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Ferihan Yeşil © privat, Zeichnung: MiG

Rechtsruck bei Jugendlichen

Auf Bestürzung folgt Ursachenforschung

Der Rechtsruck von Jugendlichen ist besorgniserregend. Ansätze, die das Verhalten von Erstwählern erklären, gibt es viele, doch sie vernachlässigen die Bedeutung der Bildungsinstitutionen.

Von Montag, 21.10.2024, 12:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 21.10.2024, 12:26 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Die Ergebnisse der Europawahl erschütterten. Das Wahlverhalten von Erstwählenden in den anschließenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ist nicht weniger besorgniserregend. Bei der Suche nach Erklärungen für den Rechtsruck unter Jugendlichen ist die Rede von den Nachwirkungen der Corona-Pandemie, vom Einfluss sozialer Medien wie Tiktok und vom fehlenden Blick für die Jugend besonders relevanten politischen Themen. Erklärungsansätze wie diese finden sich auch in der neuesten Trendstudie „Jugend in Deutschland 2024“.

Weniger Augenmerk lag in dieser Debatte bisher auf der Verantwortung der Bildungsinstitutionen. Warum sich eine Betrachtung lohnt? Nach den Familien sind Kindergärten und Schulen die wichtigsten Sozialisationsorte. Hier lernen Kinder Wesentliches über sich und ihren Platz in der Gesellschaft. Sie lernen auch, was als „normal“ gilt und wer sich anzupassen hat. Wie also begünstigt die Prägung in Bildungseinrichtungen die Entwicklung rechtsextremer Einstellungen bei herkunftsdeutschen Kindern und Jugendlichen?

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Beginnen wir im Kindergarten. Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass es gute und schlechte Kindergärten gibt. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung spricht gar von einer Zwei-Kita-Gesellschaft. Viele Eltern bemühen sich, Kindergärten zu finden, in denen es wenig Migrant:innenkinder gibt – selbst Menschen mit eigener Migrationsbiografie. Dies hängt damit zusammen, dass in Kindergärten, in denen Eltern keine hohen Ansprüche haben oder diese nicht verkünden können, weil sie entweder sprachlich nicht in der Lage sind oder sich nicht trauen, das Angebot und der Zustand entsprechend schlecht sind. Werden hingegen Probleme direkt angesprochen und Forderungen ausgesprochen, fühlt sich das Personal dazu verpflichtet, einen gewissen Standard zu halten, damit die Eltern zufrieden sind.

Auch ist bereits wissenschaftlich belegt, dass gutverdienende Familien doppelt so häufig einen Kindergartenplatz bekommen wie weniger gutverdienende. Weil Migrant:innen aufgrund unterschiedlicher Faktoren stärker armutsgefährdet sind, haben also auch ihre Kinder weniger Chancen auf einen Kindergartenplatz respektive eine Chance auf einen guten Kindergarten. Die höchsten Armutsgefährdungsquoten in Deutschland hatten 2019 Personen, die selbst oder deren Eltern aus Syrien, Irak, Afghanistan oder Pakistan stammten.

„Taucht einmal eine Figur in einer Aufgabe auf, so ist es nicht selten der Ali, der etwas geklaut hat oder die Hatice, deren Brüder sie ärgern.“

Die Segregation beginnt also schon im Kindergarten und prägt Kinder über ihre gesamte Schulzeit hinweg. Kinder, die bereits in der Frühförderung weniger Unterstützung hatten, besuchen oftmals Grundschulen in Stadtvierteln mit einem hohen Anteil an Migrant:innen und sozioökonomisch benachteiligten Familien. Nicht selten werden Kinder, die oder deren Eltern bzw. Großeltern aus der Türkei oder den oben erwähnten Ländern stammen und zu den besonders armutsgefährdeten Gruppen gehören, zu einer oder mehreren Klassen zusammengefasst. Somit bleiben migrantische ebenso wie herkunftsdeutsche Kinder weitestgehend „unter sich“.

Zusätzlich zur Förderung dieser Art von Segregation wird Schüler:innen (auch heute noch!) verboten, auf dem Schulgelände Türkisch, Arabisch oder Bosnisch zu sprechen. Strukturell wird ein „Unter-sich-Bleiben“ also fast erzwungen, während den Kindern gleichzeitig verboten wird, sich in den Pausen in ihrer Muttersprache zu unterhalten. Ähnliche Verbote gelten für die Verwendung von Jugendsprache, die an ausländische Begriffe angelehnt ist. Erfahrungen an mehreren Schulen in Bayern (Grundlage einiger Beobachtungen dieses Textes) zeigen, dass Sozialarbeitende beispielsweise die Verwendung von Wörtern wie „wallah“, „inschallah“ oder „digga“ aktiv unterbinden.

