolgerungen aus Breiviks Terrortat und aus der rückwärtsgewandten Ethnikdebatte gezogen – und in dieser Woche dafür heftige deutsch-nationale Kritik in der WELT bezogen.

Erstens:

Wir müssen uns wieder auf die “Mitte der Gesellschaft” besinnen! Und vor allem sollten wir uns dabei bewusst machen, dass in der Mitte der Gesellschaft nicht einzig der “weiße Mann” Platz eingenommen hat. Sie ist schon lange multiethnisch und -religiös aufgestellt. Multikulti ist daher nicht tot! Die multiethnische und -religiöse Gesellschaft ist der einzige Lösungsweg, wenn man gesellschaftlichen Frieden und ökonomischen Wohlstand nachhaltig gewährleisten will!

Zweitens:

In Deutschland leben – unwiderruflich – über 90 Nationalitäten samt ihren unterschiedlichen Kulturen. Deutschland braucht, über Multikultur und Interkultur hinausgehend, eine transkulturelle Identität, die auch die Einwanderer auffordert, in diese Gesellschaft zu investieren, dabei die mitgebrachte Kultur kritisch zu reflektieren.

Die transkulturellen Maßstäbe und ihre Umsetzung sind Gegenstand in gesellschaftspolitischen Verhandlungsarenen wie zum Beispiel der Islamkonferenz. Sie sind wichtig, denn

dort funktioniert der Aushandlungsprozess jenseits der Profit- und Machtlogik politischer und ökonomischer Partikularinteressen und der Medien. Bei Letzteren muss gar kritisch angemerkt werden, dass sie sich einer “Empörungsindustrie” bedienen, von der sie nicht nur ökonomisch und politisch profitieren, sondern auch einseitige Zerrbilder der multiethnischen und -religiösen Realitäten in der Gesellschaft vermitteln.

Drittens:

Die transkulturelle Gesellschaft wird funktionieren, wenn knappe und verknappte Ressourcen wie Arbeit, Bildung, Macht, Partizipation und Anerkennung allen Gesellschaftsmitgliedern gleichermaßen zugänglich gemacht werden. Dies wird nur gelingen, wenn in der Aufnahmegesellschaft, die im Zugang dieser Ressourcen im Vorteil ist, die Einsicht und Bereitschaft wächst, diese mit den bereits Eingewanderten und den noch zu Einwandernden teilt.

Diese Einsicht und Bereitschaft sind zwingende Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, da die soziodemografischen Parameter sich unumkehrbar verschoben haben. Wir können dies in den Geburtsanstalten der Krankenhäuser, in den Schulen, auf dem Wohnungsmarkt, in den Altenheimen der Nation – ja sogar in der deutschen U17-Nationalmannschaft beobachten.

Mit einer Verzögerung wird diese soziodemografische Realität auch die Unternehmen erreichen. Denn diese werden in weniger als zehn Jahren ihr Humankapital aus einem multikulturellen Arbeitskräfteangebot schöpfen. Die Gesamtgesellschaft und ihre Institutionen müssen mit einem klaren Bildungsauftrag auf diese – eigentlich bereits existente – gesellschaftliche Realität konsequent vorbereitet werden.

Dieses Konzept wird von Till-R. Stoldt in der WELT (4. August) zurückgewiesen.
Deutschland – die ganze Gesellschaft – könne sich keineswegs normativ als „multiethnisch und multireligiös“ begreifen.

Den Minderheiten steht eine deutsche, christliche Mehrheit gegenüber, religiös gesehen 66 Prozent Christen und ethnisch gesehen 80 Prozent Deutsche ohne Migrationshintergrund. Diese Größenunterschiede müssten berücksichtigt werden.

Wer diese Größenverhältnisse aber verschweigt, während er die Multi-Gesellschaft zur Norm erklärt, legt es laut dem CDU-Kulturpolitiker Thomas Sternberg darauf an, das offenkundig Ungleiche gleich zu behandeln – und Sorgen zu schüren. Das könnte man abtun, wäre Sezers Institut nicht einflussreich.

Es berät die Grünen und vor allem in NRW zahlreiche Landesministerien und Stadtverwaltungen. Zudem spiegelt sich in seinem Plädoyer eine Gesinnung, die in muslimischen Migrantenvertretungen eher Regel als Ausnahme ist.

Warum also markiert Sezer nicht eine Grenze für sein multikulturelles Postulat? Soll auch die christliche Zeitrechnung im Kalender um die muslimische ergänzt werden? Soll für jedes christliche Fest ein muslimisches in Kindergärten und Schulen gefeiert werden? Muss für jedes deutschsprachige Straßenschild ein türkisches aufgestellt werden? Warum schließt er solche Schreckensszenarien aller Islamkritiker und Kulturkonservativen nicht aus? Mit seiner Unklarheit schürt er genau die Ängste, die er angeblich aufheben will. Aber damit steht er ja wahrlich nicht alleine.

Stoldt missversteht – stellvertretend für Millionen andere – das Konzept einer transkulturellen Gesellschaft. Für ihn ist zur Norm gewordene kulturelle Vielfalt ein „Schreckensszenarium“ – das er sich selber konstruiert.

Wozu sollte man türkisch-sprachige Straßenschilder aufstellen, wenn ein transkulturelles Deutschland sich selbstverständlich öffentlich auf Deutsch verständigt (und gelegentlich vielleicht auf Englisch)?

Warum sollten einige unserer Kalender nicht auch den Hinweis auf die islamische Zeitrechnung enthalten? Dass ein transkulturelles Deutschland seine (ursprünglich christliche) Zeitrechnung beibehalten wird, versteht sich doch von selbst.

Warum sollte „für jedes christliche Fest“ im Kindergarten ein „muslimisches“ gefeiert werden – warum feiert man die Feste nicht ganz locker nach dem Bedürfnis der Familien?

Die Einwände gegen das Kamuran Sezers Konzept der transkulturellen Gesellschaft werden auf einem erheblich höheren Niveau entwickelt werden müssen, als es in diesem naiv deutsch-nationalen Artikel der Welt geschieht.

