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Christiane Carstensen © privat, Zeichnung: MiG

KI küsst Bildung

Die Glühbirne ist keine Weiterentwicklung der Kerze

Ist es schon Transformation, wenn Ausbilder und Dozenten der beruflichen Qualifizierung sich zu Künstlicher Intelligenz fortbilden? Nein, denn das Revolutionäre der Technologie liegt ganz woanders.

Von Donnerstag, 05.10.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 05.10.2023, 16:13 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Keine Frage, natürlich müssen sich Lehrende mit Künstlicher Intelligenz auseinandersetzen. Ich selbst berate und schule mit meiner Kollegin Unternehmen und Lehrende in der beruflichen und sprachlichen Erwachsenenbildung zu KI und sehe, wie sie ihre Bildungsangebote mit Hilfe von KI auf ein ganz anderes Level heben können, aber auch, dass sie lernen müssen, mit den Risiken der Technik umzugehen. Außerdem ist KI in der Arbeitswelt der Lernenden längst angekommen und das muss ich als Lehrkraft, als Ausbilder oder Anleiter begleiten. Doch ohne eine klare strategische Ausrichtung und den Mut, Neues zu denken, gleicht dies lediglich der „Weiterentwicklung von Kerzen“.

Steile These!? Und was ist dann genau das „elektrische Licht“?

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Die Gutachter zur Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestags haben im April dieses Jahres die eigentliche revolutionäre Kraft von KI-Systemen auf den Punkt gebracht: “Da die KI-Systeme in natürlicher Sprache angesprochen werden können, könnten sie als leicht bedienbare Schnittstelle für andere Computersysteme genutzt werden.“

„In allem ist zukünftig Sprache drin. In jeder Anwendung, in jeder Maschine, in jedem Roboter, in jeder Software.“

Das bedeutet: In allem ist zukünftig Sprache drin. In jeder Anwendung, in jeder Maschine, in jedem Roboter, in jeder Software. Keine Programmiersprache, sondern ganz normale Sprache. Alltagssprache, wie Sie und ich sie sprechen.

Das stellt die Art und Weise, wie wir Lernen in den letzten Jahrzehnten – leider recht unverändert – organisiert haben, fundamental in Frage!

Auch wenn seit den 1990er Jahren von Kompetenzorientierung gesprochen wird, wird Lernen – besonders in der Berufsqualifizierung Erwachsener – mehrheitlich als Wissenserwerb verstanden und als inputorientiertes Dozieren organisiert.

Aber welche Halbwertszeit hat Wissen noch? Wissen, das ich in Zukunft nicht mehr auf Vorrat erwerbe, weil ich es mir unmittelbar am Arbeitsplatz von der KI holen und durch die Anwendung festigen und verfeinern kann. Wissen, das ich mir genau dann hole, wenn ich es brauche. Auf genau dem Schwierigkeitsgrad, den ich verstehe. Genau für den Kontext, für den ich es brauche. Genau in der Sprache, die ich spreche. Genau in dem Medium, mit dem ich gut lerne: Text, Audio, Video, Augmented Reality, Virtual Reality …

„Ich kann Wissen zukünftig immer einfacher situativ und adaptiv abrufen und individuell skalieren.“

Ich kann Wissen zukünftig immer einfacher situativ und adaptiv abrufen und individuell skalieren. Wie ich das machen kann? Ganz einfach: Ich muss nur noch sagen, was ich brauche.

Aber genau da liegt der Hase im Pfeffer. Um sagen zu können, was ich brauche, muss ich wissen, was ich weiß und was ich kann, was ich nicht weiß und was ich nicht kann, woher ich komme und wohin ich will. Je selbstgesteuerter das Lernen wird, desto mehr Begleitung brauche ich dabei, es einordnen und in mein berufliches Handeln einfließen lassen zu können. Wir sehen das an den vielen firmeneigenen Lernplattformen, deren Online-Kurse und Lernvideos wie Blei in den Regalen liegen.

„Brauche ich in Zukunft wirklich Fachlehrer, die mir ihr Fachwissen vermitteln, oder nicht eher Lernbegleiter?“

Die Bedeutung von Fachwissen steht offensichtlich auf dem Prüfstand und damit verbunden auch unser Verständnis von Lernen und Lehren. Brauche ich in Zukunft wirklich Fachlehrer, die mir ihr Fachwissen vermitteln, oder nicht eher Lernbegleiter? Kann ich als Bildungsanbieter weiterhin mit tradierten Kursen am Markt bestehen oder muss ich nicht ganz andere Angebote kuratieren?

Wann sprachliche und berufliche Bildung sich verändern wird? Ob sie sich bereits verändert?

Das hängt stark davon ab, wohin wir blicken. In der staatlich geförderten Deutschförderung, deren bürokratische Ausrichtung eher auf Standardisierung als auf Entwicklung ausgerichtet ist? Da wahrscheinlich noch nicht. In der Arbeitsmarktqualifizierung? Schon eher. In den Ausbildungsabteilungen der internationalen Konzerne? Mit Sicherheit.

„Die Veränderung wird nicht über Nacht geschehen, und es gilt gewaltige Hürden zu überwinden.“

Eine Chance ist die Erkenntnis, dass die Aufgaben so groß sind, dass man sie nicht mehr alleine bewältigen kann. Wir stellen in unserer Beratungstätigkeit fest, dass sich der Wunsch nach Kooperation und Kollaboration immer mehr durchsetzt. Die meisten von uns sind selber noch in einem Bildungssystem erzogen worden, in dem man Schwächere brauchte, um als erfolgreich zu gelten. Das Erste, wonach meine Eltern fragten, wenn ich eine Note nach Hause brachte, war der Klassenspiegel. Unser aktuelles Bildungssystem – geprägt von Fachkräftemangel, Standardisierung und fehlenden Ressourcen – muss sich an diese neuen Anforderungen erst noch anpassen. Die Veränderung wird nicht über Nacht geschehen, und es gilt gewaltige Hürden zu überwinden.

Veränderungen erfordern viel Geduld und Zeit. Wir sollten darauf achten, nicht das Falsche zu optimieren, sondern könnten mehr Zeit für den Wandel gewinnen, indem wir das Falsche, das Unwichtige, das Überflüssige einfach hinter uns lassen.

Und es gibt auch Anzeichen für Hoffnung. Erste empirische Studien zeigen, dass KI-Technologien das Potenzial haben, den sogenannten Matthäus-Effekt, bei dem die Ressourcenstarken am meisten profitieren, umzudrehen. KI als Technologie für Bildungschancen?!

Es ist also nicht nur ein technologischer Zwang, der uns antreibt, sondern auch die Chance, Bildung in einer digitalen Ära neu zu definieren. Es braucht nicht viel, nur besser. Meinung

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