Papa auf Zeit
Vormundschaft für minderjährige Geflüchtete
Junge unbegleitete Geflüchtete bekommen in Deutschland einen Vormund zugewiesen. Wie ist es, wenn ein fremder Mensch Entscheidungen für einen trifft? Und warum übernimmt man Verantwortung für ein Kind, das nicht das eigene ist? Eine Begegnung in Berlin.
Von Mia Bucher Donnerstag, 16.11.2023, 19:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 16.11.2023, 14:24 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Am Anfang, erzählt Anwarshah Rezaiy, wusste er gar nicht so richtig, was ein Vormund eigentlich macht. Er dachte, das ist jemand, der ihn mal zum Essen einlädt oder ins Kino mitnimmt, sagt er und lacht. Der 23-jährige Afghane sitzt auf dem Sofa seiner kleinen Einzimmerwohnung in Berlin-Hellersdorf. Als 15-Jähriger floh er 2015 allein nach Deutschland und kam im selben Jahr in Berlin an. Weil er ohne seine Eltern unterwegs war, wurde ihm ein ehrenamtlicher Vormund zugewiesen: Ernst Rommeney. Der sitzt an dem kühlen Herbststabend Ende Oktober neben ihm auf der Couch. Sie trinken grünen Tee mit Kardamom aus kleinen gläsernen Tassen – typisch afghanisch erklärt Rezaiy.
„Wir sind viele Wege zusammen gegangen“, sagt der 72-jährige Rommeney. Denn bereits kurz nach ihrem Kennenlernen und dem Beginn der Vormundschaft im Jahr 2016 war klar, dass es um viel mehr als nur Freizeitvergnügen geht. Rommeney musste zahlreiche Entscheidungen für sein Mündel treffen, durchlief mit ihm das Asylverfahren, begleitete ihn bei Arztbesuchen, führte Lehrergespräche und schrieb mit ihm Dutzende Ausbildungsbewerbungen. „Der Vormund wird von allen, so wie jeder andere Erziehungsberechtigte und Eltern auch, einbezogen“, erklärt der Rentner.
Fortbildung zum Vormund
Bevor er die ehrenamtliche Tätigkeit angetreten habe, sei er von der Caritas in Fortbildungen auf seine Rolle als rechtlicher Vormund vorbereitet worden. Er bekam unter anderem Schulungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht und im Kinder- und Jugendrecht. Das sei ihm wichtig gewesen, erklärt Rommeney, der nach seiner Arbeit als Journalist auf der Suche nach einer neuen Aufgabe für den Ruhestand war. „Ich habe mir ehrenamtliche Tätigkeiten ausgesucht, für die es eine Ausbildung gibt.“ Außerdem war klar, dass er gerne mit Kindern und Jugendlichen arbeiten wolle.
In Berlin werden Vormundschaften für unbegleitete minderjährige Geflüchtete vom Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf, durch ein großes Netzwerk von Ehrenamtlichen sowie von drei zivilgesellschaftlichen Vereinen geführt, wie das Amt auf Anfrage mitteilte. Die Caritas ist einer davon und gehört zum „Netzwerk Vormundschaft“, das vom Jugendamt Steglitz-Zehlendorf und der Jugendverwaltung gefördert wird.
Vormünder dringend gesucht
„Wir versuchen, das bestmögliche Match zu finden“, sagt Vera Lanvers vom Caritas Vormundschaftsverein. Das sei derzeit gar nicht so leicht, da es nicht genügend Freiwillige gebe. „Wir suchen dringend Vormünder.“ 40 Ehrenamtliche gibt es demnach momentan, 14 davon führten bereits eine Vormundschaft, die anderen seien kurz davor oder noch in Vorbereitung (Stand 9. Oktober). „Es ist ein Ehrenamt, das sehr viel Verantwortung fordert.“
In Berlin werden derzeit im Schnitt rund 14 unbegleitete minderjährige Geflüchtete pro Tag neu erfasst, wie die Jugendverwaltung auf Anfrage mitteilte. Bis Anfang November wurden dieses Jahr demnach rund 2730 Kinder und Jugendliche von der Behörde in Obhut genommen. Die meisten von ihnen kommen wie Rezaiy aus Afghanistan, gefolgt von Syrien, der Ukraine, der Türkei und Benin.