An der Auseinandersetzung führt kein Weg vorbei – und gesellschaftliche Konzepte wachsen in der Debatte. Die Skeptiker der Multikulturalität und der transkulturellen Gesellschaft bräuchten ihrerseits ein konstruktives Zukunftskonzept, das man der transkulturellen Gesellschaft gegenüberstellen kann. Dieses Konzept wird allerdings nicht so aussehen können wie das aus Breiviks Manifest. Oder in einem Weiter-so mit immer neuen kleinen Zugeständnissen bestehen können. Aktuell Meinung

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  1. Sabberlatz sagt:

    Wenn Menschen mit Migrationshintergrund in bestimmten Gebieten bald gegenüber denen ohne Migrationshintergrund in der Mehrheit sein werden, hat das natürlich Folgen. Da Migrantensprachen auch zunehmend im Bildungssystem gefördert bzw. aktiv erhalten werden sollen, ist doch keineswegs sicher, dass sich das „transkulturelle Deutschland“ so selbstverständlich auf Deutsch verständigen wird (in Zukunft), wie hier postuliert wird.

    Sehen wir doch der Realität ins Auge: In Gebieten, in denen Menschen zukünftig in der Mehrheit sein werden, deren Muttersprache nicht Deutsch ist und die ihre Muttersprachen häufig pflegen, werden diese Menschen, sofern sie auf eine große Zahl Angehöriger der eigenen Gruppe treffen, im Alltag die Muttersprache benutzen. Wieso sollten sie dies nicht tun?
    Dies ist doch nicht selten auch heute schon der Fall; auf den Straßen deutscher Großstädte hört man sehr viele Sprachen und nicht nur Deutsch, auf den Schulhöfen ist es dasselbe.

    Bei weiterer Migration (die es im Zuge der Globalisierung ohne Zweifel geben wird) ist nicht ausgeschlossen, dass es Schulen geben wird, die Kinder mit Migrationshintergrund ausschließlich in deren Muttersprachen unterrichten. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es in der Zukunft weitere Amtssprachen geben wird. Jemand, der in einem transkulturellen Deutschland lebt, wird also nur einen Teil des in seiner Umgebung Gesprochenen (sei es auf der Straße, auf der Arbeit oder z. B. in der Schule – dies ist ja teilweise heute schon so) verstehen können. Deutschland wird dadurch in der Zukunft „partiell“ erfahrbar sein, nicht vollständig.

    Es ist doch Unfug, den Leuten ständig erzählen zu wollen „Ja ja, im transkulturellen Deutschland wird dann alles bunter, aber wir sprechen alle weiter Deutsch, etc.“

    Wieso sollte Deutschland denn auf Dauer seine christliche Zeitrechnung beibehalten? Oder auch das Grundgesetz? Kann natürlich sein, dass beides bleibt. Kann aber auch nicht sein. Ist „Transkulturalität“ nicht immer auch ein Synonym für „Kreolisierung“ und verzichtet „Kreolisierung“ nicht darauf, ein Ergebnis eben jenes Prozesses zu postulieren oder zu antizipieren? Sorry Leute, wer A sagt, muss auch B sagen. Wer sagt, Deutschland soll transkulturell werden und alle Bevölkerungsgruppen bzw. Kulturen gleichberechtigt sein, um sich zu vermischen oder auch nicht, der gibt Deutschland naturgemäß zur völligen Umgestaltung frei. Das Ergebnis dieses Prozesses ist logischerweise ungewiss und wird sich auch anhand weiterer Migrationsprozesse, die dieses Land betreffen, entscheiden.

    Eins ist jedoch sicher:.

    Ein „transkulturelles“ Deutschland wird gegenüber dem früheren Nationalstaat Deutschland nicht mehr wiederzuerkennen sein (schon aufgrund der immer weiter fortschreitenden Internationalisierung auf allen Ebenen) und in diesem Falle kann man auch nur noch sehr schwer von einer „Identität Deutschlands“ reden. Ein Land, das transkulturell sein will, muss darauf verzichten, sich selbst in irgendeiner Weise zu definieren, weil so eine Definition naturgemäßig immer einen Ausschluss von Menschen bedeuten würde. Im Zuge der Dekonstruktion nationaler Identität wird hingegen der einzelne Mensch dazu ermutigt, sich eben das unter „deutscher Identität“ vorzustellen, was er möchte. „Deutsche Identität“ wird also in der Zukunft etwas völlig Persönliches bzw. Individuelles sein.

    Dies hat aber vermutlich zur Folge, dass die Loyalität mit der Gesellschaft als Ganzem bei nicht wenigen Menschen schwinden wird, denn es ist etwas schwierig, sich mit Menschen zu identifizieren, nur weil man zusammen mit ihnen auf einem größeren Territorium lebt, jedoch sonst kaum Dinge teilt. Das wäre auch völlig ohne Migration das Schicksal radikal individualistischer Massengesellschaften, die sich zunehmend fragmentieren oder sogar atomisieren. Man kann nicht beides haben, starke Identifikation und starke Individualität.

    Zusammenfassend kann man sagen: Dem Autor des „Welt“-Artikels wird unterstellt, dass er das Konzept einer transkulturellen Gesellschaft missverstehe. Natürlich kann es sein, dass das Szenario des zitierten Journalisten nicht eintrifft und an der Realität vorbeigeht. Ob dies jedoch so sein wird, wird die Zukunft zeigen. Kreolisierung oder auch Transkulturalisierung ist naturgemäß ein ergebnisoffener Prozess.
    Hier sollen „Beruhigungspillen“ an diejenigen verteilt werden, die begriffen haben, dass Deutschland von der größten Veränderung seit der Gründung des Deutschen Reiches betroffen ist und dass eben diejenigen Deutschen ohne Migrationshintergrund, die noch in einem relativ „monokulturellen“ (gegenüber heutzutage und der Zukunft) Deutschland aufgewachsen sind, sich zunehmend auf völlig veränderte Verhältnisse einstellen müssen.
    Ich bin dafür, den Leuten einfach die Wahrheit zu sagen: Deutschland befindet sich in einem riesigen Transformationsprozess und niemand weiß, wie dieser enden wird.

