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Alexander Böttcher, Rassismus, MiGAZIN, Sprache, Integration
Alexander Böttcher © Foto: privat, Zeichnung: MiGAZIN

Contrapunto

Wessen Blick wird übernommen? Was wird erblickt, was übersehen?

Woran denken Sie, wenn Sie an Argentinien und deutsche Geschichte denken? Und warum? Höchste Zeit, das mal zu hinterfragen.

Von Montag, 18.12.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.12.2023, 12:45 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Unzählige Male habe ich schon dieselbe, manchmal witzig gemeinte, Anmerkung gehört: „Ja die Nazis sind ja dort untergekommen.“ Vorausgegangen ist meistens ein Dialog, in welchem das Gegenüber erfährt, dass meine Familie aus Argentinien stammt. Angesichts meines „deutsch“ klingenden Namens scheint dies die erste Assoziation zu sein, die dem Gegenüber in den Kopf und aus dem Mund springt.

Auch lassen sich diverse Medienberichte und Angebote der politischen Bildung finden, die die Flucht von nationalsozialistischen Täter:innen nach Argentinien und andere Länder Südamerikas sowie in arabische Staaten thematisieren. Tatsächlich sind die aufgrund der Beteiligung der katholischen Kirche sogenannten „Klosterrouten“, an denen Personen aus diversen Ländern wie Deutschland, Spanien, Kroatien und Italien und nicht zuletzt das internationale Rote Kreuz, beteiligt waren, ein historischer Fakt. Der US-Militärgeheimdienst wusste früh über die Flucht der Nazis Bescheid. Die Fluchtrouten wurden aber angesichts des sich anbahnenden Kalten Krieges für eigene Zwecke genutzt und Spione wurden eingeschleust. Die Fluchtrouten bekamen daher auch die Bezeichnung der „Rattenlinien“.

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Der damalige argentinische Präsident Juan Perón wies ein sehr zu kritisierendes Verhältnis zum europäischen Faschismus und Nationalsozialismus auf. Dieses lässt sich interpretieren als ein „pragmatistisches“ Verhältnis, welches in nationalsozialistischen Flüchtlingen hoch qualifizierte Arbeitskräfte für die Wirtschaft sah, bis hin zu einer Bewunderung des europäischen Faschismus an sich und Ideen der Eroberung des südamerikanischen Kontinents durch Argentinien. Es scheint, dass dieses Thema bis heute, angesichts der teilweisen Verehrung der Idole Perón und Evita aufgrund ihrer Sozialpolitik, in Argentinien häufig mehr verschwiegen als offen und breit thematisiert wird.

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„Was ist mit all den anderen Formen der Auswanderung von Deutschland und Europa nach Argentinien und Südamerika?“

Doch fernab dieser existierenden historischen Geschehnisse, die sich auch deutlich jenseits meiner Expertise befinden, drängt sich mir mit jeder dieser Dialogsituationen eine Frage immer mehr auf: Wie kommt es, dass mir in diesen Situationen ein so starker Fokus auf eine sehr kleine Form der Migration von Deutschland nach Argentinien bzw. genauer nach Südamerika begegnet? Was ist mit all den anderen Formen der Auswanderung von Deutschland und Europa nach Argentinien und Südamerika? Wäre in diesem Kontext nicht auch die Frage nach der jüdisch-deutschen Auswanderung nach Argentinien besonders interessant?

Anne Saint Sauveur-Henn geht (in ihrem 2010 erschienen Text „Die deutsche Migration nach Argentinien (1870-1945)“, S 21) allein in der Zeit des Nationalsozialismus von 40.000 jüdisch-deutschen Personen aus, welche von Deutschland nach Argentinien ausgewandert sind – gegenüber 2.000 bis 5.000 von ihr geschätzten geflüchteten Deutschen unmittelbar nach 1945.

