Cem Özdemir

Der Grüne Gesellschaftsvertrag

2009 ist für Deutschland ein Superwahljahr. Politische Präferenzen konnten und können zum Ausdruck gebracht werden bei der Bundestagswahl im September, bei 8 Kommunal-, 5 Landtagswahlen und nicht zuletzt bei der Europawahl am 7. Juni. Die Parteien werben vor allem mit ihrer Kompetenz zur Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise. Keine Rettung ist ihnen im Wahljahr zu teuer. Doch wie halten sie es mit gesellschaftspolitischen Themen wie der Inklusion und Integration von MigrantInnen und Minderheiten?

Von Filiz Keküllüoglu Dienstag, 23.06.2009, 7:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.09.2010, 19:59 Uhr Lesedauer: 10 Minuten  |  

Interview mit Cem Özdemir 1

Herr Özdemir, für viele vor allem türkischstämmige Jugendliche haben Sie eine Vorbildfunktion. Wer ist ihr Role-Modell?

___STEADY_PAYWALL___

Ich hatte ein Role Model, das ich sogar kennen gelernt habe, der aber leider nicht mehr lebt. Das war Hrant Dink, ein türkisch-armenischer Schriftsteller in der Türkei, mit dem ich sehr gut befreundet war. Wie eine Art Bruder. Er wurde von Ultranationalisten umgebracht. Neben meinem Schreibtisch hängt ein Bild von Martin Luther King. Auf eine gewisse Weise sind auch meine Eltern Role Models für mich, die sich in den 60er Jahren auf den Weg nach Deutschland gemacht haben, ohne die Sprache zu sprechen, ohne sich hier auszukennen und sich hier durchgebissen haben. Sie mussten sich zurecht finden in einer Gesellschaft, wo ihnen niemand erklärt hat, was auf sie zukommt. Übrigens auch nicht in der Türkei.

Wie ändert sich der Alltag eines Politikers, wenn er Parteivorsitzender wird?

Es ist schon etwas anderes, wenn man Parteivorsitzender ist, obwohl ich nicht neu in der Politik bin. Das fängt schon beim Terminkalender an. Absolut vollgepackt. Sachen, die mir wichtig sind, dürfen dennoch nicht zu kurz kommen. Beispielsweise lege ich großen Wert darauf, dass ich morgens meine Tochter in den Kindergarten bringe und mit ihr ein bisschen reden kann. Außerdem versuche ich nach Möglichkeit, sonntags zusammen mit den Jungs am Kotti Fußball zu spielen. Der Job dauert aber im Prinzip eher 24 Stunden an 7 Tagen die Woche.

Im Mai stimmte Ihre Partei über ihr Wahlprogramm ab, bei dem es auch um einen „neuen grünen Gesellschaftsvertrag“ geht. Wofür brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag und was verstehen Sie darunter?

Der alte Gesellschaftsvertrag, der sicherlich früher lange Zeit gut funktioniert hat, hat aus unserer Sicht ein großes Problem, weil er soziale Gerechtigkeit nicht mehr gewährleistet. Im Kreissaal ist schon bei vielen klar, ob sie später auf die Hauptschule oder auf das Gymnasium gehen werden. Das hängt zunehmend vom Elternhaus ab und nicht von der eigenen Begabung. Wer in die Familie von Arbeitslosengeld-II-EmpfängerInnen geboren wird, hat bei uns keine großen Chancen, daraus auszubrechen. Die Wahrscheinlichkeit ist relativ groß, dass er oder sie selber auch Arbeitslosengeld II empfängt. Das ist ein skandalöser Zustand. Das zweite Problem ist, dass der alte Gesellschaftsvertrag ökologisch blind ist. Er schafft es nicht, so zu wirtschaften, dass wir nicht zu Lasten künftiger Generationen oder zu Lasten anderer auf der Welt wirtschaften. Also brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag, der beides gewährleistet. Einerseits soll er dafür sorgen, dass wir eine Chancengleichheit in der Gesellschaft haben, dass wir Blockaden überwinden und alle gleiche Chancen bekommen – unabhängig davon, ob sie aus einer reichen oder armen Familie kommen, ob ihre Eltern schon immer Deutsch waren oder ob die Vorfahren einen Migrationshintergrund haben. Andererseits muss der neue Gesellschaftsvertrag dafür sorgen, dass wir die Wirtschaft so umbauen, dass sie keinen Widerspruch zur Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlage darstellt. Das ist der grüne Neue Gesellschaftsvertrag.