    • Leo Brux sagt:

      Sabberlatz,
      auf welche Sprache werden sich eingewanderte Türken, Griechen, Iraker, Bosnier, Polen und Bulgaren einigen, wenn sie miteinander kommunizieren?
      Auf Deutsch.
      Da bleibt ihnen gar nichts anderes übrig. Der eingewanderte Türke wird nicht Polnisch lernen.
      Wir sind da mit Deutsch als Muttersprache in einer ausgezeichneten und herrlich privilegierten Position. Genießen Sie es so, wie ich es genieße.
      (Die meisten unserer knapp 20 Prozent MiGrus kommen übrigens aus den Ländern der Europäischen Union. Eine Ghetto-Situation, in der überwiegend Leute aus einer der Nationen sich in einer Straße massieren, ist selten und nur die Folge einer idiotischen Stadt- und Sozialplanung – unnötiges Versagen der Kommunalpolitik.)

      In einer vollständig globalisierten Welt kann sich eine Kultur nicht mehr erfolgreich abschotten, ohne zu stagnieren und sich selbst dem langsamen Absterben auszusetzen. Dafür, dass die Welt sich so globalisiert hat, können wir nichts – wenn schon, dann müssen wir uns beim „Kapitalismus“ beklagen, bei der „Wissenschaft“ und der „Technologie“, aber die geben alle drei keinen Watschenmann her.

      Also, wie soll sich Deutschland der Globalisierung erwehren, ohne dabei materiell wie kulturell zu verarmen?

      Schauen Sie sich doch mal an, wer in Deutschland kulturell und ökonomisch und wissenschaftlich kreativ ist? – Alles Leute, die voll auf der Höhe der globalen Kultur sind, alles Leute, die offen sind für die Einflüsse von allen Ecken der Welt her. Es sind die kulturarmen Deutschen, die jammern. Wollen Sie mit denen deutsche Kultur retten?

      Eine Kultur, die vital ist, wird mit all den Einflüssen fertig. Eine Kultur, die vital ist, fürchtet sich nicht vor fremden Sprachen und den Praktiken einer anderen Religion und der Weltsicht von Einwanderern aus der Dritten Welt und dem neuesten Modetrend aus den USA oder England und dem Aufstieg Chinas zur dominierenden Macht der Zukunft. Eine Kultur, die vital ist, wendet sich mit Zuversicht und Vergnügen den großartigen Möglichkeiten zu, die alle diese Herausforderungen bieten.

      Sabberlatz, Ihre deutsche Kultur ist ängstlich, kleinmütig, feige, blass, kraftlos. MEINE deutsche Kultur ist das nicht. Ich spüre bei mir im Hinterkopf die deutsche Klassik, die deutschen Hochleistungen auf so vielen Gebieten, die deutsche Fähigkeit, alle Sachen gründlich anpacken zu können, effizient und erfolgsorientiert. Wir brauchen uns nicht zu verstecken vor der Welt.

      Migranten wie Kamuran Sezer oder Deniz Yücel helfen uns dabei, diese Herausforderungen zu bestehen. Ich selber fühle mich da wie der Fisch im Wasser: Ich bin als deutscher Patriot ein Weltbürger – von vorne herein transkulturell orientiert.

      Die transkulturelle Gesellschaft hat als Rückgrat die deutsche Sprache und das Grundgesetz mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, dazu die Erfahrungen der gesamten deutschen Geschichte und der vielen deutschen Kulturen. Wie Sezer richtig feststellt: Die Aufgabe für die Migranten ist eigentlich die größere und schwierigere: Sie müssen sich diese reiche Kulturwelt nach und nach aneignen, sie zu ihrer eigenen machen. Aber dabei werden sie ihre eigene Kulturwelt einbringen, und nicht zuletzt darin liegt unsere deutsche Chance, sowohl kulturell als auch wirtschaftlich.

      @ Beruhigungspillen; die Wahrheit sagen …

      Sagt dieses Konzept der transkulturellen Gesellschaft nicht deutlich genug, dass wir uns auf die Kulturen der Welt einlassen müssen, die per Einwanderung zu uns kommen?

  2. OMG sagt:

    Herr Sezer hat das Recht, seine transkulturelle Gesellschaft zu fordern. Die Deutschen haben das Recht, sie abzulehnen. Und das tun sie mehrheitlich.

  3. Sugus sagt:

    „Wozu sollte man türkisch-sprachige Straßenschilder aufstellen, wenn ein transkulturelles Deutschland sich selbstverständlich öffentlich auf Deutsch verständigt (und gelegentlich vielleicht auf Englisch)?“
    Falsch, Herr Brux. Schon jetzt gibt es in Berlin deutsch und türkisch beschriftete Schilder in Parks, deutsch und türkisch beschriftete Hinweise in Abteilungen von Krankenhäusern. Und in anderen Großstädten Deutschlands wird es ähnlich sein. Und irgendwann, wenn diese Gegenden zu 70-80% türkisch sind und 20% anderweitig ausländisch, wird man das Deutsche überpinseln. Randgruppe, unnötig…
    Sie dürfen, da in der Integrationsindustrie tätig, gerne für Ihre Sache trommeln. Aber bitte verzichten Sie darauf, die Menschen für dumm zu verkaufen.

    • Leo Brux sagt:

      Sugus,
      wo ist das Problem, wenn man in einem Eck des Landes mal eine größere Anzahl von Italienern hat und dann flexibel darauf mit italienischen Tafeln reagiert, soweit das sinnvoll erscheint? Es gibt nicht so viele Deutschtürken, und noch weniger solche, die kein Deutsch können, also, das türkische Schildchen mal hier mal da ist eine Übergangserscheinung. Und ich hab von Straßenschildern, Verkehrsschildern gesprochen.

      Sagen Sie mir doch mal, in wie vielen der ca. 1 Million Straßen in Deutschland mit Wohnbebauung es überwiegend Türkisch-Stämmige gibt? Sie dramatisieren da maßlos, Sugus.