Eine aktuelle Schätzung im Artikel „World Jewish Population“ von Sergio Della Pergola im American Jewish Year Book 2022 (S. 314) geht von heute 173.000 jüdischen Menschen in Argentinien aus. Dies ist eine bemerkbar höhere Zahl im Vergleich zur jüdischen Bevölkerung in Deutschland, welche auf 118.000 Personen geschätzt wird. Dies wird deutlicher, wenn diese absoluten Zahlen in Relation zur jeweiligen Gesamtbevölkerung gesetzt werden, denn dann ergibt sich ein fast dreimal so hoher Anteil von jüdischen Menschen an der Gesamtbevölkerung (in Argentinien 3,8 Prozent gegenüber 1,4 Prozent in Deutschland).

Die Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, denn der Zentralrat der Juden in Deutschland fast 91.000 jüdische Personen aus, weil entsprechend so viele Personen in deutschen Gemeinden gemeldet sind. Dass nicht alle jüdischen Personen in Deutschland ihre Religion offen kundgeben möchten, liegt (leider) auf der Hand. Andere Schätzungen gehen von anderen Zahlen aus. Allen gemein ist jedoch, dass die jüdische Bevölkerung in Argentinien höher ist als in Deutschland.

„Über bloße Zahlen hinausgehend lässt sich eine „Normalität“ jüdischen Lebens in Argentinien gegenüber des manchmal doch als verkrampft empfundenen Umgangs mit „jüdischer Normalität“ in Deutschland feststellen.“

Über bloße Zahlen hinausgehend lässt sich eine „Normalität“ (was auch immer das sein soll) jüdischen Lebens in Argentinien gegenüber des manchmal doch als verkrampft empfundenen Umgangs mit „jüdischer Normalität“ in Deutschland feststellen. Der Besuch einer שולע/shule (jiddisch ausgesprochen), zusätzlich zum Besuch einer staatlichen Schule, firmiert als alltäglicher Bestandteil vieler großstädtisch aufwachsender jüdischer Personen in Argentinien. Doch auch im ländlichen Raum lassen sich Zeugnisse jüdischen Lebens ausmachen, wie an der ehemaligen Siedlung und heutigen Gemeinde Moisés Ville (ursprünglich Moïsesville) festzustellen ist. Sie wurde im 19. Jahrhundert von in Osteuropa verfolgten und von dort geflohenen Jüdinnen und Juden gegründet. Und – so sehr mich die Bedienung des klischeebehafteten und reduktionistischen Bildes der Gauchos stört – ist die Existenz jüdischer Gauchos durch Filme, Medienberichte und Bücher belegt.

Dieser Exkurs soll aufzeigen, dass wir statistisch und anhand verschiedenster Spuren über diverse Beweise für die historische und aktuelle Existenz jüdischer Migration nach und jüdischen Lebens in Argentinien verfügen. Zurück also zu den oben gestellten Fragen: Wie kommt es, dass es nicht nur so ist, dass beim Gegenüber des Dialogs ein Aspekt überbetont (Flucht der Nazis) wäre? Zumal der andere Aspekt (jüdisches Leben und Migration), der in dargelegter Hinsicht vielleicht sogar präsenter sein könnte, überhaupt nicht Bestandteil des Gegenüber-Bewusstseins zu sein scheint.

„Manche Formen der Migration scheinen stark im Blickfeld und Bewusstsein zu liegen, andere werden übersehen.“

Manche Formen der Migration scheinen stark im Blickfeld und Bewusstsein zu liegen, andere werden übersehen. Wenden wir den Blick von Argentinien wieder zurück nach Deutschland.

Es zeigt sich ein Blick, welcher von einer Nationalgeschichte ausgeht. Genauer: Er geht von einem partikularen Teil der Nationalgeschichte aus, nämlich der nicht-jüdischen bzw. der nationalsozialistischen Täter:innenperspektive. Es zeigt sich ein Paradox: Mit dem Fokus auf die Kriminalität der nationalsozialistischen Täter:innen, in diesem Fall durch den Entzug der Bestrafung (Flucht), sollen genau jene Taten der antijüdischen Auslöschung, die einer Bestrafung verdienen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Zugleich findet in den Dialogsituationen – und das war in diesen Situationen immer der Fall – auch der Ausschluss der jüdischen Perspektive statt. Sie kommt nicht vor. Die jüdische Perspektive ist unsichtbar gemacht und das Unsichtbarmachen (bis hin zur forcierten Auslöschung) steht damit in einer langen Tradition.

