Leos Wochenrückblick

Deutschland schafft sich demographisch ab. Deutschland schafft sich transkulturell neu.

Deniz Yücel begrüßt swiftisch Deutschlands demographisches Ableben. Ein WELT-Journalist sträubt sich gegen Kamuran Sezers Konzept der transkulturellen Gesellschaft.

Natürlich wird noch viel über Breivik geschrieben, aber kommen mal davon weg. Zu bieten hat die Woche zum Beispiel einen ganz besonders scharfen Kommentar – einen satirischen Generalangriff auf Deutschland, dazu eine interessante Kontroverse im Anfangsstadium.

Deutschland geht an Schwindsucht zu Grunde.
Auf je 1.000 Einwohner kommen nur noch 8,3 Geburten – der geringste Wert in Europa. Nur noch 18,5 Prozent der Bevölkerung ist unter 18, kein Land hat weniger.

___STEADY_PAYWALL___

Deniz Yücel ist sarkastisch begeistert. In seinem in der Swift-Tradition verfassten taz-Kommentar reibt er Deutschland den Geburtenschwund böse unter die Nase. Deutschland schafft sich ab. Freiwillig! Und Ostdeutschland extra schnell.

Besonders erfreulich: Die Einwanderer, die jahrelang die Geburtenziffern künstlich hochgehalten haben, verweigern sich nicht länger der Integration und leisten ihren (freilich noch steigerungsfähigen) Beitrag zum Deutschensterben.

Yücel kennt die deutsche Geschichte:

Woran Sir Arthur Harris, Henry Morgenthau und Ilja Ehrenburg gescheitert sind, wovon George Grosz, Marlene Dietrich und Hans Krankl geträumt haben, übernehmen die Deutschen nun also selbst, weshalb man sich auch darauf verlassen kann, dass es wirklich passiert. Denn halbe Sachen waren nie deutsche Sachen („totaler Krieg“, „Vollkornbrot“); wegen ihrer Gründlichkeit werden die Deutschen in aller Welt ein wenig bewundert und noch mehr gefürchtet.

Wir Deutsche werden also von der Weltbühne verschwinden. Einfach mangels Nachwuchs. Und es wird nicht schade um uns sein … Braucht denn jemand diese freudlose, ewig besserwisserische, ständig missgelaunte Nation?

Eine Nation, deren größter Beitrag zur Zivilisationsgeschichte der Menschheit darin besteht, dem absolut Bösen Namen und Gesicht verliehen und, wie Wolfgang Pohrt einmal schrieb, den Krieg zum Sachwalter und Vollstrecker der Menschlichkeit gemacht zu haben …

Die deutsche Sprache liefert Yücel noch ein Argument dafür, dass es uns besser nicht mehr gibt:

Apropos Sprache: Die Liste jener deutschen Wörter, die sich nicht oder nur mit erheblichem Bedeutungsverlust in andere Sprachen übersetzen lassen, illustriert, was der Welt mit dem Ableben der Deutschen verlustig ginge: Blitzkrieg, Ding an sich, Feierabend, Gemütlichkeit, Gummibärchen, Hausmeister, Heimweh, Kindergarten, Kitsch, Kulturkampf, Lebensabschnittsgefährte, Nachhaltigkeit, Nestbeschmutzer, Ordnungsamt, Querdenker, Realpolitik, Schlager, Spaßvogel, Tiefsinn, Torschlusspanik, Vergangenheitsbewältigung, Volksgemeinschaft, Weltanschauung, Wirtschaftswunder, Zwieback.

Welcher Mensch von Vernunft, Stil und Humor wäre betrübt, wenn diese Wörter und mit ihnen die ihnen zugrunde liegenden Geisteshaltungen verschwinden?

Uff!

Langsam, langsam, Deniz Yücel!

Mindestens die Hälfte dieser Begriffe ist ausgesprochen positiv, einige sind witzig, auch die negativ konnotierte Hälfte hat ihren Wert – sie bringt Realität auf den Begriff.

Diese Liste spricht also FÜR UNS!