      Die Berliner scheinen auf diese Dramatisierung nicht hereinzufallen. Wenn ich mir mal die Umfragen so anschaue, vor der Wahl. Dabei müsste es doch grade in Berlin so ganz besonders schlimm sein …

  4. Sabberlatz sagt:

    @ Leo Brux: Anscheinend sind Sie nicht in der Lage, zu erkennen, wenn jemand lediglich eine Analyse vornimmt. Sie unterstellen mir Dinge, die in meinem Posting gar nicht stehen. Ich habe in meinem Posting nirgendwo gesagt, dass Deutschland sich abschotten soll oder kann. Wo steht das bitte bei mir? Wo definiere ich irgendwo deutsche Kultur? Nirgendwo. Ich sage lediglich, dass die Transformation Deutschlands von einem Nationalstaat zu einem transkulturellen Staat eine große Veränderung bedeutet, und dass man nicht so tun sollte, als würde dies nur marginale Veränderungen bedeuten. Ich sage auch nirgendwo, dass bald niemand mehr in Deutschland Deutsch spricht.
    Ich sage aber, dass die Migrantensprachen angesichts der demographischen Entwicklung dieses Landes an Präsenz im öffentlichen Leben gewinnen werden. Auch wird das Deutsche sich vermutlich verändern, wenn es von einer Muttersprache vieler Menschen zu einer lingua franca vieler Menschen wird.

    Zum Grundgesetz: Woher nehmen Sie eigentlich die Gewissheit, dass auf ewige Zeiten in Deutschland das Grundgesetz gelten wird? Die können Sie doch gar nicht haben. Wenn sich die Gesellschaft ändert, können sich auch die Gesetze ändern. Wieso sollten sie nicht? Es könnte z. B. auch sein, dass das Grundgesetz zugunsten einer neuen Verfassung, die auf eine veränderte Situation in der EU zugeschnitten wäre, abgesetzt würde. Artikel 146 könnte z. B. verwirklicht werden.

    Wo schreibe ich irgendetwas von „deutscher Kultur retten“? Können Sie mir die Stelle in meinem Posting zeigen? Wie kann „meine deutsche Kultur kraftlos, feige, etc. sein“, wenn ich sie überhaupt nirgendwo definiere? Ich sage nur, dass die Identität eines Landes, dass sich als „transkulturell“ versteht, nur individuell definiert werden kann. (Das ist eine Analyse.) Wie sollte es sonst sein? Sie scheinen sich einen glühenden Verfassungspatriotismus aller Deutschen nach amerikanischem Vorbild zu erträumen; ich möchte mal stark bezweifeln, dass dies ein Konzept für den Normalbürger in diesem Land ist und auch sämtliche Migranten sich darin wiederfinden. Wenn Sie Verfassungspatriot sind, schön. Aber erwarten Sie diese Haltung nicht von sämtlichen Mitbürgern.

    Irgendwie finde ich Ihr Pathos auch leicht übersteigert. Wieso „müssen“ sich Migranten hier Dinge aneignen? Wollen Sie sie dazu zwingen? Überlassen Sie das doch den Migranten, was die tun und was diese sich aneignen wollen. Und den Deutschen ohne Migrationshintergrund sollten Sie auch überlassen, auf was die sich individuell einlassen möchten. Das vertrauliche „Wir“ können Sie sich bitte schenken. Auch finde ich diese Mischung aus Kulturalisierung („die Deutschen“ sind so unglaublich effizient und erfolgsorientiert – wer denn, alle mit deutschem Pass, die ohne Migrationshintergrund, die mit Migrationshintergrund oder wer genau?) und Kosmopolitismus-Euphorie irgendwie befremdlich und weiß auch gar nicht, was Sie mir hier mitteilen wollen.

    Ich habe in meinem Posting lediglich ausdrücken wollen, dass Deutschland vor großen Veränderungen steht und bei transkulturellen Prozessen das Ergebnis ungewiss ist. Lesen Sie mal philosophische Abhandlungen z. B. zur Kreolisierung von Edouard Glissant. Dort werden Sie die Ansicht wiederfinden, dass Kreolisierung ein ergebnisoffener Prozess ist. Oder lesen Sie vom „dritten Raum“ nach dem postkolonialen Theoretiker Homi Bhaba. Ein Raum, in dem sich Kulturen hierarchiefrei begegnen, was ja auch bei einer Kreolisierung der Fall ist. Auch hier entstehen neue Dinge, die nicht vorhersehbar sind.

    Und hören Sie doch mal auf, gegen Dinge in Postings zu argumentieren, die dort gar nicht stehen. Fangen Sie doch mal an, ein Posting zu lesen und nicht Dinge hineinzuinterpretieren. Als ob ich hier postulieren würde „Deutschland soll gegen die Globalisierung eine ganz hohe Mauer bauen“. Das ist doch nun Schwachsinn. Ich plädiere nur dafür, Leuten die Wahrheit zu sagen und ihnen deutlich zu machen, was Globalisierung bedeutet: Uneindeutigkeit, Fragmentierung, fehlendes Gemeinschaftsgefühl, ein sehr hohes Maß an nötiger Flexibilität sind auch Folgen der Globalisierung, nicht nur ständige gegenseitige Bereicherung. Auch gibt es Menschen, die ohnhin am Rande der Gesellschaft stehen oder mit großen persönlichen Problemen zu kämpfen haben. Solche Menschen können mit einer zunehmenden Individualisierung und Internationalisierung des Lebens leicht überfordert werden, auch gerade ältere Menschen.

    Globalisierung hat positive und negative Aspekte. Welche für den einzelnen Menschen überwiegen, kann doch nun jeder selbst entscheiden. Wenn für Sie Trankulturalität und Globalisierung fantastisch sind, ist das doch schön. Aber es heißt nicht, dass alle Ihre Meinung teilen müssen. Hören Sie doch mal auf zu missionieren und hier unendliches Pathos über ein transkulturelles Deutschland auszukippen. Die meisten Dinge haben zwei Seiten, nicht nur eine.
    Sie aber benehmen sich wie jemand, der eine säkulare Religion für sich entdeckt hat und es nun nicht ertragen kann, wenn nicht alle um ihn herum laut „Hurra“ brüllen.

