KI küsst Bildung
Superheldenkraft
Menschen, die in Sprachkursen oder am Arbeitsplatz Deutsch lernen, haben jetzt Superheldenkräfte. Ihre Kollegen und Vorgesetzten auch. Wir wissen es nur noch nicht, weil wir in Deutschland gerne ein bisschen hinterm Mond leben.
Von Christiane Carstensen Donnerstag, 02.11.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 02.11.2023, 13:32 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Wenn wir über den Einsatz Künstlicher Intelligenz fürs Deutschlernen diskutieren, denken wir uns den Deutschunterricht meistens genauso, wie wir ihn kennen. Wir denken ihn zwar besser, aber nicht wirklich anders. Und das ist ein Fehler.
Eine erste Raketenzündung war die Einführung von Chat GPT 3,5 im November 2022.
Bis dahin musste ich als Deutschlehrerin immer Annahmen treffen, wenn ich gute Lernangebote entwickeln wollte. Ich traf Annahmen, wer am ersten Kurstag in meinem Kurs sitzt und was diese Menschen wohl von mir bräuchten. Verlage trafen Annahmen und versuchten ihre Lehrwerke so zu gestalten, dass in einem durchschnittlichen Kurs für jeden was dabei wäre. Testanbieter trafen Annahmen, welches Deutsch man am Ende eines Kurses mit Blick auf eine Beschäftigung in Deutschland beherrschen müsste. Und auch digitale Sprachkursanbieter konfigurierten Lernpfade, die sie für sinnvoll erachteten und denen die Lernenden mit mehr oder weniger Freiheitsgraden folgen sollten.
Mit Hilfe von Chat GPT & Co. kann ich diese Annahmen nun ohne viel Aufwand skalieren und verfeinern. Wenn ich einen neuen Kurs habe, muss ich nicht mehr lange überlegen, welcher Text am besten für die Gesamtheit des Kurses passt, sondern ich erstelle innerhalb weniger Sekunden verschiedene Versionen des Textes in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen. In den Berufssprachkursen, die sprachlich auf eine Arbeitstätigkeit in Deutschland vorbereiten, können wir Arbeitsplätze mit Hilfe von KI sehr viel realistischer darstellen und die Teilnehmenden sprachlich gezielter darauf vorbereiten. Der unendliche und zudem mehrsprachige Korpus der großen Large Language Models wie Chat GPT & Co. erlaubt es uns, zu jedem möglichen beruflichen Szenario den passenden Wortschatz oder authentisch klingende Dialoge zu generieren – von Arbeitsmeetings in der Automobilzuliefererindustrie bis hin zur Anleitung eines Pflegepraktikanten beim Verbandwechsel.
„Und plötzlich haben die Lernenden Superheldenkräfte bekommen.“
Aber auch wenn wir als Lehrkräfte unsere Angebote nun sehr viel näher am individuellen Bedarf der Lernenden ausrichten können, stehen wir als Lehrkräfte mit unseren Annahmen von passendem Unterricht doch nach wie vor im Zentrum. WIR formulieren die Lernziele, WIR entwickeln das Material, WIR stellen die Fragen. Nicht die Lernenden.
Vor einigen Wochen ist die zweite Stufe der Rakete gezündet. Relativ unbemerkt von der Bildungsbranche hat OpenAI mit Chat GPT 4V eine Version gelauncht, die bild- und sprachfähig ist.
Und plötzlich haben die Lernenden Superheldenkräfte bekommen.
Ich selbst poliere gerade mit der Chat GPT 4V-App auf meinem Handy mein Englisch auf und schnacke jeden Tag mehrmals mit einem fiktiven Engländer. Das eine Mal ist er mein Nachbar und wir plaudern im Garten über den Anbau von Gemüse. Das andere Mal ist er mein neuer Mitarbeiter und ich lerne, wie ich ein gutes Onboarding auf Englisch einleiten kann. Ich lerne jedes Mal dazu und manchmal frage ich ihn nach unserem Schnack, wo meine Fehler lagen. Chat GPT 4V gibt mir dann immer ein sehr höfliches und konstruktives Feedback. Ich kann Chat GPT 4V direkt beauftragen: „Sei mein Konversationspartner und sprich mit mir“ in jeder Sprache, die ich wünsche. Zu jedem Zeitpunkt, zu jedem Thema, auf jedem Sprachniveau, in jeder Rolle und so oft ich will. Und wenn es dir aus den Ohren rauskommt; das ist egal, denn du bist eine Maschine. Und wenn ich die dämlichsten Fehler mache und mir das peinlich ist; das ist egal, denn du bist eine Maschine.