An Grundschulen hat ein beachtlicher Teil der Kinder mit Migrationshintergrund Probleme mit der deutschen Sprache. Sie haben auch eine Tochter im Kindergartenalter. Welche Sprache bringen Sie ihr zuerst bei?

Meine Frau ist Argentinierin. Sie spricht mit ihr konsequent Spanisch und ich mit ihr Deutsch. Wenn ich mit ihr Türkisch und Deutsch sprechen würde, wäre das nur ein Sprachchaos. Außerdem spreche ich besser Deutsch als Türkisch. Meine Tochter geht in einen deutsch-spanischen Kindergarten. Sie spricht mittlerweile beide Sprachen fließend. Sie kann hin und her switchen und auch hin und her übersetzen. Ich bin ganz erstaunt, wie gut sie das hinkriegt. Türkisch lernt sie außerdem über meine Eltern und über die Baby-Sitterin, die ein wenig Türkisch mit ihr spricht, so dass sie auch auf Türkisch zählen kann, fragen kann, wie es einem geht und natürlich singen kann. Wenn es nach dem Papa geht, dann würde er sich natürlich darüber freuen, wenn sie neben Spanisch und Deutsch später auch noch richtig gut Türkisch spricht.

  1. Cem Özdemir war zwischen 1994 und 2002 Bundestagsabgeordneter und von 1998 bis 2002 innenpolitischer Sprecher der Bündnis 90/Die Grünen. Seit 2004 ist er Abgeordneter des Europäischen Parlaments und seit 2008 Bundesvorsitzender seiner Partei.
Interview Politik

Seiten: 1 2

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)

  1. Krause sagt:

    Cem Özdemir ist ein klasse Typ und mir wesentlich sympathischer als diese ganze verlogene links-grüne Mischpoke à la Trittin, Roth etc. Gut finde ich auch, dass er sein Migrantensein nicht so in den Vordergrund stellt. Es ist irgendwie merkwürdig, dass fast alle Migranten (insbesondere türkischer Provenienz) auf Migrantenthemen spezialisiert sind. Kann natürlich sein, dass man nur auf dem Ticket als Migrant Karriere machen kann, da Themen wie Wirtschaft, Steuer etc. vornehmlich mit Urdeutschen besetzt werden. Das wäre natürlich sehr bedauerlich.

  2. Umut sagt:

    Ich als Kurde finde es sehr toll, dass Herr Özdemir nicht nur an die türkischen Migranten denkt sondern auch gleichzeitig an die Kurden und anderen Migranten denkt. So einen Politiker würde ich mir für die Türkei wünschen, am besten als Präsident der Türkei. Dann würden nämlich die Kurden ihre Rechte bekommen und das Kurdenproblem würde friedlich gelöst werden und die PKK würde dann für immer ihre Waffen fallen lassen. Herr Özdemir, ich würde Sie gerne als Präsident der Türkei sehen, denn viele türkische Politiker im türkischen Parlament denken zu natioanlistisch, deswegen braucht die Türkei solche europäische Politiker wie Herr Özdemir, Frau Bozkurt, Frau Dagdelen,Frau Uca… Normalerweise wähle ich die Linkspartei, aber nach diesem Interview mit Herrn Özdemir,überlege ich mir, ob ich die Grünen wählen soll !

  3. Krause sagt:

    „So einen Politiker würde ich mir für die Türkei wünschen, am besten als Präsident der Türkei. “

    Deutsche Wertarbeit Umut .-). Deutschland bildet nicht nur türkisch-stämmige Fußballspieler gut aus, sondern auch Politiker. Jetzt müssen wir nur noch um die Hauptschüler kümmern (im besten Sinne) und dann klappt das schon mit der Integration.

  4. ibo sagt:

    ein Politiker, der sich dafür ausgesprochen hat, ein Film (Tal der Wölfe – Irak) verbieten zu lassen, nur weil mal Amerikaner und Israelis die Bösewichter spielen, hat in meinen Augen keine so große Kompetenz.

    Trotzdem finde ich einige innenpoltische Ansätze von Ihm gut.

    Seine außenpolitischen Ansätze sind eher eine Katastrophe, da er genau weiß, was er sagen muss, um auf Stimmenfang gehen zu können.

  5. Pingback: Lohas News - Rundschau 23.06.2009 | A-LOHA LOHAS! Blog