    • Leo Brux sagt:

      Sabberlatz,
      ich versuche immer herauszufinden, was einer, der hier schreibt, eigentlich praktisch will. Ich schließe dann eben aus seinen Argumenten auf die möglichen praktischen Ideen, die er oder sie haben könnte. Es ist ja nicht meine Schuld, wenn sich die Kritiker hier alle bedeckt halten, wenn’s ums Politisch-Praktische geht.

      Dass die transkulturelle Gesellschaft eine tiefe, große Veränderung bedeutet, merkt man schon jetzt. Weder Sezer noch ich reden das klein. Aber wir sehen keine Katastrophe darin. DAS ist der Unterschied.

      Zum Grundgesetz: Wenn es mal über den Haufen geworfen wird, dann von den rechtspopulistischen Wutbürgern, angeführt von einem neuen Führer. Weil es ihnen zu gutmenschlich ist. Ich rede auch nicht von ewigen Zeiten, sondern von der absehbaren Zukunft.

      Wenn Sie meine Eloge auf unsere Kultur zu pathetisch finden – wissen Sie, dann denke ich daran, dass mir hier immer wieder vorgeworfen wird, ich sei ein Vaterlandsverräter, ein Hasser und Verächter der deutschen Kultur, einer, der die deutsche Kultur fahrlässig preisgibt. Dem hab ich hier mal was entgegengesetzt. Na ja, gleich kommt die Kritik von der anderen Seite her. Ist schon ok. Aber wenn mir nächstens wieder jemand kommt und mich einen Verräter an der deutschen Kultur nennt, dann kann ich jetzt was Pathetisches von mir zitieren.

      Sie sagen nun noch, man solle den Leuten einfach nur „die Wahrheit sagen“ … genau das tu ich doch. Die Wahrheit sagen wir immer so, wie wir sie sehen. Ich sehe Deutschland als multikulturelle Gesellschaft – diese als Faktum, nicht als Norm. Deutschland IST multikulturell. Und wie Kamuran Sezer finde ich es richtig, dies nicht in Richtung Auseinanderleben oder Aneinandervorbeileben oder Aufgeben aller ethnischen Besonderheiten oder dergleichen weiterzuentwickeln, sondern transkulturell.

      Wollen Sie mir verbieten, dass ich praktische Vorschläge und dazu einen konzeptionellen Rahmen habe? Ist es jetzt unangemessen, politisch zu denken und zu argumentieren und für mein Konzept zu werben? – Diesen Verzicht scheinen Sie von mir zu fordern.

  5. Jürgen Kluzik sagt:

    Grundideen zur Globalisierung.

    Als in Großbritannien 1825 die erste Eisenbahn gebaut wurde, sagt ein Lord: Die Eisenbahn bringe „die Gesellschaft ganz durcheinander“ und fördere nur „die Vergnügungslust der großen Menge“. Und als in der Schweiz die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde, meinte ein Adeliger: „Wo soll das hinführen? Wenn jetzt auch das einfache Volk lesen und schreiben lernt, dann führt das nur dazu, dass so ein Bauernbursche, wenn er mir begegnet, nicht mehr die Mütze vom Kopf nimmt.“

    Wolf Lepenies am 21. Juli 2001 in der „Süddeutschen Zeitung“: „Früher waren Zonen der Ungleichzeitigkeiten voneinander getrennt. Heute leben Menschen zur gleichen Zeit aber in anderen Lebenswelten und in verschiedenen Etappen der historischen Entwicklung. Durch die gesteigerte Mobilität rücken diese Ungleichzeitigkeiten einander immer näher.“

    „Schwierigkeiten beim Erkennen der Wirklichkeit und Überlastung durch eine nicht mehr kontrollierbare Flut von Informationen – darunter leiden immer mehr Menschen. Und weil durch die Menge der Informationsquellen jeder Mensch andere Daten aufnimmt, entstehen in den Köpfen mehr Weltbilder. Phantastereien, Visionen, Fiktionen, Ideologien und Wirklichkeit mischen sich vor allem bei Kindern. Sie nehmen Spielfilme, Werbung, Propaganda und Nachrichten auf, als wären sie ein und dasselbe. Sie werden in einer Gesellschaft mit scharfen sozialen Kontrasten leben. Welcher Schicht sie angehören, wird vor allem davon abhängen, ob sie gelernt haben, mit dem Überangebot von ‚Informationen‘ umzugehen und daher wichtige Nachrichten vom Info-Müll unterscheiden können. Zur Unterschicht wird gehören, wer dem Informationsgewitter lediglich ausgesetzt ist, Herkunft und Zustandekommen von Nachrichten nicht durchschaut und Medien vor allem zur Unterhaltung nutzt.“ („Der Spiegel“ Nr. 14/1993)

    Schon Sarrazins Buchtitel „Deutschland schafft sich ab“ suggeriert das Vorhandensein einer „Volksgemeinschaft“, die sich durch Blut und Boden vernetzt und verbündet. Also durch Inzucht. Mein Neffe, ein „Mischling“, mit marokkanischer Mutter und deutschem Vater, ein in London geborener jetzt Elfjähriger, der marokkanisch, englisch und deutsch spricht, steht mir näher als ein Bayer, Schwabe oder Sachse, der zufällig im Haus nebenan wohnt.

    Der Buchdruck weitete den engen Kreis der zuvor nur handschriftlich gebildeten Autoren und Leser. Das Internet vernetzt mich mit Freunden und Verwandten in Kenitra, Bengasi, London und Nürnberg. Solche Veränderungen geschehen ohne Rücksücht auf etablierte Strukturen. Und unabhängig von der Ablehnung oder Zustimmung der in einer Gesellschaft lebenden Menschen. (Quelle: McLuhan)

    @ OMG – Die Zukunft gehört zuerst einmal den Weltbürgern. Und nur in zweiter Linie der Mehrheit.

