Ansichten & Aussichten
Mehr als eine Deutschstunde
Ist es Heim- oder Fernweh, wenn Schüler Sehnsucht nach ihrem Haus in der Türkei haben? Und wer entscheidet das? Was Pädagog:innen können müssen, um die postmigrantische Gesellschaft zu unterrichten.
Von Miriam Rosenlehner Mittwoch, 06.12.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 26.03.2024, 13:14 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Vertretungsstunden sind nicht immer schön. Aber manchmal erlebt man Sternstunden. Diesmal vertrete ich in einer 5. Klasse den Deutschunterricht. Eine Kollegin hatte mir die Materialien bereitgelegt, wir lesen einen Text. Draußen dämmert es noch, das Klassenzimmer ist hell erleuchtet und heimelig.
Wer mit kleineren Kindern Texte liest, muss einiges beachten. Um die Lesefähigkeit der Kinder zu stärken, sollen sie sich zuerst ein Bild von dem machen, was nun vermutlich kommt. Deshalb lesen wir die Überschrift „Vom Fernweh der Vögel“ und ich frage: Welche Bilder kommen in deinen Kopf, wenn du die Überschrift liest?
Ratlose Gesichter sehen mich an, deshalb ist klar: Da wurde nicht jedes Wort verstanden. Ich tippe auf das Wort „Fernweh“. Weiß jemand, was das bedeutet? Ein Schüler hat eine Idee, aber sie stimmt nicht mit der landläufigen Bedeutung überein.
„Sie sprechen meistens besser Deutsch als wir Lehrkräfte Englisch. Die Erstsprachen der Kinder verstehen wir dagegen in der Regel gar nicht. „
Die meisten der Kinder haben migrantische Hintergründe, sprechen zuhause eine Erstsprache, in der sie hier in der Schule nicht lernen. Deutsch ist ihre Zweitsprache, manchmal auch die Dritt- oder Viertsprache. Ich muss daran denken, wie ich mit 15 zum ersten Mal damit konfrontiert war, mich in einer Umgebung nur mit einer Fremdsprache verständigen zu können. Ich für meinen Teil wurde damals gelobt, wie schnell ich die neue Sprache (Englisch) lernte und wie gut ich mich nach kurzer Zeit schon verständlich machen konnte. Die Kinder vor mir erleben dagegen meist etwas anderes: Sie werden von dieser Gesellschaft als defizitär angesehen, so, als könnten sie nicht richtig sprechen. Schüler:innen mit „schlechten Deutschkenntnissen“ werden gefördert, aber es fühlt sich immer an, als sollten sie lernen, endlich „richtig“ zu sein. Bei unserem Eifer, die „Sprachdefizite“ auszuräumen, vergessen wir zu oft, dass die Kinder uns etwas voraushaben. Sie sprechen meistens besser Deutsch als wir Lehrkräfte Englisch. Die Erstsprachen der Kinder verstehen wir dagegen in der Regel gar nicht.
Was also ist Fernweh? Ich erkläre: Fernweh ist wie Heimweh, nur umgekehrt. Wenn du weit weg bist, und Sehnsucht nach zuhause hast, dann nennen wir das Heimweh. Wenn du zuhause bist und hast Sehnsucht nach der großen weiten Welt, dann nennen wir das Fernweh.
In der hinteren Reihe meldet sich Pınar und fragt: Wir haben ein Haus in der Türkei. Wenn ich danach Sehnsucht habe, ist das dann Fernweh oder Heimweh?
„Die weiß-deutsche Lehrkraft tat sich mit dem Gedanken schwer, dass man keine Verbindung zu und keine eindeutigen Antworten auf diese Identitätskonstruktionen haben kann.“
Was für eine kluge Frage! Das Mädchen sieht mich an und mir wird klar, dass wir hier nicht mehr über die korrekte Bedeutung von deutschen Vokabeln verhandeln. Ich kann genau sehen, dass die Antwort, die ich ihr gebe, Gewicht in ihrem Kinderleben entwickeln wird. Ich stehe vor dieser Klasse als Vertreterin für diese Gesellschaft. Ich bin die mächtigste Person im Raum, ich mache die Regeln. Das Mädchen vor mir wird dem, was ich sage, Gewicht beimessen. Weil sie mir vertraut. Weil sie der Autorität von Lehrkräften vertraut. Weil ihre Eltern ihr sagen: Mach‘, was die Lehrerin dir sagt. Weil kleine Menschen großen Menschen oft vertrauen, weil ihr Überleben von Erwachsenen abhängt.
