Allein in die Fremde
Vormünder für minderjährige Flüchtlinge gesucht
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge reisen nach einer langen Flucht allein nach Deutschland ein. Wer ist hier ihre Bezugsperson und trifft mit ihnen Entscheidungen, die die Biografie beeinflussen? Jugendämter suchen händeringend nach Vormündern.
Von Dörthe Hein Dienstag, 27.02.2024, 11:11 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 27.02.2024, 11:11 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Mostafa Albatah Alhusni sagt von sich, er sei inzwischen zu Hause in Wolmirstedt. In Kürze feiert er seine Einbürgerung, er ist verheiratet, seine drei Töchter sind hier zur Welt gekommen. Sein syrischer Uni-Abschluss in Betriebswirtschaftslehre ist anerkannt, er absolvierte einen Kurs als Finanzbuchhalter und arbeitet seit 2020 beim Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt. Seit seiner Ankunft 2015 nach der Flucht aus Syrien hat er sich durch die deutsche Bürokratie gekämpft und tut es noch heute – aber nicht nur für sich. Mostafa Albatah Alhusni ist Vormund für seinen Neffen, der vor einem Jahr als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Deutschland kam.
Sachsen-Anhalt sucht Menschen wie den 39-Jährigen, die Verantwortung als Vormund übernehmen für Jugendliche, die ohne Familie nach Deutschland kommen. Menschen, die sich um die Kontakte mit den Behörden kümmern, die im Sinne der Minderjährigen über Schule und Ausbildung entscheiden, aber auch über medizinische Fragen. Seit Anfang des vergangenen Jahres gibt es deutschlandweit ein neues Vormundschaftsrecht. Neben Berufsvormündern von Jugendamt und Vereinen sollen verstärkt Ehrenamtliche gefunden werden.
Vormundschaften seien eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit, sagt Sebastian Rother, Projektleiter bei der Fach- und Servicestelle für die Führung von Pflegschaften und Vormundschaften von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Sachsen-Anhalt. „Es geht um Biografieentscheidungen.“ Schulungen sollen Interessierte darauf vorbereiten, was auf sie zukommt.
Ein Glücksfall
Auch Mostafa Albatah Alhusni war in Magdeburg dabei, zusammen mit Peter Sadler, in dessen Wohnzimmer er heute sitzt. Sadler, der sich einst beim Deutschen Roten Kreuz um die frisch angekommenen Geflüchteten im Jahr 2015 kümmerte und damit auch um Alhusni, steht auch heute noch mit Rat und Tat zur Seite. „Auch wir Deutschen haben teilweise Probleme, das Amtsdeutsch zu verstehen.“
Sebastian Rother nennt Alhusni einen Glücksfall. Er habe es selbst bis zur Einbürgerung geschafft, könne seine Erfahrungen mit den Behörden einbringen. Es handele sich um eine besondere Konstellation, auch dass der Vormund und der Jugendliche unter einem Dach wohnten. Gesucht werde bürgerschaftliches Engagement. Wer in Beziehung zu einem jungen Menschen treten und Verantwortung übernehmen wolle, könne das als Vormund tun. Ein Teilnehmer einer Schulung habe zu seiner Motivation gesagt, ihm sei so viel geschenkt worden im Leben, davon wolle er etwas weitergeben, erinnert sich Rother.
Die Hände gebunden
Alhusnis Neffe, der gerade in der Schule ist, kam im Januar 2023 als 15-Jähriger in Deutschland an, erinnert sich der Vormund. Als Onkel habe er sich gekümmert, Medikamente gekauft, die wegen einer Hauterkrankung nötig gewesen seien. Schnell wurde klar, der Jugendliche braucht einen Vormund. „Bei Schule, Ausländerbehörde – alles, was gesetzlich um Minderjährige drumherum ist, waren ihm die Hände gebunden“, sagt Sadler.
Im November gab es die Anhörung im Familiengericht – das Ergebnis ist eine grüne Karte, die den Onkel als Vormund ausweist. Er berichtet vom langen Warten auf staatliche Leistungen vom Amt für den Unterhalt des Jugendlichen. Fitnessstudio, Handy, Essen – dafür kommt er derzeit auf. Neben seinem Job beim Flüchtlingsrat verdient Alhusni mit einem Minijob Geld dazu.
Große Herausforderung
In Sachsen-Anhalt sind im vergangenen Jahr 774 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge neu registriert worden, so das Sozialministerium in Magdeburg. In der Entwicklung seit 2015 ist das die höchste Zahl. In dem Jahr, in dem besonders viele Geflüchtete Deutschland erreichten, waren es 542, im Folgejahr 2016 knapp 500. Dann sanken die Zahlen in den Bereich zwischen 100 und 200, um 2022 wieder deutlich zu steigen auf damals landesweit 523.
Für die Jugendämter in Sachsen-Anhalt sei das eine große Herausforderung, sagt die Leiterin des Jugendamts Magdeburg, Cornelia Arnold. Es sei immer unklar, wie viele Geflüchtete der Stadt wann zugeteilt würden. „Wir müssen flexibel reagieren.“ In der Landeshauptstadt gebe es um die 150 unbegleitete minderjährige Ausländer. Wenn auch die meisten von sogenannten Amtsvormündern begleitet würden, setze die Stadt auch auf Ehrenamtliche – aktuell seien es 15. Schon während der Welle mit Geflüchteten 2015 seien Freiwillige gesucht worden. Seitdem wurden 67 Vormundschaften ehrenamtlich geführt. „Das sind oft intensivere, persönlichere Beziehungen zwischen Vormund und den Jugendlichen als mit einem Amtsvormund“, schätzt die Jugendamtsleiterin ein. Aktuell laufe die Suche nach Ehrenamtlichen weiter.
Lerne gut Deutsch und bete
Die Verantwortung übernehmen die Vormünder für mehrere Jahre. Im Durchschnitt seien die Jugendlichen etwa 16 Jahre alt, sagt Rother. Er habe auch schon mal einen Vierjährigen gehabt, der mit einem Begleiter gekommen sei, oder 12-, 13-Jährige. Hauptherkunftsländer seien Afghanistan und Syrien, aber inzwischen auch die Ukraine. Ihnen müsse Sicherheit und Orientierung geboten werden.
„Ich bin hinter dir“, das sei sein Grundsatz seinem Neffen gegenüber, sagt Alhusni. Seine Forderung an seinen Neffen sei gewesen: Lerne gut Deutsch und bete. So könne er richtig und falsch unterscheiden.
Wie geht es nun weiter? Onkel und Neffe warten auf die Familienzusammenführung des Jugendlichen. Es gibt drei Brüder und die Eltern. Wie lange das dauere, und wann Alhusni das Sorgerecht und die Vormundschaft wieder abgeben kann, ist offen. Er habe von einem ungefähren Zeitraum von zwei Jahren gelesen, sagt er. Ob das so kommt, ist offen. (dpa/mig) Leitartikel Panorama
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