Das aktuelle Gezerre um die Verteilung von gerade einmal 40.000 Flüchtlingen in ganz Europa zur Entlastung von Italien und Griechenland zeigt: In vielen Mitgliedsstaaten gilt nicht Solidarität gegenüber der Europäischen Union und einzelnen unter Druck geratenen Mitgliedern, sondern das St. Floriansprinzip. Das sei ein „politisches Armutszeugnis“ kritisiert Jens Schneider, Leiter des Forschungsbereichs beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR): „In manchen Ländern herrscht offenbar ein mangelndes Verständnis von Solidarität, denn derzeit stark von Flüchtlingszuwanderung betroffene Länder wie Griechenland oder Italien werden so mit ihren Problemen allein gelassen. Auch scheint vielen nicht klar zu sein, dass gemeinsame europäische Politik eben auch eine gemeinsame Flüchtlingspolitik zwangsläufig mit einschließt: Wir haben seit einigen Jahren ein ‚gemeinsames europäisches Asylsystem‘ – aber eben nur auf dem Papier.“
Schneider hat Recht, aber auch Deutschland ist hier kein Musterknabe: Das Bundesinnenministerium verbreitet gern die heroische Klage, Deutschland trage in Europa die mit weitem Abstand stärkste Belastung durch Asylbewerber. Das ist nicht falsch, bestärkte aber in dieser simplen Setzung mit den üblichen Ländervergleichen in absoluten Zahlen in der weiteren Öffentlichkeit die Skepsis nicht nur gegenüber Asylsuchenden, sondern auch gegenüber dem übrigen Europa und vor allem gegenüber der EU in Asylfragen.
Solche Nachrichten sind in der Sache ebenso problematisch wie die Schreckensbotschaft den früheren Bundesinnenministers Otto Schily (SPD) von der angeblich überschrittenen ‚Grenze der Belastbarkeit‘ Deutschlands durch Zuwanderung – ohne Berücksichtigung der zeitgleichen, ebenfalls sehr starken Abwanderung. Das war ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Schilys Aussage wurde, wie von ihm geplant, seinerzeit von reformscheuen und besonders konservativen Kreisen begrüßt . Sie wird aber bis heute vorzugsweise von ‚islamkritischen‘, rechtsradikalen, rechtsextremistischen und neo-nationalsozialistischen Gruppen zur Scheinlegitimierung ihrer fremden- und asylfeindlichen Positionen genutzt.
Es kann zwar kein Zweifel daran bestehen, dass Deutschland, trotz aller Selbstkritik von humanitärer Warte aus, über ein rechtlich transparentes, behördlich belastbares und trotz aller Härten bei den aufenthaltsbeendenden Maßnahmen (Abschiebungen) im gesamteuropäischen Vergleich geradezu menschenfreundlich wirkendes Asylsystem verfügt, von Ausnahmen wie zum Beispiel Schweden einmal abgesehen. Das sollte aber kein Anlass sein für asylheroische Selbstverherrlichung unter Hinweis auf die Asylstatistik als internationales Leistungsbarometer:
Im letzten Vierteljahrhundert wurden in Deutschland insgesamt 2,6 Millionen Asylanträge (Erst-und Folgeanträge) gestellt. Den Höchststand bildete das Jahr 1992 mit 438.000, den Tiefstand das Jahr 2007 mit nur noch 28.000 Anträgen Deshalb wurde der Personalbestand an Asylentscheidern im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stark reduziert. Das war, wie sich bald zeigen sollte, ein nicht vorhersehbarer Fehler; denn ab 2008 stiegen die Zahlen der Asylsuchenden kontinuierlich wieder stark und schließlich scharf an: auf 202.834 im Jahr 2014. Sie könnten nach Schätzung des BAMF im Jahr 2015 auf mehr als das Doppelte, auf ca. 450.000 steigen, nachdem allein in den ersten vier Monaten bereits 114.000 Personen Asylanträge gestellt haben.
Deutschland steht mit seinem hohen Asylbewerberaufkommen in absoluten Zahlen klar an der Spitze in der Europäischen Union. Dabei können diese Zahlen allerdings, je nach Berechnung, auf dreifache Weise überhöht erscheinen:
- durch den Bearbeitungsstau im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und
- durch hier mitgezählte Flüchtlinge, deren Verfahren gar nicht eröffnet oder abgebrochen werden, weil die Antragsteller in das Land zurückkehren müssen, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten haben.
- Setzt man überdies die stark schwankenden absoluten Zahlen von Asylbewerbern ins Verhältnis zur jeweiligen Bevölkerungszahl, dann ergibt sich ein durchaus anderes Bild: Deutschland stand zum Beispiel 2012 mit weniger als einem Flüchtling (0,9) auf 1.000 Einwohner nur auf Platz 10 in der EU. In den beiden Folgejahren holte Deutschland auch in relativen Zahlen auf, gehörte aber nach wie vor nicht zur Spitzengruppe in der EU: 2014 hatte Schweden (8,4) den höchsten Flüchtlingsanteil, gefolgt von Ungarn (4,3) und Österreich (3,3) während Deutschland (2,5) nur auf Platz 6 (weltweit auf Platz 13) aufgerückt war.
Richtig ist zwar, dass viele europäische Staaten ihrer Pflicht, Asylsuchende aufzunehmen, nicht annähernd entsprechen oder sie auf unerträgliche Weise behandeln wie zum Beispiel Bulgarien oder Griechenland. Richtig ist auch, dass Staaten an den Außengrenzen der EU ihrer Pflicht, ankommende Asylsuchende in ein geordnetes Verfahren zu überführen, oft nicht zureichend nachkommen oder sie, wie Italien, zuweilen sogar ohne die vorgeschriebene Erfassung mit Fingerabdrücken ‚durchwinken‘. Das erschwert einen Rückverweis im Sinne des Dublin-Reglements an das zuständige Ersteintrittsland ebenso wie die Kontrolle von Mehrfachanträgen, was zum Beispiel in Deutschland zu unnötigen Bearbeitungsstaus führt, die wiederum Kritik an angeblich ineffektiver bzw. inkonsequenter Arbeit der Behörden anstachelt.
[…] und ab 2003 in Kraft getretene Dublin-II-Verordnung war ein Projekt, das beharrlich durch die rot-grüne Bundesregierung mit ihrem Innenminister Otto Schily (SPD) vorangetrieben wurde. Schon damals befürchteten die […]