Das Jugendamt Steglitz Zehlendorf stellt die Amtsvormünder eigenen Angaben zufolge im Auftrag aller Berliner Jugendämter. Laut einer Sprecherin des Bezirksamts führt ein erfahrener Vormund bis zu 80 Vormundschaften. Bei den Caritas-Ehrenamtlichen sind es laut Lanvers meistens nur ein bis zwei Mündel pro Vormund.
Keine Vaterrolle, eine andere Funktion
Rezaiy und Rommeney sahen sich zu Hochzeiten jede Woche. „Ernst war sehr engagiert“, sagt der 23-Jährige. „Er hat sich sehr viel Zeit genommen.“ Der 72-Jährige unterstützte den damaligen Teenager weit über seine Pflichten hinaus. „Man kann einem Jugendlichen in dem Alter nicht mehr viel erzählen oder irgendetwas bestimmen. Das Problem ist eher, herauszubekommen, was er denn wirklich will“, sagt Rommeney. Also meldete er Rezaiy bei einer Theatergruppe an, brachte ihn zum Jugendclub der Evangelischen Kirche, begleitete ihn zum Boxen, zum Fußball, zum Querflötenunterricht und organisierte Praktika. Sie trafen sich zum Deutschlernen, zum Grillen und für Museumsbesuche. Rezaiy verbrachte mehrmals Weihnachten mit Rommeney und seiner Familie. Der 72-Jährige hat zwei Stiefkinder, die Ende 20 sind.
Wie war es für den Rentner, wichtige Entscheidungen für einen Jungen zu treffen, der nicht das eigene Kind ist? „Es ist nicht die Vaterrolle, es hat eine andere Funktion“, erklärt Rommeney. Er würde sich eher als erwachsenen Partner beschreiben. „Man versucht, die eigenen Wünsche auf die Kinder zu übertragen. Bei fremden jungen Leuten funktioniert das so nicht.“ Rezaiy sagt, er sei während des Kennenlernens zunächst ein bisschen ängstlich gewesen und habe nicht gewusst, wie er seinen Vormund einschätzen solle. Das habe sich ganz schnell geändert: “Ich habe ihm vertraut und es war auch irgendwie eine Erleichterung für mich. Ich war immer sicher, dass jemand da ist, wenn etwas nicht klappt oder ich Hilfe brauche.“
Ziele: Selbstständigkeit und Familie
Als Rezaiy in Berlin ankam, hatte er Heimweh. Wegen einer dramatischen Familiengeschichte habe er in Afghanistan um sein Leben fürchten müssen. Um ihn zu schützen, sahen seine Eltern keinen anderen Ausweg, als ihn nach Europa zu schicken. In Berlin wohnte bereits eine Halbschwester, die er aber kaum kannte. Übergangsweise wohnte er zunächst in einem Hostel, dann in einer betreuten Wohngemeinschaft. „Ich war unter Leuten, aber trotzdem war ich allein.“ Über seine Gefühle zu sprechen, fällt ihm schwer. „Nach Hause zu gehen und niemand ist da – das war schon ein bisschen verletzend.“ Ein Tiefpunkt sei der Tod seines Vaters im Jahr 2018 gewesen. Er habe sich nicht mehr verabschieden können.
Trotz der Rückschläge hat Rezaiy in kürzester Zeit einen bemerkenswerten Weg hinter sich gelegt: Er machte in kurzer Zeit einen Hauptschulabschluss, ließ sich bei der Evangelischen Kirche zum Jugendleiter ausbilden, absolvierte zahlreiche Praktika und befindet sich heute im zweiten Ausbildungsjahr zum Elektroniker für Informations- und Systemtechnik. Mittlerweile hat er einen Integrationsaufenthalt und muss keine Abschiebung mehr fürchten. „Mein größtes Ziel ist auf jeden Fall Selbstständigkeit und natürlich eine eigene Familie zu gründen.“
Mit seinem ehemaligen Vormund trifft er sich nur noch ein bis zwei Mal im Jahr. „Ich kann mittlerweile sehr vieles allein machen“, sagt der 23-Jährige. „Aber trotzdem komm ich auch irgendwo an meine Grenzen und dann kennt sich Herr Rommeney besser aus.“ (dpa/mig) Aktuell Panorama
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