  6. Sabberlatz sagt:

    @ Leo Brux: Sie können tun und lassen was Sie wollen. Nur sollten Sie akzeptieren, dass nicht jeder Ihre Meinung teilt. Natürlich ist Deutschland multikulturell, auch transkulturell. Das ist ein Faktum. Deutschland wird in der Zukunft auch noch – im Zuge weitergehender Globalisierungsprozesse – noch multikultureller werden. Auch transkultureller, wobei es allerdings verschiedene, individuelle Formen von Transkulturalität geben wird. Ebenso wie jetzt auch schon in Form von persönlichen Hybrididentitäten.

    Wie diese Prozesse bewertet werden, hängt vom einzelnen Menschen und seiner Situation, Einstellung und politischem Standpunkt ab.

    Wenn Sie mich übrigens fragen, was ich will: Einfach nur analysieren und auch auf Probleme der kommenden Prozesse aufmerksam machen. Dass die Globalisierung immer weiter voranschreiten wird, ist klar. Was dabei letztlich entstehen wird, ist eine andere Frage.

    Was ich bei Ihnen nicht verstehe ist, dass Sie gleichzeitig immer von „unserer Kultur“ reden und von Kosmopolitismus und Transkulturalismus schwärmen sowie ständig betonen, wie multikulturell Deutschland sei.

    Ja, Deutschland ist multikulturell und transkulturell, aber wie kann es dann „unsere Kultur“ geben? Die Kultur sieht doch dann bei jedem Menschen anders aus, der in Deutschland lebt. „Die“ deutsche Kultur gibt es doch dann gar nicht. Oder ist für Sie „deutsche Kultur“ das Grundgesetz? Die Verfassungen der westlichen Demokratien sind doch alle recht ähnlich, was Grundrechte, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, etc. etc. angeht. Daran kann man doch keine „deutsche Kultur“ festmachen.

    Zum Grundgesetz und seinem Fortbestehen: Nun, Historiker wie z. B. Dieter Langewiesche sehen das mit dem Grundgesetz ein wenig anders. Langewiesche wies vor einiger Zeit in der „Welt“ auf den Artikel 146 hin, der noch nicht verwirklicht worden sei, und auch im Zuge fortschreitender europäischer Integration verwirklicht werden könne.

    • Leo Brux sagt:

      Sabberlatz,
      Sie schreiben:

      Sie können tun und lassen was Sie wollen. Nur sollten Sie akzeptieren, dass nicht jeder Ihre Meinung teilt.

      Soll das ein Witz sein?
      Inwiefern könnt ich Sie denn hindern, bei Ihrer Meinung zu bleiben? Hab ich irgend eine geheime Macht?
      Wieso debattiere ich überhaupt hier, zum Beispiel mit Ihnen? – Weil ich doch akzeptiere, dass Sie eine andere Meinung haben. Würd ich das nicht akzeptieren, könnte ich gar nicht mit Ihnen streiten, ich könnte mich mit Ihnen nicht argumentativ auseinandersetzen.

      Ich frag mich, was hinter so einer komischen Bemerkung stecken könnte, und komme drauf, dass SIE, Sabberlatz, ein Problem haben, wenn jemand Ihnen heftig widerspricht. Da kriegen Sie irgendwie Angst, und ich erinnere mich, was ich über das schwächliche Deutschland geschrieben habe …

      Aber das Zugeständnis, dass die Multikulturalität FAKTUM ist (die Transkulturalität ist wohl erst im Wachsen …), rechne ich Ihnen hoch an. Das nenn ich Realismus, grade deshalb, weil Sie, anders als ich, unter dem Faktum zu leiden scheinen.

      Was ich natürlich nicht „akzeptiere“ (nicht im Sinne des Untersagens, Sabberlatz), ist das Ausweichen vor der Praxis. Alles Analysieren zielt auf Praxis, alle Diagnose auf Therapie. So ist unser menschliches Hirn organisiert. Denken tun wir grundsätzlich für die Praxis, und wenn es noch so philosophisch abgehoben ausschaut. Mir macht niemand weis, dass hinter seinen Gedanken keine Vorstellungen vom Tun stecken. Es kann schon sein, dass einer selber das gar nicht merkt. Aber ich merke es. Wozu will man denn analysieren und auf Probleme aufmerksam machen? Damit sich die Praxis gegebenenfalls verbessert. Jede Analyse, jeder Gedanke gewinnt erst seinen Wert durch die Tat, durch die Praxis, zu der Analyse bzw. Gedanken führen. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, heißt es in der Bibel. (Auch das Nichttun ist Praxis, nebenbei bemerkt. Ein Schweigen teilt auch etwas mit, und wer seine Hände in den Schoß legt und passiv bleibt, tut damit etwas: passiv bleiben nämlich.)

      Gibt es eine deutsche Kultur? – Natürlich gibt es die, in millionenfach individueller Ausprägung, aber mit einigen identifizierbaren Charakteristika. Dabei lehne ich mich an Wittgensteins „Familienähnlichkeit“ als Form an. Jeder in der Familie schaut anders aus, keiner hat alle Merkmale, die zur Familienähnlichkeit gehören, aber doch erkennt man sie, die Familienähnlichkeit.

      Zu unserer spezifischen Kultur gehören: unsere Sprache, unsere politische, wirtschaftliche und kulturelle Geschichte, unsere kollektiven Präferenzen in vielen verschiedenen Feldern. Das ist alles nichts Ausschließendes, die Sprache kann man lernen, die Geschichte verstehen, die kollektiven Präferenzen verteilen sich wie die oben genannte Familienähnlichkeit. Verdichtet ist einiges davon in unserem Grundgesetz. Natürlich gehört dann zum Beispiel unsere Pressefreiheit zur deutschen Kultur. Warum sollte etwas nicht zu UNSERER Kultur gehören, wenn es auch zur Kultur anderer gehört? Deutsche Kultur ist nicht in der Weise etwas Ab- und Ausgrenzendes, dass alle Elemente nur uns zukommen. Ein großer Vorteil ist es für uns Europäer, dass es die Ähnlichkeit der verschiedenen europäischen Kulturen gibt – in die ich die türkische gern freundschaftlich hineinziehen möchte.