Oder ich bin am Arbeitsplatz und sehe einen mir fremden Aufbau elektronischer Geräte. Selbst als Muttersprachlerin habe ich nicht die leiseste Ahnung, was das ist. Ich lade Chat GPT 4V ein Foto davon hoch und erfahre, dass es sich um ein Oszilloskop, eine Lötkolbenstation und Lötzinn handelt, die auf einer antistatischen Matte liegen. Und wenn ich Deutsch lerne, kann ich gleich noch nach Beispielsätzen zu den Tätigkeiten fragen und diese einüben.
Wenn Sie als deutschlernender Arbeitnehmer bislang gestresst waren, weil Sie niemanden zum Üben hatten und auch keinen Sprachkurs, der Sie auf ihre Arbeit vorbereitet hat, niemanden, der Ihnen ein professionelles Feedback zu ihrer Sprache gibt – dann ist das jetzt, als ob Sie plötzlich fliegen können. Superheldenkräfte!
„Sie müssen nicht mehr den Umweg über andere gehen und irgendjemanden finden, der Ihnen hilft.“
Sie müssen nicht mehr den Umweg über andere gehen und irgendjemanden finden, der Ihnen hilft oder ahnt, was sie gerade sagen oder lernen möchten, oder jemanden suchen, Ihnen eine professionelle Rückmeldung gibt – Sie machen es einfach selbst. Superheldenkräfte!
Und doch ist Sprache lernen in erster Linie ein sozialer und emotionaler Prozess und nicht alles kann ich der KI überlassen. Sie brauchen für gelingende Kommunikation im Unternehmen reale Menschen, die mit Ihnen interagieren, die Resonanzräume erschaffen, in denen sie sich bewegen können. Die gute Nachricht: Menschen, die Deutsch lernen, sind im Betrieb überwiegend von Menschen umgeben, die unterstützen und ihren Teil zum Gelingen beitragen möchten.
Und doch: Wenn diese Beziehungen von repetitiven Aufgaben des Sprachenlernens entlastet werden können, wie hilfreich ist das für alle Beteiligten.
Zur Wahrheit von Superheldenkräften gehört auch: „Aus großer Kraft folgt große Verantwortung“. Diese Worte gab Spiderman-Autor Stan Lee seinem Superhelden 1962 mit auf den Weg. Für den Einsatz von KI im Unternehmen ist nach wie vor die Achillesverse der Datenschutz. Mittlerweile gibt es zwar Lösungen, aber insgesamt sind die meisten Akteure noch zu zögerlich unterwegs und unterschätzen, dass der Aufwand dafür den Mehrwert gelingender Kommunikation wert ist.
Aktuell wird der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Bildung meist noch im Hochschulkontext und nicht auf dem Shopfloor diskutiert. Trotz Fachkräftemangel denkt man beim Thema „Lernen mit Künstlicher Intelligenz“ automatisch an die Chefetagen oder Hochschulen und nicht an die Werkshalle, die Demenzstation oder das Handwerk.
„Es wird Zeit, dass Führungskräfte und Arbeitnehmervertretungen die Chancen von KI für die Beschäftigten sehen.“
Es gibt weitaus mehr Instrumente als nur KI, um Kommunikation und Sprache am Arbeitsplatz zu unterstützen. Dennoch wird es Zeit, dass Führungskräfte und Arbeitnehmervertretungen die Chancen von KI für die Beschäftigten sehen. Sonst müssen die Kollegen doch noch länger auf ihre Superheldenkräfte warten.
P.S.: Wenn wir schon bei den Analogien sind: Superhelden brauchen Zeit, um ihre Superheldenkräfte kennenzulernen und beherrschen zu können. Das mache ich nicht nebenbei in einer 40h-Woche. Die meisten Superhelden konnten noch nicht sofort verantwortungsvoll und kompetent mit ihren Superheldenkräften umgehen. Nichts, was einem einfach so zufällt. Und da kommen dann doch wieder wir Lehrkräfte ins Spiel. Wir brauchen für die Lernbegleitung – auf eine ganz andere Art – auch Superkräfte. Aber das ist eine andere Geschichte.
Meinung
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