Diese Liste zeigt: Die Welt braucht uns! Sie braucht uns so, wie wir sind! Wir Deutsche dürfen der Welt nicht verloren gehen!

Zwischen den Zeilen lesend bemerken wir: Deniz Yücel ist ein Deutscher, mit deutschem Humor, argumentierend mit deutscher Zielstrebigkeit, für den Streit mit dem geschliffenen schweren Degen der deutschen Sprache ausgerüstet, sarkastisch Grundsatzprobleme aufreißend, dabei die radikale deutsche Selbstkritik verkörpernd …

In Deniz Yücel lebt das klassische Deutschland der Selbstkritik fort. Das Deutschland, das der Welt so viel technologisch Nützliches und kulturell Großartiges gebracht hat.

Und nun überlegen wir uns bitte gemeinsam und ganz unironisch, welche konstruktiven Vorschläge es gibt, um aus der demographischen Falle herauszukommen, den Blick auf das Gemeinwohl eines Landes gerichtet, das längst multikulturell geworden ist.
Der zweite Teil des Wochenrückblicks zeigt eine Richtung an.

(Anmerkung: In der Liste fehlen noch die Begriffe Schadenfreude und Zeitgeist.)

Kontroverse um die „transkulturelle Gesellschaft“

Die multikulturelle Realität und ihre Weiterentwicklung – das wird eine große Kontroverse in den nächsten Jahren.

Kamuran Sezer hat in einem Beitrag zum MiGAZIN (26. Juli) einige Schlussfolgerungen aus Breiviks Terrortat und aus der rückwärtsgewandten Ethnikdebatte gezogen – und in dieser Woche dafür heftige deutsch-nationale Kritik in der WELT bezogen.

Erstens:

Wir müssen uns wieder auf die “Mitte der Gesellschaft” besinnen! Und vor allem sollten wir uns dabei bewusst machen, dass in der Mitte der Gesellschaft nicht einzig der “weiße Mann” Platz eingenommen hat. Sie ist schon lange multiethnisch und -religiös aufgestellt. Multikulti ist daher nicht tot! Die multiethnische und -religiöse Gesellschaft ist der einzige Lösungsweg, wenn man gesellschaftlichen Frieden und ökonomischen Wohlstand nachhaltig gewährleisten will!

Zweitens:

In Deutschland leben – unwiderruflich – über 90 Nationalitäten samt ihren unterschiedlichen Kulturen. Deutschland braucht, über Multikultur und Interkultur hinausgehend, eine transkulturelle Identität, die auch die Einwanderer auffordert, in diese Gesellschaft zu investieren, dabei die mitgebrachte Kultur kritisch zu reflektieren.

Die transkulturellen Maßstäbe und ihre Umsetzung sind Gegenstand in gesellschaftspolitischen Verhandlungsarenen wie zum Beispiel der Islamkonferenz. Sie sind wichtig, denn

dort funktioniert der Aushandlungsprozess jenseits der Profit- und Machtlogik politischer und ökonomischer Partikularinteressen und der Medien. Bei Letzteren muss gar kritisch angemerkt werden, dass sie sich einer “Empörungsindustrie” bedienen, von der sie nicht nur ökonomisch und politisch profitieren, sondern auch einseitige Zerrbilder der multiethnischen und -religiösen Realitäten in der Gesellschaft vermitteln.

Drittens:

Die transkulturelle Gesellschaft wird funktionieren, wenn knappe und verknappte Ressourcen wie Arbeit, Bildung, Macht, Partizipation und Anerkennung allen Gesellschaftsmitgliedern gleichermaßen zugänglich gemacht werden. Dies wird nur gelingen, wenn in der Aufnahmegesellschaft, die im Zugang dieser Ressourcen im Vorteil ist, die Einsicht und Bereitschaft wächst, diese mit den bereits Eingewanderten und den noch zu Einwandernden teilt.

Diese Einsicht und Bereitschaft sind zwingende Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, da die soziodemografischen Parameter sich unumkehrbar verschoben haben. Wir können dies in den Geburtsanstalten der Krankenhäuser, in den Schulen, auf dem Wohnungsmarkt, in den Altenheimen der Nation – ja sogar in der deutschen U17-Nationalmannschaft beobachten.

