Spielsucht
Wenn es wieder kribbelt in den Fingern
Etwa 40 Prozent aller Spielsüchtigen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Ein Blick in die Ursachen zeigt: Es sind vor allem Menschen ohne Arbeit. Ihnen fehlt oft die finanzielle Perspektive und eine Beschäftigung gegen die Langeweile. Memed ist einer von ihnen.
Mittwoch, 17.01.2024, 0:16 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 19.01.2024, 9:30 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Memed saß teilweise mehrere Stunden vor dem Computer. Das lange Sitzen sieht man ihm an, er rückt hin und her, seine Bewegungsabläufe monoton. Maus drücken, warten bis die Karten angezeigt werden, eine Auswahl treffen, wieder warten und zwischendurch das virtuelle Konto aufladen. Manchmal gewinnt er, noch häufiger verliert er aber. Memed gehörte zu der immer größer werdenden Gruppe der Spielsüchtigen in Deutschland, Schätzungen zufolge sind es 500.000, davon haben etwa 40 Prozent einen Migrationshintergrund.
Das verwundert bei einem genauen Blick auf die Ursachen von Spielsucht nicht. Häufig ist es Perspektivlosigkeit, die Menschen – vor allem in jungen Jahren – zum Glücksspiel treibt. Wer keinen Job hat und damit auch keine finanzielle Zukunftsperspektive, ist anfällig für das Glücksspiel. Es erscheint den Menschen häufig als der einzige Ausweg aus der Mittellosigkeit.
Die Zunahme von virtuellen Inhalten hat der Branche einen Boom beschwert. Zu den altbekannten Spielhallen mit den bekannten Münzautomaten sind digitale Räume und virtuelle Wettbüros im Netz hinzugekommen. Dort kann man in Echtzeit Wetten platzieren auf Fußballspiele und andere Sportarten. Wer Glück hat, gewinnt zwischendurch. Doch auch hier gilt die altbekannte Regel: Am Ende gewinnt immer die Bank. Das heißt im Umkehrschluss auch, dass der Spieler früher oder später das Nachsehen hat. Etwas anderes erlauben die Auszahlungsquoten bei Automatenspielen kaum.
Das Spielen im Internet ist relativ jung. Unzählige Anbieter buhlen inzwischen um die Gunst der Spieler. Wie viele andere hat auch Memed im Internet angefangen mit dem Spielen. Er war noch nie in einem Wettbüro und er mag auch die Atmosphäre in den klassischen Spielhallen nicht. Er saß gelangweilt vor dem Computer und las in einem Internet-Forum über seine Leidenschaft: Modellflugzeugbau. Seit er die Schule verlassen hat, sucht er vergeblich nach einem Ausbildungsplatz und hätte eigentlich viel Zeit für sein Hobby, ihm fehlt jedoch das nötige Geld. Deshalb bestaunt er im Internet, was für tolle Flieger andere haben.
Die große Verlockung
Irgendwann erschien plötzlich ein Werbefenster auf seinem Bildschirm. Darin war in bunten Lettern zu lesen, dass er 500 Euro Guthaben geschenkt bekommt, wenn er „spielt“. Die Langeweile und auch das Geldversprechen drangen ihn zur Anmeldung. „Erst nach der Anmeldung bemerkte ich, dass ich die Boni erhalte, wenn ich echtes Geld einzahle. Ich habe mein Taschengeld einbezahlt und es schnell verzockt. Was blieb, war die Lust auf das Weiterspielen“, erklärt Memed. Weil er aber kein Geld hatte, fing er an, es sich zu leihen, bei Freunden und bei seinen Eltern. „Ich hatte das Verlangen, spielen zu müssen. Zum einen ärgerte ich mich über das verlorene Geld, zum anderen verschaffte mir das Spielen mit echtem Geld einen gewissen Kick, ein Entkommen aus meinem tristen Alltag“, erklärt Memed.
Beraterportalen zufolge sind das typische Anzeichen für Spielsucht. Die Betroffenen vernachlässigen ihr Umfeld und haben oft keine Zeit, leiden unter Stimmungsschwankungen, belügen ihr Umfeld, verheimlichen das Spielen. „Ja, genau!“, sagt Memed, der seine Spielsucht ebenfalls lange geheim gehalten hat. Und weil er das Spielen auf Dauer nicht finanzieren konnte, suchte er sich immer neue Anbieter mit Startgeschenken aus, um seine Spiellust zu befriedigen. „Auf vielen Internetseiten gibt es Anbieter, die Boni von weit über 1.000 Euro versprechen“, erklärt er.
Ich konnte widerstehen
Inzwischen sei er aber „clean“, erklärt Memed. Mithilfe eines guten Freundes hat er geschafft, von seiner Spielsucht abzukommen. „Er hat mich über einen Zeitraum von mehreren Wochen kaum mehr aus den Augen gelassen, als ich ihm meine Sucht beichten musste. Ganz weg bin ich davon aber vermutlich noch nicht“, sagt er lächelnd. Letzten habe ich mich wieder dabei erwischt, wie „es wieder gekribbelt hat in den Fingern, wie mein Puls höher schlug“, sagt er und ergänzt: „Ich konnte aber widerstehen, weil ich eine Verabredung hatte und abgelenkt war.“
Sein Freund hat ihm geholfen, sein Hobby preiswert auszuleben. Er hat ihm ein Computerspiel geschenkt. Jetzt fliegt er per Flugzeugsimulation rund um den Globus, um seinem tristen Alltag zu entkommen. Per Headset und Webcam ist er vernetzt mit anderen Spielern rund um den Globus. „Ich bin schon ganz gut drin in der Szene und wir haben feste Treffzeiten. Es gibt viele Communitys und es macht sehr viel Spaß“, erklärt Memed. Seine Freude über seinen neuen Zeitvertreib sieht man ihm an. Er wirkt erleichtert, nicht ständig neues Spielgeld beschaffen zu müssen. (dd) Panorama
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