Der trauernde Prophet
Wie Muslime mit dem Tod umgehen
Täglich kommen bei Kriegen, Katastrophen oder Unfällen Menschen um. Auch in Deutschland beklagen viele Menschen mit Wurzeln im Ausland Verluste. Sie verlieren enge Familienmitglieder oder Freunde. Gläubige finden Trost in ihrer Religion – ein persönlicher Bericht.
Von Dr. Zeyneb Sayılgan Sonntag, 10.11.2024, 12:58 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 10.11.2024, 13:10 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Er beerdigte seine eigenen sechs Kinder. Drei von ihnen starben als Säuglinge, drei weitere im jungen Erwachsenenalter. Sein einziges überlebendes Kind – Tochter Fatima – starb sechs Monate nach ihm. Der Tod war dem Propheten Muhammad nicht fremd. Sein Vater starb vor seiner Geburt. Seine Mutter starb, als er sechs Jahre alt war und ließ ihn als Waise zurück. Sein geliebter Großvater Abdulmuttalib starb kurz, während er in seiner Obhut war. Seine geliebte Frau Khadija und sein Onkel Abu Talib starben im selben Jahr. Abu Talib war sein einziger Beschützer gegen die Verfolgung der Mekkaner. Gelehrte spekulieren, dass Khadija wahrscheinlich aufgrund der Mangelernährung infolge des dreijährigen Boykotts, früh starb. Die junge muslimische Gemeinschaft wurde in dieser schrecklichen Phase dem Hungertod überlassen. Diese Zeit des Seelenschmerzes ist in der islamischen Geschichte als „Jahr der Trauer“ bekannt. Der Lieblingsonkel des Propheten, Hamza, wurde nicht nur im Krieg getötet – sein Körper wurde zusätzlich schändlich verstümmelt. Viele Freunde und Weggefährten des Propheten wurden vor seinen Augen gefoltert. Der Prophet Muhammad war auch Zeuge der abscheulichen vorislamischen Praxis der Tötung von weiblichen Kindern. Der Koran (Sure 17, Vers 31) hatte diese grausame Tradition letztendlich verurteilt und verboten. In der vormodernen, rauen Wüstenlandschaft des 7. Jahrhunderts war die Sterblichkeitsrate sehr hoch.
Der Tod war daher für den Propheten Muhammad allgegenwärtig. Trauer war eine Konstante in seinem Leben. Als erwachsener Mann kehrte er oft zum Grab seiner Mutter zurück, um sie zu ehren und ihr zu gedenken. Seine Gefährten sahen ihn weinen und waren auch zu Tränen gerührt. Für die Muslime damals und heute ist der Prophet Muhammad weiterhin ein emotionales Vorbild, eine Rechtleitung und eine Quelle des Trostes inmitten ihres eigenen Schmerzes und der tiefen Trauer.
Mein Sohn Seyda starb im Säuglingsalter. Meine dreijährige Tochter Meryem wurde auf tragische Weise von einem Lastwagenfahrer getötet. Ich werde nie darüber hinwegkommen. Zeuge von dem Tod seiner eigenen Kinder zu sein, ist der größte Schmerz, den man sich vorstellen kann. Man ist komplett desorientiert. Es fühlt sich an, als ob man von neuem Laufen lernen muss. Die Welt steht auf dem Kopf. Die Sehnsucht und der Herzschmerz sind andauernd. Die Abwesenheit der Kinder ist überall spürbar. Ich lerne nur langsam, diese Tragödie in meinem Leben zu integrieren.