Einmal habe ich von einer Lehrkraft gehört, dass sie einen Schüler fragte: Fühlst du dich als Deutscher oder als Türke? Der Befragte tat sich mit der Antwort schwer, aber sie fragte gnadenlos weiter, bis er sich zwischen den angebotenen Alternativen entschieden hatte. Ich wollte von ihr wissen: Wonach hast du da eigentlich gefragt? Was wolltest du wissen? Das verstand nun sie wieder nicht. Naja, was ist denn das, Deutsche:r sein? Wieso muss man sich entscheiden? Welche Bedeutung hat es, Türke zu sein?
Die weiß-deutsche Lehrkraft tat sich mit dem Gedanken schwer, dass man keine Verbindung zu und keine eindeutigen Antworten auf diese Identitätskonstruktionen haben kann. Dass man es gewohnt sein kann, sich zu fragen, was es in dieser Gesellschaft bedeutet, nicht deutsch zu sein, oder nicht weiß. Wer man ist, wenn all diese festzementierten Kategorien nicht passen. Wenn diese Kategorien zu eng sind oder merkwürdig geschnitten im Verhältnis dazu, was man erlebt. Identität funktioniert anders in der postmigrantischen Gesellschaft.
Daran muss ich denken, während Pınar mich mit großen Augen vertrauensvoll ansieht. Fernweh oder Heimweh, das ist eine kluge Frage, Pınar. Ich glaube, das musst du selbst entscheiden. Wie fühlt es sich für dich an? Es kann ja auch sein, dass du zwei Zuhauses hast. Oder es ist ganz anders, als ich mir das gerade vorstelle. Was denkst du?
Pınar überlegt, dann sagt sie: Vielleicht ist es mehr Fernweh.
„Die deutsche Sprache sieht die postmigrantische Gesellschaft noch nicht vor. Es gibt keinen Plural von „Zuhause“. Sollte es aber.“
Zu diesem Gespräch ist erstens zu sagen: Wehe, jemand sagt nochmal, dass „die“ sich nicht integrieren wollen. Weil 5.-Klässler schon wissen, dass sie Teil dieser Gesellschaft sein wollen, wenn man ihnen die Wahl lässt. Erschreckend ist dagegen, dass 5.-Klässler bei einer Autoritätsperson nachfragen müssen, ob sie Teil dieser Gesellschaft sind, weil wir ihnen dieses Signal offensichtlich nicht senden. Und zweitens: Die deutsche Sprache sieht die postmigrantische Gesellschaft noch nicht vor. Es gibt keinen Plural von „Zuhause“. Sollte es aber.
Respekt und die Erlaubnis, zu sein, wer man ist. Darum ging es in Wahrheit bei dem Gespräch mit Pınar. Andere Schüler:innen der Klasse haben diesem Gespräch zugehört und die Erlaubnis bekommen, ihre Zugehörigkeitserlebnisse selbst einzuordnen. Wenn wir unsere Lehrkräfte und Kindergärtner:innen in ihren Ausbildungen darauf vorbereiten würden, könnten sie die Identitätsentwicklung von Kindern in der postmigrantischen Gesellschaft unterstützen, statt ihnen per Default Steine in den Weg zu legen.
Kinder orientieren sich daran, was ihnen die Umgebung über sie vermittelt. „Identität ist die Geschichte, die wir über uns selbst erzählen“ schreibt Alice Hasters in ihrem neuen Buch „Identitätskrise“. Das hat mich fasziniert, weil es die komplexe sozialwissenschaftliche Forschung zum Thema einfach ausdrückt. Alles stimmt daran, denn die Geschichte, die wir über uns selbst erzählen, ist immer noch nur eine Geschichte. Wir betonen, was uns wichtig erscheint und lassen weg, was nicht dazu passt.
Wer bin ich? Wie bin ich? Wenn wir Kindern mit Migrationsgeschichte in so machtvollen Situationen nicht die Wahl lassen, wenn wir ihnen nicht erklären, dass sie sein können, was sich für sie richtig anfühlt, ist es nicht so verwunderlich, dass sich viele nicht zugehörig fühlen. Das wird ihnen dann noch sehr häufig vorgeworfen werden.