      Kultur ist nichts Ausschließendes, sondern etwas Verbindendes: Es gibt eine Leobruxische Kultur. Eine, die mich ganz persönlich charakterisiert. Ich liebe zum Beispiel klassische Musik. Das charakterisiert mich (neben vielen anderen Aspekten), es ist typisch für mich – UND ich teile es glücklicherweise mit vielen anderen Menschen. Ohne dieses Teilen wäre ich nie zu meiner Liebe zur klassischen Musik gekommen. Es gäbe längst keine Klassische Musik mehr. – Auf diese Weise sind auch verchiedene nationale Kulturen miteinander verbunden und füreinander offen.

      Ein glücklicher Aspekt unserer deutschen Kultur (schon bei den Klassikern sehr ausgeprägt) ist der kosmopolitische Charakter. Es gibt natürlich auch den spießbürgerlichen, gartenzwergischen Charakter und den größenwahnsinnig-nationalistischen. Gehört auch zu unserer Kultur. Letzterer hat mit dem Untergang des 3. Reiches seine Rolle fast ganz ausgespielt. Fast. Wir schlagen uns heute eher mit den dummdeutschen Gartenzwergen herum.

      Am Ende werden Sie doch ein wenig politisch praktisch:

      Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Art. 146 GG

      Sie machen es aber kryptisch und sagen uns nicht, in welcher Richtung sich unsere Verfassung da entwickeln sollte. Solange niemand eine andere Verfassung als die, die wir mit dem GG haben, konzipieren will, ruht für mich dieser Artikel 146 in Frieden. Oder haben Sie einen konkreten Änderungsvorschlag, der das GG so sehr reformieren würde, dass man es erst einmal aufheben müsste, um es dann mit neuem Inhalt und mit neuem Titel („Verfassung“) dem Volke zur Abstimmung zu stellen? Für mich ist das GG die Verfassung, die bis auf weiteres gilt; substanzielle Änderungen (oder Änderungen, die nicht durch verfassungsändernde Mehrheiten im Bundestag möglich wären) sind nicht in Sicht, leider auch keine weitere europäische Integration.

  7. Sugus sagt:

    „Sugus,
    wo ist das Problem, wenn man in einem Eck des Landes mal eine größere Anzahl von Italienern hat und dann flexibel darauf mit italienischen Tafeln reagiert, soweit das sinnvoll erscheint?“
    Sie lenken ab, weil sie genau wissen, daß es keine Tafeln mit Italienisch gibt, sondern sich dieses Phänomen hauptsächlich auf das Türkische bezieht.
    „Es gibt nicht so viele Deutschtürken, und noch weniger solche, die kein Deutsch können, also, das türkische Schildchen mal hier mal da ist eine Übergangserscheinung.“
    Komisch; die Türken-Generation von 1970 hätte solche Schildchen viel nötiger gehabt, weil die wirklich kaum Deutsch konnten. Der Witz ist doch, daß es immer mehr werden, obwohl die Türken, die hier geboren und aufgewachsen sind (und besser Deutsch können sollten), auch immer mehr werden. Also nix mit „Übergangserscheinung“.

    „Sagen Sie mir doch mal, in wie vielen der ca. 1 Million Straßen in Deutschland mit Wohnbebauung es überwiegend Türkisch-Stämmige gibt? Sie dramatisieren da maßlos, Sugus.“
    Wir unterhalten uns noch mal darüber 2 Jahre nach dem EU-Beitritt der Türkei.
    „Die Berliner scheinen auf diese Dramatisierung nicht hereinzufallen. Wenn ich mir mal die Umfragen so anschaue, vor der Wahl. Dabei müsste es doch grade in Berlin so ganz besonders schlimm sein …“
    Die Berliner, das kann ich Ihnen aus 10jähriger Erfahrung sagen, sind in der Masse auch ziemlich verblödet.
    Und ja, es ist in Berlin besonders schlimm. aber wer damit aufwächst, dem scheint es nicht mehr aufzufallen. Übrigens habe ich über Umwege die türkenfeindlichsten Bemerkungen meines Lebens von deutschen Sozialarbeitern gehört. Die Leute sind halt oft inkonsequent…

  8. gouvernator sagt:

    Zurück zu Yücels Kommentar. Nach allen Lehren ist dieser Artikel keine Satire (Bei ihr würde durchschimmern, dass er es so nicht wirklich meint.)
    Doch dieser Hetzartikel ist bitterernst und in übler Weise verhetzend. Der ethnische Türke hetzt damit als Angehöriger einer kleineren Volksgruppe gegen die Deutschen. Also gibt es offensichtlich den Tatbestand der Volksverhetzung auch in solcher Variante. Schriebe er auf Seiten nationalistischer Türken („Heute gehört uns Europa und morgen …“) so würde es mich nicht wundern. Dass die taz mit diesem Artikel eklatant gegen die Regeln der Netiquette, die sie bei Leserzuschriften einfordert, verstößt, ist schon sehr bedenklich.
    Wer eine solche Schreibe als vermeintlich satirisch rechtfertigen möchte, sollte Folgendes bedenken: Dann fallen jegliche Schranken. Ich kann dann Jedermann, auch Volksgruppen, denen schon früher übel mitgespielt wurde, in heftigster Weise beschimpfen und anschließend nur behaupten, es sei Satire oder Sarkasmus gewesen.

    • Leo Brux sagt:

      gouvernator,
      als nächstes zeigen Sie uns, dass Swifts böse Satire auf den Umgang der Engländer mit den Iren auch keine Satire war. Damit könnten Sie in die Literaturgeschichte eingehen!

      Aber stopp! –
      Ich halte inne! –
      Vielleicht ist ja Ihr Posting auch eine Satire?
      Eine Satire auf die xenophoben Kommentare, die Sie hier und anderswo über Türken und Deutschtürken gelesen haben?

      — Nein, ich hab mich getäuscht. Es ist ernst. Bitterernst gemeint.

      Könnte aber Material sein fürs Kabarett.