Als trauernde muslimische Mutter schaue ich in meinem ständigen Kummer zum Propheten Muhammad auf. Ich wende mich seinem Licht, seinen heiligen Überlieferungen zu, die seine eigenen Qualen als Vater beschreiben. In einer Gesellschaft, in der speziell männliche Nachkommen – Söhne – als Ehre und Anerkennung galten, ist das folgende Ereignis besonders traumatisch. Die Hoffnung auf einen lange erwartenden spirituellen Erben starb mit seinem letzten Kind. Diese bestimmte Überlieferung, die den bevorstehenden Tod seines zweijährigen Sohnes Ibrahim beschreibt, rührt mich stets besonders zu Tränen:
Der Prophet war über die Nachricht so schockiert, dass er spürte, dass seine Knie ihn nicht mehr tragen konnten, und bat Abd al-Rahman ibn Awf, ihm seine Hand zum Anlehnen zu geben. Er machte sich sofort auf den Weg zum Obstgarten und kam gerade noch rechtzeitig an, um sich von dem Säugling zu verabschieden, der auf dem Schoß seiner Mutter starb. Der Prophet Muhammad nahm das Kind und legte es auf seinen eigenen Schoß, während er ihm die Hand schüttelte. Sein Herz wurde durch die neue Tragödie zerrissen und sein Gesicht spiegelte seinen inneren Schmerz wider. Er würgte vor Kummer und sagte zu seinem Sohn: “O Ibrahim, entgegen dem Urteil Gottes können wir dir nichts nützen,” und verstummte dann. Tränen flossen aus seinen Augen. Das Kind verfiel allmählich, und seine Mutter und seine Tante schauten unaufhörlich zu und weinten, und der Prophet sagte ihnen nicht, damit aufzuhören. Als Ibrahim sich dem Tod ergab, zerbrach die Hoffnung des Propheten Muhammad, die ihn für kurze Zeit getröstet hatte, völlig. Mit Tränen in den Augen sprach er noch einmal zu dem toten Kind: “O Ibrahim, wäre die Wahrheit nicht sicher, dass der Letzte von uns sich dem Ersten anschließen würde, wir hätten dich noch mehr betrauert als jetzt.” Einen Moment später sagte er: „Die Augen vergießen Tränen und das Herz trauert, aber wir sagen nichts außer dem, was unserem Herrn gefällt. In der Tat, oh Ibrahim, wir sind traurig über deinen Weggang von uns.”
Die regelmäßige Auseinandersetzung mit diesen und vielen anderen Augenzeugenberichten aus dem Leben des Propheten spenden mir weiterhin als Mutter in vieler Hinsicht Trost und erleichtern meinen Schmerz. Dabei handelt es sich bei diesen normativen Hadithsammlungen um öffentliche Dokumente, die jederzeit für jeden zugänglich waren und sind. Sie zeigen, dass Trauer eine öffentliche Angelegenheit war. Trauer ist ein menschliches und universelles Gefühl. Trauer ist kein medizinischer oder unnatürlicher Zustand, der behandelt oder hervorgehoben werden muss. Als Mensch, als Mann, als Vater, als Gläubiger, der Gott aufrichtig und zutiefst liebte – gab sich Prophet Muhammad die Erlaubnis, seine Trauer zu spüren und auszudrücken. Er vergoss in der Öffentlichkeit Tränen und sprach über seinen Kummer. Einmal war einer seiner nahen Gefährten verwirrt, als er den Propheten Gottes weinen sah. Worauf der Prophet Muhammad antwortete, dass das Vergießen von Tränen ein Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes sei. Ein zartes und sanftmütiges Herz ist ein Segen Gottes. Zu seinem Verständnis von heiliger Männlichkeit und starker Maskulinität gehörten der Mut zur Verletzlichkeit, zur Vulnerabilität. Echte Männer können weinen. Menschen mit starkem Glauben und einer unerschütterlichen Überzeugung in das versprochene Jenseits können Tränen vergießen.
Der Prophet Muhammad hatte keine Scheu, seine Menschlichkeit ganzheitlich auszuleben. Indem er allen Emotionen Raum ließ, bekräftigte er den Kern der wahren, menschlichen Natur: Menschen sind bedürftig und schwach, der allbarmherzige Schöpfer wendet sich daher in seiner umfassenden Güte, Großzügigkeit und Allmacht dem Menschen zu. Er ist die absolute Zuflucht, die Quelle der Sicherheit und Kraft. Er, der mein liebstes Kind, mich und alle Geschöpfe das erste Mal erschaffen hat, hat zweifellos die Allmacht, alle zum zweiten Mal erneut wieder zu erschaffen: „Dann werden sie sagen: ‘Wer wird uns wieder (zu neuem Leben) zurückbringen?’ Sprich: ‘Derjenige, Der euch das erste Mal erschaffen hat.’ Daraufhin werden sie vor dir ihre Köpfe schütteln und sagen: ‘Wann wird das geschehen?’ Sprich: ‘Vielleicht steht es nahe bevor.’“ verspricht der Koran (Sure 17, Vers 51).