„Ist es eine Anomalie, dass manche Menschen mehr als eine Heimat haben? Und ist eine Heimat immer ein ganzes Land? Warum?“
Die Idee, dass jeder eine eindeutige nationale Identität annehmen muss, ist widersinnig, aber weit verbreitet. Was soll das überhaupt sein, deutsch? Denn wer hier mit Kartoffeln argumentiert, wird schnell von richtigen Deutschen schief angesehen. Und ist es wahr, dass Menschen nur eine Heimat haben? Und ist es eine Anomalie, dass manche Menschen mehr als eine Heimat haben? Und ist eine Heimat immer ein ganzes Land? Warum das, wenn wir doch nicht alle Menschen darin kennen und sowohl Sprache als auch Kultur sich zwischen zwei Dörfern schon unterscheiden? Denken Sie dabei mal nicht an Dörfer auf einem anderen Kontinent, sondern ganz einfach an die zwei nächstliegenden Dörfer in Ihrer Umgebung. Keine 100 Kilometer von hier ist ein Ort, dessen Dialekt ich nicht mehr verstehe, von den komplizierten katholischen Riten in so mancher Dorfkirche mal ganz zu schweigen.
Und können wir uns, wenn wir Migrationsgeschichte haben, überhaupt deutsch definieren, während wir immer wieder befragt werden, „was“ wir sind? Deutsch, aber nur, wenn wir die Erlaubnis dazu erhalten. Deutsch, aber nur, solange wir tun, was „echte Deutsche“ für deutsch halten. Deutsch, aber nur, wenn wir die richtige Religion haben. Richtig Deutschsein, das ist nichts, was man lernen kann. Jederzeit fühlen sich nämlich richtige Deutsche berufen, einem zu erklären, dass man es falsch macht.
„Wer in einer Welt aufgewachsen ist, die Eindeutigkeit (über)schätzt, ist nicht ausgebildet, die postmigrantische Gesellschaft zu unterrichten.“
Pädagog:innen sollten bereits in ihrer Ausbildung lernen, mit diesen Fragen kompetent umzugehen, damit die Pınars in unseren Kindergärten und Schulen keine Webfehler und unverhandelbare Brüche in ihre Geschichten über sich selbst einbauen, nur weil wir es ihnen gesagt haben.
Denn es ist für Menschen ohne Migrationserfahrung keine Selbstverständlichkeit, diese Kompetenzen zu entwickeln. Wer in einer Welt aufgewachsen ist, die Eindeutigkeit (über)schätzt, ist nicht ausgebildet, die postmigrantische Gesellschaft zu unterrichten. Weil solche Pädagog:innen sich selbst niemals dieselben Fragen gestellt haben wie Pınar, sind sie da noch nicht auf dem aktuellen Stand. Auf dem Stand einer Gesellschaft, die sich selbst Fragen stellen muss, damit sie flexibel genug wird, in der Welt von Morgen überhaupt noch ernstgenommen zu werden. Und Morgen, das ist, wenn die Sonne aufgegangen ist. Es dämmert bereits. Meinung
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Sehr geehrte Frau Rosenlehner,
auch in diesem Artikel zeigen Sie dringliche Fragen für alle in Deutschland lebenden Menschen und Alle, die zukünftig wünschen hier zu leben auf.
Ich teile die von Ihnen aufgezeigten Probleme und Lösungsvorschläge, auf einer emotionalen Verständnisebene, in welcher meine Moral und eigenen Erfahrungen mit dieser sogenannten „Gesellschaft“ kollidierten.
Dennoch möchte ich kritische Anmerkungen machen, welche Sie bitte nicht zum Anlass nehmen möchten, eine defensive Haltung einzunehmen, sondern bestenfalls Ihre Sicht um meine erweitert, zukünftig mitdenken.
„Vom Fernweh der Vögel“ Welche Bilder kommen in deinen Kopf, wenn du die Überschrift liest?
Klare Antwort: Schon bevor ich Ihren Artikel las, wusste ich, dass es um Geschmonze über Zugvögel gehen muss, ohne dieses Buch zu kennen.
Ich wusste, dass der Titel korrekt „Vom Heimweh der Vögel“ heißen müsste, denn Fernweh ist definiert, als Sehnsucht zu einem oder mehreren Orten, jenseits der Zuhäuser! ;)
Zugvögel brüten hier oder da und überwintern wo es wärmer ist.
Klassisches Erwachsenen-Wissen, was mir sofort sagte, dass dieses Buch doof ist!
Auch Sie hätten das wissen müssen!
Dennoch haben Sie mit Ihren Fragen Ihre Schüler:innen mit falschen Voraussetzungen die Frage nach deren eigenem Zuhause gestellt!? Sie hätten das Buch oder Titel kritisch mitdenken müssen!