  9. gouvernator sagt:

    @Leo Brux
    Zu Swift finden sich folgende Anmerkungen:
    „Sein hohes Maß an Exzentrizität zeigt besonders seine 1733 unter dem Pseudonym Dr. Shit verfasste Abhandlung über Fäkalien Human Ordure (Menschlicher Stuhlgang).[5] Es gibt umstrittene Vermutungen, dass er sich seit 1740 in einem Zustand geistiger Umnachtung befand, bevor er nach einem Schlaganfall im Jahr 1742 zum Invaliden wurde und 1745 starb.“(Wikipedia)
    Mit dem Geschreibsel dieses überdrehten Exentrikers wollen Sie also den von Yücel hier eingebrachten Diskurs-Stil rechtfertigen?
    Was hielten Sie denn von einem sarkastisch-überdrehten Schmähartikel über Türken? Wäre ja alles nicht so gemeint …

    • Leo Brux sagt:

      Gouvernator,
      Sie scheinen sich nun doch zu bemühen, der Literaturwissenschaft (Bereich Anglistik) ein neues kabarettistisches Kapitel hinzufügen zu wollen.
      Swift ist einer der größten Schriftsteller englischer Sprache, der Autor eines der berühmtesten Bücher der Welt, Gullivers Reisen. Seine Satire „A Modest Proposal“ ist DIE klassische Satire in der modernen Weltkulturgeschichte.

      Dass sich in Swifts Leben Krankheiten entwickelt haben, die ihm dann auch geistig die Gesundheit der letzten Jahre geraubt haben, lässt Sie folgern, Swifts Werk sein das „Geschreibsel eines überdrehten Exzentrikers“.
      Mit dieser Äußerung dürften Sie einen Spitzenplatz in einem Ranking von arrogantem kulturbanausischem Gartenzwergtum beanspruchen können.

      Wikipedia hat in Englisch eine hervorragende Seite zu dieser Satire von Swift.
      http://en.wikipedia.org/wiki/A_Modest_Proposal
      Lesen Sie mal nach!

      Ihre letzte Frage können Sie sich so beantworten.
      Gehen wir zurück ins Jahr 1729, nach Irland, und schauen wir uns an, wie die Engländer die Iren gnadenlos ausbeuten und verhungern lassen. Und dann überlegen wir uns, ob wir nun auch umgekehrt eine Satire auf die Ausgebeuteten und Verhungernden schreiben wollen, so dass die Ausbeuter mal kräftig lachen können über das Elend der Iren.

      Vom Standpunkt eines Dichters, der es auf den Geldbeutel der Reichen abgesehen hat, macht es Sinn, sich über die Opfer lustig machen. Glücklicherweise gehen solche peinlichen Werke selten in den Literaturkanon ein.
      Merke: Satiren schreibt man eher über die Starken, über die Mehrheit, über die da oben, über die Mächtigen. Es macht schon einen Unterschied aus, ob sich Charly Chaplin in seinem Film über die Nazis über Hitler lustig macht oder über die Juden.
      Im Falle Deutsche – Deutschtürken geht es nicht so extrem zu, aber es ist immerhin ein scharfes Mehrheits-Minderheits-Verhältnis, und ALLE Macht liegt auf der Seite derer, über die die Satire herzieht.

  10. gouvernator sagt:

    @leo brux

    Wenn ich den Stil des politischen Diskurses hier und jetzt beurteilen soll, interessiert mich herzlich wenig, in welcher Weise sich Anglisten an der Schreibe von Swift ergötzen können.
    Sie sind es, Herr Brux, der versucht, Yücel mit diesem Vergleich reinzuwaschen. Ich bleibe dabei, dass ich diesen Stil der Auseinandersetzung für indiskutabel halte.

    Da Sie aber anscheinend ein Bewunderer von Akten der Beleidung der Mehrheit durch die Minderheit sind, möchte ich Ihnen folgenden Link nicht vorenthalten:

    http://www.turkishpress.de/2011/01/05/fdpt-freiheitlich-demokratische-partei-tuerkland/id2896?page=1

    Leseprobe:
    „Die Freiheitsfalken FDPT – Freiheitlich Demokratische Partei Türklands“

    „Seit Jahren meine lieben türkischen Genossen und Genossinnen, ertragen wir die Qual der deutschen Unterdrückung. . Es fängt bereits im Kindergarten an, dass sie unsere türkisch stämmigen Kinder nicht so behandeln wie die der deutschen Kinder.

    Es wird uns eingehämmert, dass wir nicht türkisch reden dürfen, wenn wir gemeinsam mit unseren Brüdern und Schwestern in der Spielecke sitzen. Es wird uns verboten den türkischen Geist zu leben und unsere hunderte Jahre alte Kultur zu praktizieren. Sie nehmen uns unsere Identität und zwingen uns das verabscheuungswürdige Schweinefleisch essen.

    Stets kriegen die deutschen Kinder immer die besseren Spielzeuge und genießen mehr Freiheiten als unsere türkisch stämmigen Kinder. Eine Tortur die seinesgleichen sucht, eine Unterdrückungsmaschinerie und Assimilationspolitik geplant und gesteuert von der widerlichen deutschen Obrigkeit um die Türken von Jahr zu Jahr über Jahrzehnte zu zermahlen und ihre Willen und Individualität zu brechen. Wir sind ihre Sklaven und Gefangene, ihre Beutetiere.“

    Besser, so möchte ich satirisch schließen, kann man doch gar nicht für ein besseres Miteinander werben …

    • Leo Brux sagt:

      gouvernator,
      das ist nicht satirisch, sondern ironisch geschlossen.

      Was Sie aus dem satirischen Kindergartentext entnehmen können, ist: Die Opfer der permanenten Hetze versuchen sich zu wehren.

      Aber ich weiß, Sie wollen ein Privileg für die Mehrheit – nur die Mehrheit darf die Minderheit beleidigen, sie ist schließlich die Mehrheit und hat auch die Macht. Die Minderheiten müssen kuschen.

      Auf einem anderen Blatt steht, ob und inwieweit eine Satire gelungen ist. Darüber kann man sich dann auch streiten. Yücels Satire finde ich jedenfalls hervorragend.

      Sind Sie jetzt eigentlich immer noch der Meinung, die Produkte von Jonathan Swift seien „Geschreibsel“?