Geschäft mit der Not

Schleusung Geflüchteter wird immer skrupelloser

Die Einreise von Geflüchteten nach Deutschland nahm zuletzt stark zu. Die deutsch-tschechische Grenze bei Breitenau gilt als Hotspot. Hier endet die sogenannte Balkan-Route. Jeden Tag werden Geflüchtete von skrupellosen Schleusern in dieser Gegend abgesetzt.

Von Donnerstag, 07.09.2023, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 07.09.2023, 11:43 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Die Flucht nach Europa endet für vier junge Leute auf dem Rastplatz Am Heideholz an der Autobahn 17. Kurz hinter der deutsch-tschechischen Grenze in Richtung Dresden hat eine Streife der Bundespolizei den BMW mit französischem Kennzeichen entdeckt. Nun wird der Wagen auf den Rastplatz geleitet. Eine Kontrolle der Papiere weckt bei den Beamten Verdacht. Die Insassen haben türkische Pässe und Aufenthaltstitel für Dänemark, einen Führerschein hat der Fahrer nicht. Das Dokument für Dänemark ist gefälscht. Später gibt einer der Reisenden zu Protokoll, es in Serbien erworben zu haben. Auch das Auto wurde ihnen von einem Schleuser dort zugeteilt.

Es ist nicht der klassische Fall einer Schleusung, den die Beamten der Bundespolizeiinspektion Berggießhübel an diesem Tag zu bearbeiten haben. Normalerweise setzen Schleuser ihre „Kunden“ unweit der Autobahn oder manchmal auch direkt an der Piste ab und flüchten dann selbst – zurück nach Tschechien. Die jungen Türken – zwei Frauen und zwei Männer – sind auf eigene Faust gekommen. Nun stellen sie ein Schutzersuchen. Drei von ihnen kommen in eine Erstaufnahmeeinrichtung, einer hat den Status eines unbegleiteten Minderjährigen und wird nun vom Jugendamt Heidenau betreut.

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„Schleusungen sind ein ganz schmutziges Geschäft. Hier geht es nicht um Menschen. Hier geht es nur ums Geldverdienen – so viel wie möglich und soll schnell wie möglich. Welche Zustände auf der Ladefläche herrschen, interessiert den Schleuser nicht“, sagt Steffen Ehrlich, Sprecher der Bundespolizeiinspektion Berggießhübel. Es sei aber auch ein sehr lukratives Geschäft. Pro Person müssten Geflüchtete für die letzte Etappe nach Deutschland hohe dreistellige oder sogar vierstellige Beträge aufbringen. Manchmal koste eine Flucht vom Herkunftsland bis zum Ziel sogar 10.000 Euro und mehr. Das große Geld kassierten freilich nur die Hintermänner.

Laut Ehrlich werden die Fahrer in Abhängigkeit von der Anzahl der Geflüchteten entlohnt. Deshalb sei das Interesse groß, so viele wie möglich auf einen Schlag zu transportieren. „Erst in der vergangenen Woche fanden wir zehn Menschen in einem Pkw.“ Eine Schleuserorganisation arbeite sehr strukturiert und sei oft europaweit vernetzt. „Es gibt den Organisator, den Finanzer und den Logistiker. Der erste sorgt sich etwa um Safe-Häuser, um die ‚Ware‘ Mensch zwischenzulagern. Der Finanzer kümmert sich um die Geldströme, der Logistiker hat die ganze Mobilität zu leisten. Es gibt klare Hierarchien und Strukturen.“

„Das prallt an uns nicht ab“

Dabei habe sich die Zahlungsweise im Vergleich zur Flüchtlingsbewegung 2015 und 2016 verändert. Damals hätten Schleuser in der Regel das gesamte Geld vor der Schleusung kassiert, heute werde die letzte Tranche erst nach erfolgreicher Ankunft in Deutschland überwiesen, sagt der Beamte. „Deshalb machen die Fahrer als Beweisstück Videos, wenn Flüchtlinge die Fahrzeuge verlassen.“ Mit anderen Videos wiederum würden Schleuser für ihre Dienste in sozialen Medien werben und „Reisen“ nach Deutschland anbieten. Ein auf TikTok verbreiteter Clip sei sogar im nicht weit von Berggießhübel entfernten Altenberg gedreht worden. „Die Schleuser agieren als kriminelle Reisebüros.“