Das bedeutet nicht, dass dies die Intention des Gegenübers sei. Vielmehr zeigt sich hierin etwas, was Judith Coffey und Vivien Laumann als Gojnormativität in ihrem gleichnamigen und 2021 erschienen Buch bezeichnen. Mit dem Begriff der Normativität verweisen sie darauf, dass das Nicht-Jüdische die Norm sei und genau dadurch Jüdinnen und Juden unsichtbar gemacht werden, was eine Form der Reproduktion des Antisemitismus darstellt. Das bedeutet gerade nicht, dass mein Dialog-Gegenüber „Antisemit“ sei, sondern dass der Antisemitismus als Aspekt gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftssysteme zu verstehen ist. Damit einhergehen Ausschlüsse und das Unsichtbarmachen jüdischer Existenz und Perspektiven (in diesem Fall aus dem Gedankenhorizont meines Gegenübers). In der beschriebenen Situation geschieht dies ebenfalls, weil mit dem Gegensatzpaar von jüdisch und deutsch gearbeitet wird, was nach Coffey und Laumann Bestandteil der Gojnormativität ist. Was „deutsch“ ist, ist „nicht jüdisch“ und vice versa.

„Jüdinnen und Juden existieren nur als ein abstraktes Anderes. Sie dienen der Erinnerung an die Täter:innen und reproduzieren damit zugleich die Täter:innenperspektive.“

Damit ergeben sich auch Rückschlüsse für die deutsche Erinnerungskultur an die Shoah. Im Blick ist die „eigene“ kulturelle, gesellschaftliche, nicht-jüdische Täter:innenperspektive. Gleichzeitig wird damit auch jüdisches Leben weltweit, in Argentinien und in Deutschland unsichtbar gemacht: Was, wenn die Person, die dem Spruch über die Naziflucht nach Argentinien ausgesetzt ist, selbst eine familiäre Geschichte der Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden durch die Nazis vorzuweisen hat? Die deutsche Erinnerungskultur geht von den (nicht jüdischen) Deutschen aus. Jüdinnen und Juden erfüllen eine spezifische Rolle für die Erinnerung der Täter:innen. In Max Czolleks Worten („Desintegriert euch!“, 2018, S. 30): „Die Juden und Jüdinnen in Deutschland sind dazu da, die Nachkommen der Täter:innen bei der Konstruktion ihrer Identität zu unterstützten.“ Jüdinnen und Juden existieren nur als ein abstraktes Anderes. Sie dienen der Erinnerung an die Täter:innen und reproduzieren damit zugleich die Täter:innenperspektive.

Zuletzt ergeben sich Implikationen für die Erinnerungskultur in einer postmigrantischen Gesellschaft, also einer sich durch Migrationsprozesse veränderten und sich im weiteren Wandel befindenden Gesellschaft. Wie sollen gegenwärtige Apelle von Menschen, welche aus einer nationalen, nicht-jüdischen und intergenerationalen Täter:innenperspektive heraus argumentieren, bei Menschen auf Resonanz treffen, welche zumindest familien- oder eigenbiographisch nicht in die Mittäter:innenschaft involviert sind und sich in verschiedensten (trans-)nationalen, lokalen, religiösen und sonstigen anderen Kontexten verorten? Besonders dramatisch ist daher auch der klar erkennbare zugenommene antimuslimische Rassismus, der Muslim:innen per sé unterstellt, antisemitisch zu sein. Dieser Rassismus speist seine Kraft und Legitimation aus einer nicht-jüdisch-deutschen Täter:innenperspektive. Meinung

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