In der prophetischen Trauer sehen wir eine moderate Haltung: keine Wut, kein exzessives Jammern, keinen Zweifel, keine Fragen. Die verstorbenen Seelen sind präsent und beobachten die emotionalen Reaktionen ihrer liebsten Hinterbliebenen. Sie wollen in Frieden zu ihrem Schöpfer zurückkehren. Extreme Trauer bestürzt die Verstorbenen unnötig. Als trauernde Mutter sehe ich im Propheten eine absolute Hingabe, ultimatives Vertrauen in Gott, Akzeptanz und Frieden mit der göttlichen Bestimmung. Dies sind die Einstellungen, die Muslime anstreben – innerer Frieden mit sich selbst und Genügsamkeit mit den Lebensumständen zu finden, die außerhalb der menschlichen Kontrolle liegen. Trotz all dieser schrecklichen Qualen, den Tod seiner sechs Kinder erfahren zu müssen, bleiben seine Überzeugung an einen allbarmherzigen Schöpfer und seine Gewissheit in das Jenseits unerschüttert.
Muslime bekräftigen, dass der Prophet während der nächtlichen Himmelfahrt (mi’raj), die verschiedenen Stufen des Paradieses bereist und mit seinen eigenen Augen die Existenz des Jenseits bezeugt hat. Während dieser himmlischen Nachtreise sah er den Propheten Abraham umgeben von tausenden verstorbenen kleinen Kindern, die in den Gärten des Paradieses spielen. Prophet Muhammad kam von dieser Himmelsreise zurück, um Hoffnung und die frohe Botschaft einer neuen Zukunft zu überbringen. Unsere Kinder leben. Sie sind sicher. Sie freuen sich über ihre Rückkehr in ihre himmlische Heimat. Wir als hinterbliebene Eltern werden sie wieder in unsere Arme einschließen und uns mit ihnen vereinen.
Der Tod ist ein Übergang – nicht das Ende. In den Worten des muslimischen Gelehrten Bediüzzaman Said Nursi:
Der Tod ist keine Zerstörung, kein Nichts oder keine Vernichtung; es ist kein Aufhören oder Aussterben; es ist keine ewige Trennung oder Nichtexistenz oder ein zufälliges Ereignis; es ist keine autorenlose Auslöschung. Vielmehr ist der Tod eine Befreiung durch den allweisen und allbarmherzigen Schöpfer; der Tod ist ein Ortswechsel. Er ist ein Zugang zur ewigen Glückseligkeit, ein Eintritt in die wahre Heimat. Der Tod ist ein Eingang in die Zwischenwelt im Grab wo du dich mit der Mehrheit deiner Liebsten vereinen wirst. (Die Briefe, Zwanzigster Brief, Siebtes Wort)
Dies sind die prophetischen Lehren, die trauernde muslimische Eltern wie mich weiterhin in ihrer schmerzhaften Erfahrung stützen. Sie sind der Grund, warum Muslime wie Großvater Khaled Nabhan, deren Enkelkinder in Gaza ermordet wurden, immer noch Freude empfinden und ein Licht für andere sein können. Der muslimische Vater Dr. Abdul Munim Jitmoud stützte sich gleichermaßen auf diese prophetische Inspiration und konnte dem Mörder seines Sohnes nicht nur vergeben, sondern ihn auch umarmen. Durch Muslime wie diese Menschen erhalten wir einen Einblick in die Schönheit und spirituelle Wirkung des prophetischen Charakters und Vorbilds.
Nach weltlichen Maßstäben führte der Prophet Muhammad ein miserables Leben. Er war verwaist, arm und wurde von seinem eigenen Volk verspottet, verfolgt und unterdrückt. Er ertrug Hunger, Flucht und Kriege und erlebte den Tod in so vielen schmerzvollen Facetten. Dennoch ist er unter Muslimen als der Geliebte Gottes (habibullah) bekannt. Sein moralisches und spirituelles Erbe (sunna) hat bis heute Bestand und inspiriert Millionen von Menschen zu einem guten Leben. Das Vorbild des Propheten Muhammad ist eine endlose heilige Inspiration, um Leben und Tod zu navigieren. Mit den Worten des verstorbenen Imams und muslimischen Seelsorgers Sohaib Sultan, zeigte der Prophet seinen Anhängern nicht nur die Art und Weise sein Leben zu gestalten, sondern auch in Anmut und Würde zu sterben. Meinung
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