Mit einer Verzögerung wird diese soziodemografische Realität auch die Unternehmen erreichen. Denn diese werden in weniger als zehn Jahren ihr Humankapital aus einem multikulturellen Arbeitskräfteangebot schöpfen. Die Gesamtgesellschaft und ihre Institutionen müssen mit einem klaren Bildungsauftrag auf diese – eigentlich bereits existente – gesellschaftliche Realität konsequent vorbereitet werden.

Dieses Konzept wird von Till-R. Stoldt in der WELT (4. August) zurückgewiesen.
Deutschland – die ganze Gesellschaft – könne sich keineswegs normativ als „multiethnisch und multireligiös“ begreifen.

Den Minderheiten steht eine deutsche, christliche Mehrheit gegenüber, religiös gesehen 66 Prozent Christen und ethnisch gesehen 80 Prozent Deutsche ohne Migrationshintergrund. Diese Größenunterschiede müssten berücksichtigt werden.

Wer diese Größenverhältnisse aber verschweigt, während er die Multi-Gesellschaft zur Norm erklärt, legt es laut dem CDU-Kulturpolitiker Thomas Sternberg darauf an, das offenkundig Ungleiche gleich zu behandeln – und Sorgen zu schüren. Das könnte man abtun, wäre Sezers Institut nicht einflussreich.

Es berät die Grünen und vor allem in NRW zahlreiche Landesministerien und Stadtverwaltungen. Zudem spiegelt sich in seinem Plädoyer eine Gesinnung, die in muslimischen Migrantenvertretungen eher Regel als Ausnahme ist.

Warum also markiert Sezer nicht eine Grenze für sein multikulturelles Postulat? Soll auch die christliche Zeitrechnung im Kalender um die muslimische ergänzt werden? Soll für jedes christliche Fest ein muslimisches in Kindergärten und Schulen gefeiert werden? Muss für jedes deutschsprachige Straßenschild ein türkisches aufgestellt werden? Warum schließt er solche Schreckensszenarien aller Islamkritiker und Kulturkonservativen nicht aus? Mit seiner Unklarheit schürt er genau die Ängste, die er angeblich aufheben will. Aber damit steht er ja wahrlich nicht alleine.

Stoldt missversteht – stellvertretend für Millionen andere – das Konzept einer transkulturellen Gesellschaft. Für ihn ist zur Norm gewordene kulturelle Vielfalt ein „Schreckensszenarium“ – das er sich selber konstruiert.

Wozu sollte man türkisch-sprachige Straßenschilder aufstellen, wenn ein transkulturelles Deutschland sich selbstverständlich öffentlich auf Deutsch verständigt (und gelegentlich vielleicht auf Englisch)?

Warum sollten einige unserer Kalender nicht auch den Hinweis auf die islamische Zeitrechnung enthalten? Dass ein transkulturelles Deutschland seine (ursprünglich christliche) Zeitrechnung beibehalten wird, versteht sich doch von selbst.

Warum sollte „für jedes christliche Fest“ im Kindergarten ein „muslimisches“ gefeiert werden – warum feiert man die Feste nicht ganz locker nach dem Bedürfnis der Familien?

Die Einwände gegen das Kamuran Sezers Konzept der transkulturellen Gesellschaft werden auf einem erheblich höheren Niveau entwickelt werden müssen, als es in diesem naiv deutsch-nationalen Artikel der Welt geschieht.

An der Auseinandersetzung führt kein Weg vorbei – und gesellschaftliche Konzepte wachsen in der Debatte. Die Skeptiker der Multikulturalität und der transkulturellen Gesellschaft bräuchten ihrerseits ein konstruktives Zukunftskonzept, das man der transkulturellen Gesellschaft gegenüberstellen kann. Dieses Konzept wird allerdings nicht so aussehen können wie das aus Breiviks Manifest. Oder in einem Weiter-so mit immer neuen kleinen Zugeständnissen bestehen können.