Obwohl Ehrlich in diesen Tagen als Sprecher der Bundespolizei praktisch jeden Tag Pressemitteilungen über Schleusungen verschicken muss, geht ihm das Geschehen immer wieder nah. „Das prallt an uns nicht ab. Wir sind auch Menschen – in Uniform.“ Manchmal nehme man einen Fall gedanklich mit nach Hause und spreche im Familienkreis darüber. „Wer die Tür eines Transporters öffnet, schaut in die Gesichter vieler Flüchtlinge auf engstem Raum. Dann denkt man: Das ist doch völlig irre. Viele sind erschöpft und wirken apathisch. Sie reißen während der Fahrt die Gummidichtung aus den Türen, um mehr Luft zu bekommen.“

„Vom Bauchgefühl her sind es mehr Flüchtlinge als 2015. Und auch die Umstände sind anders. Die Schleuser werden immer skrupelloser, die Schleusungen gefährlicher“, sagt Polizeioberkommissarin Jana Kletzsch, die an diesem Tag mit ihrem Kollegen Klaus Hohmann auf Streife ist. Damals hätten sich die Schleuser meist ergeben, wenn man sie auf frischer Tat gestellt habe. Jetzt flüchteten sie in hohem Tempo und gefährdeten das Leben der Insassen. Erst im Juli überlebte eine Frau einen Unfall in einem Schleuserfahrzug nicht. Sieben weitere Insassen kamen schwer verletzt ins Krankenhaus. Mitunter sind Bundespolizisten in solchen Fällen als Ersthelfer gefragt.

„Froh, wenn alle noch am Leben sind“

Für Jana Kletzsch ist der schlimmste Moment, wenn sie nach einer Verfolgung die Türen des Fahrzeuges öffnet. In einem Transporter sind manchmal 20 Leute eingepfercht. „Sie stehen dort über Stunden in ihren Ausdünstungen, ihnen fehlt Sauerstoff, sie können nicht auf Toilette. Die Notdurft muss in Flaschen verrichtet werden. Man ist froh, wenn alle noch am Leben sind.“ Gerade bei den gegenwärtigen Temperaturen sei das unverantwortlich.

Kletzsch räumt ein, dass die Arbeit manchmal frustrierend ist, weil die Zahl der Geflüchteten weiter steigt. Dabei könnten ihre Kollegen nur einen Bruchteil der Schleuser dingfest machen. Doch dann gebe es auch die vielen kleinen Zeichen von Dankbarkeit – etwa wenn nach langer Fahrt völlig dehydrierten Migranten einen Becher Wasser erhalten. „Momentan fallen jede Menge Überstunden an. Wir arbeiten an der Belastungsgrenze“, sagt Ehrlich. Die Reviere würden untereinander aushelfen, die Motivation seit trotz der hohen Belastung noch immer groß. Außerdem würden die Bundespolizisten am derzeitigen Hotspot Breitenau von Kollegen aus anderen Bundesländern unterstützt.

Aktuell sind es auch Kollegen aus Bayreuth, Duderstadt und Hünfeld (Bayern). „Man hat nicht mehr das Gefühl der Machtlosigkeit“, sagt Kletzsch. Man wolle man an den Schleusern dranbleiben, auch wenn sie mit hoher Geschwindigkeit fliehen. Eine andere Wahl habe man nicht. Dennoch weiß die Oberkommissarin, dass ihr Job einem Kampf gegen Windmühlen gleicht. Denn die Schleuser haben viele Tricks auf Lager, passen ihre Taktik den Gegebenheiten an. In der Regel sondierten Aufklärer als Vorhut das Terrain. Manchmal werde eine Schleusung als Ablenkung inszeniert, um nachfolgende Transporte ohne Probleme über die Grenze zu bringen.