Die strukturelle Benachteiligung von Migrant:innenkindern wurde in Studien vielfach erfasst und belegt. Diese reicht von der schlechteren Benotung durch Lehrkräfte allein aufgrund migrantischer Namen bis hin zu mangelnder Repräsentation migrantischer Figuren und Themen in Aufgaben, Abbildungen und im Lehrplan generell. Taucht einmal eine Figur in einer Aufgabe auf, so ist es nicht selten der Ali, der etwas geklaut hat oder die Hatice, deren Brüder sie ärgern.

„Dabei könnte Schule als Institution ein Raum der Begegnung sein, ein Raum der Diversitätsschulung.“

Natürlich gehen diese Zustände fehlender Anerkennung und aktiver Abwertung nicht spurlos an Kindern vorbei. Weder an den stigmatisierten Migrant:innenkinder noch an herkunftsdeutschen Schüler:innen. Doch welche Schlussfolgerungen zieht die Gruppe der herkunftsdeutschen Kinder, die sie im Zweifel bis ins Jugend- und Wahlalter prägen? Es gibt legitime und weniger legitime Sprachen, Herkünfte, Menschen. Wir gehören zu den „Guten“ und Leistungsstarken, den „Normalen“. Die anderen müssen sich uns anpassen, sie müssen „normalisiert“ werden. Wenn sie dies nicht tun, werden sie ermahnt. Ihre Unterschiede werden nicht geduldet, sie müssen ihre Sprache und Kultur gefälligst für sich behalten. Und wenn sie schon hier mit uns leben wollen, dann sollte dies abseits von uns in gesonderten Räumen stattfinden.

Was Kinder in Institutionen lernen und wie mit ihnen umgegangen wird, wirkt sich auf ihre Eigen- und Fremdwahrnehmung aus. Die Zustände an deutschen Bildungseinrichtungen fördern das „Othering“, also die Abgrenzung von einer vermeintlich minderwertigen Gruppe der Anderen bzw. Fremden. Dadurch bilden sie den Grundstein für die Ausbildung rassistischer Ressentiments. Nichts anderes macht die AfD, wenn sie durch ihre permanente Abwertung von Vielfalt Ressentiments gegenüber Migrant:innen schürt.

Dabei könnte Schule als Institution ein Raum der Begegnung sein, ein Raum der Diversitätsschulung. Es gibt nicht wenige Einzelpersonen, die mit genau dieser Absicht individuelle Arbeit leisten. Ein Beispiel ist die Lehrerin, die als „Frau Waibel“ auf Instagram sowohl Lehrpersonen als auch Schüler:innen mit ihrem rassismussensiblen Ansatz und ihrem Engagement inspiriert. Hierbei setzt sie z. B. Jugendsprache aus dem türkisch-arabischen Raum kreativ ein, indem sie Sticker mit Beschriftungen wie „inschallah nächste Mal besser“ entwirft und diese auf die Tests ihrer Schüler:innen klebt. Was vermittelt sie hierdurch? Teilhabe. Migrantische Schüler:innen fühlen sich gesehen und erfahren eine Anerkennung ihrer kulturellen Identität. Auch herkunftsdeutsche Schüler:innen erleben dies als Legitimation und ihre migrantischen Mitschüler:innen als gleichermaßen wertgeschätzt.

„Schulen dürfen nicht das fördern, was der AfD den Nährboden bietet.“

Liegt die Verantwortung also bei Lehrkräften und ihrem individuellen Engagement? Noch immer basieren diversitätssensible Schulungen sowohl für angehende als auch bereits ausgebildete Lehrkräfte auf Freiwilligkeit. Lehrpersonen sind – mit El Mafaalani gesprochen – ebenfalls Ergebnisse ihrer eigenen Sozialisation und Möglichkeiten in einem bestehenden, ungleichen System. An das Engagement Einzelner zu appellieren, ist daher ebenso wenig zielführend wie die Schuld bei einzelnen Lehrkräften zu suchen. Vielmehr braucht es Veränderungen auf struktureller Ebene. Als einer von vielen Aspekten gehört dazu auch die bessere und flächendeckende Schulung von Schulleitungen und Lehrkräften.

Wenn aktuell rund 39 Prozent der Schüler:innen eine Migrationsbiografie haben, dann entspricht die Ungleichbehandlung im Bildungssystem nicht mehr den Ansprüchen einer superdiversen Gesellschaft. Wenn wir möchten, dass Jugendliche demokratisch wählen, muss die Segregation zwischen migrantischen und herkunftsdeutschen Kindern abgebaut werden. Schulen dürfen nicht das fördern, was der AfD den Nährboden bietet. Es bedarf einer Reform. Meinung

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