Sie haben eben nicht Ihren Schüler:innen von vorneherein einen freien Rahmen gewährt, sondern ließen sich diese mit dem Heimat-Schmonzetten-Bild dieser vermutlich deutschen Literatur auseinandersetzen, indem Sie das „Vogel-Fernweh“ auf die jungen Menschen übertrugen und zwar in der von vorneherein falsch benutzten Begriffsdefinition „Fernweh“ dieses Buches!
Völlig richtig ist Ihre Beobachtung, dass Ihre „weiß-deutsche“ Kollegin dies ebenfalls penetrant tat. Ich bin voll bei Ihnen in der Kritik ihres Verhaltens.
Kann es aber sein, dass Sie getriggert vom Verhalten dieser Kollegin und der Parallele zum Buch, die Kinder nötigen wollten, sich mit diesem von Ihnen plausibel beobachteten Entscheidungszwang zu konfrontieren?
Ich bin gar nicht bei Ihnen beim Begriff „weiß-deutsch“! Dieser Begriff wird keine Zukunft haben, wenn wir uns von Rassismus wegbewegen möchten. Bitte mich nicht als Rassismus gegen „Weiße“ sprechend falschverstehen!
Die Benutzung dieses Begriffs wäre allerdings als „weiß-Deutscher“ rassismusverdächtig. Möchten wir nicht eine in ihrer Deutung gleiche Sprache sprechen?
Ich verstehe selbstverständlich Ihre Provokation als vermutlich nötiges Mittel, um aufzurütteln! Bitte keine Defensive
Bitte überdenken Sie den von mir präferierten Begriff „Deutsche mit Nazierbe“.
Nun mal zur sogenannten „Gesellschaft“ Deutschlands:
Ich kann Ihnen nur zustimmen bei Strukturen und Prägung von staatlichen und privatgellschaftlichen Institutionen, welche als mächtig wahrgenommen werden und durch Gesetze oder Vollmachten mächtig sind.
Dennoch zeichnet sich diese Gesellschaft auch unter nur Deutschen mit Nazierbe durch Pluralität aus.
Ihre Behauptungen, dass Menschen ohne Migrationserfahrung zwei „Zuhäuser“ nicht verstehen können, dass die von Ihnen behauptete „homogene Gesellschaft“ Menschen ohne eindeutig bekannte Zugehörigkeit, zukünftig Identitätsfragen vorwerfen wird, dass ein „Gesinnungszwang“ herscht, entscheidet oft nur der Blickwinkel.
Fragen mich 18-jährige Auszubildende, antworte ich entgegen gesetzt zu Ihren behaupteten gesellschaftlichen Dogmen!
Ich hoffe inständig, dass sich hier nicht wieder ein Apparat des Faschismus etablieren kann.
Sie erinnern vielleicht meine Kommentare unter meinem Klarnamen zu „ungewolltem Rassismus“!
Es gibt in der deutschen Gesellschaft ganz entschiedene Kräfte dagegen, auch wenn alle von Ihnen besprochenen Probleme unzufrieden ungelöst sind…
Nun noch einige Vorschläge für den von Ihnen zurecht angesprochenen, fehlenden Plural der sogenannten Präpositionskette „Zuhause“.
Ganz intuitiv würde ich sprechen: „Ich habe habe zwei Zuhause“, „Ich bin an Ort A und Ort B zuhause oder zuhaus“.
Wäre Deklination zwingend, dann würde ich sagen: „Ort A und Ort B sind meine Zuhäuser“, wegen des Plurals Haus – Häuser.
Oder: „Ich bin im Ort A und Ort B zuhäuse/zuhäus“.
„Ich habe zwei Zuhauses“, wie von Ihnen vorgeschlagen, gefällt mir nicht.
Und bevor Sie lange über meine Identität nachdenken können, geht mein Kommentar noch weiter in eine Richtung der regionalen Identität, welche Sie nicht berücksichtigt haben…
Kulturell bedingt, erleben Kinder Deutscher mit Nazierbe sehr häufig, dass sich der Wohnort der Mutter, der 2. Mutter, des Vaters, des 2. Vaters (verwirrt?) unterscheiden und wie Sie schrieben, die Kultur und gegebenenfalls Dialekt eines oder beider „Zuhäuser“ nicht verstehen.
Kann es sein, dass auch Deutsche mit Nazierbe in der Lage sind, dieses Dillema zwischen Zuhause und Zuhause von Menschen ohne Nazierbe verstehen?
Auch ohne oben beschriebene Familienkonstellation – einfach durch Bildung und Empathie?
Passt das in Ihre Argumemtation auch noch hinein?