Schleuserfahrer zunehmend skrupelloser

„Der Scout-Fahrer fährt voran. Wenn die erste Schleusung durch ist, wissen die Schlepper, wir haben alle Hände voll zu tun. Dann kommt nach einer halben Stunde der nächste Transporter“, berichtet Jana Kletzsch. Auch wenn die Kollegen Unfallstellen sichern müssten, folgten gezielt Schleuserfahrzeuge. Die meisten Flüchtlinge, die momentan im Umfeld der Autobahn 17 aufgegriffen werden, stammen aus Syrien, viele auch aus der Türkei. Anders als früher kämen die Schleuser heute oft aus der Ukraine, der Türkei und Syrien. Derzeit sitzen etwa 60 Schleuser in Untersuchungshaft, die von Beamten der Bundespolizeiinspektion Berggießhübel gestellt wurden.

Dass Schlepper in Haft kommen, ist nicht zuletzt Bundespolizisten wie Doreen Hauswald zu verdanken. Wenn sie auf Arbeit gehe, fühle sie sich häufig wie im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. „Man entwickelt einen Wühlinstinkt und freut sich, wenn man einen Fall lösen kann“, sagt die Polizeihauptmeisterin, die in späteren Strafverfahren gegen Schleuser dann als Zeugin aussagt. Freilich seien die Schleuser im Fahrzeug nur die Spitze des Eisberges. „Das ist wie bei einer Hydra. Wenn man ihr den Kopf abschlägt, wachsen zwei neue nach.“ Die Schleuserringe seien nach dem Schneeballsystem organisiert, die Fahrer nur ein kleines Rad im Getriebe.

Die Bundespolizeidirektion Pirna hat in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen von Januar bis Ende Juli 13.479 unerlaubte Einreisen festgestellt. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es 5.775, im gesamten Jahr 20.550. „Internationale und nationale Meldungen zeigen, dass die Schleuserfahrer zunehmend skrupelloser werden, um sich im Falle einer Polizeikontrolle der Strafverfolgung zu entziehen“, teilt die Behörde mit. Mit einer rücksichtslosen Fahrweise würden nicht nur die Insassen gefährdet, sondern auch unbeteiligte Verkehrsteilnehmer und Polizisten. Schleuser verursachten regelmäßig Unfälle und nähmen dabei Verletzungen oder den Tod der Geschleusten billigend in Kauf.

Ruf nach temporären Grenzkontrollen

In Sachsen wird derzeit der Ruf nach temporären Grenzkontrollen – so wie an der Grenze zwischen Österreich und Bayern – stärker. Auch in Breitenau habe man an zwei Tagen mal zu Schwerpunktzeiten „Licht gemacht“, wie es Ehrlich ausdrückt. Da waren alle Übergänge im Bereich der Bundespolizeiinspektion besetzt, die Fahrzeuge mussten die Grenze im Schritttempo passieren. „Wir wollten endlich mal Druck aus den Schleusungen nehmen“, sagt Ehrlich. Doch die Schleuser hätten sich schnell einen anderen Weg gesucht, was die Kollegen benachbarter Inspektionen in Ebersbach und Chemnitz rasch gespürt hätten.

Kletzsch und ihre Kollege Hohmann parken ihren Streifenwagen kurz hinter der deutsch-tschechischen Grenze in einer Ausfahrt, die nur von Versorgungsfahrzeugen genutzt werden darf. Der Wagen steht im rechten Winkel zur Fahrbahn und kann von den Verkehrsteilnehmern erst spät entdeckt werden. Nur wenige Sekunden haben die Beamten Zeit, ein verdächtiges Fahrzeug zu identifizieren – etwa Transporter, bei denen die Scheiben von innen mit schwarzer Farbe besprüht sind, oder die wegen einer großen Last „durchhängen“. Dann kommt der Streifenwagen aus der Deckung hervor, überholt das potenzielle Schleuserfahrzeug und forderte es zur Kontrolle auf den Rastplatz.

Nicht immer gelingt ein Treffer. Als Jana Kletzsch und ihr Kollege einen offensichtlich schwer beladenen Audi A6 Kombi mit rumänischem Kennzeichen kontrollieren, gibt es schon bald Entwarnung. Der Fahrer kehrt mit seiner Familie aus dem Heimaturlaub in seinen Wohnort Stade zurück. Im Kofferraum hat er säckeweise Kartoffeln und Gemüse vom heimischen Bauernhof an Bord. Die seien nun mal besser als die im Supermarkt, sagt der Mann. (dpa/mig) Leitartikel Panorama

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