Filmfestspiele von Venedig
Krisen der Gegenwart: Ungleichheit, Rassismus, Ausgrenzung
Ungleichheit, Rassismus und Ausgrenzung sind einmal mehr die Themen des Filmfestivals von Venedig - verschiedene Perspektiven, Schicksale von Geflüchteten, Töne der Identitätsdebatten. Bei den Zuschauerzahlen verzeichnet die „Mostra“ wenige Tage vor Abschluss eine positive Bilanz.
Von Barbara Schweizerhof Donnerstag, 07.09.2023, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 15.01.2024, 17:01 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Nach dem ausführlichen Blick in die Vergangenheit anhand von Biopics über berühmte Leute – Leonard Bernstein, Enzo Ferrari, Priscilla Presley – ist das Filmfestival von Venedig doch noch bei den Krisen der Gegenwart angekommen. Gleich zwei Filme nehmen sich des Themas der Flüchtenden an, und einer versucht in einer Mischung aus Essay und Biopic den großen theoretischen Wurf zu Diskriminierung und Rassismus zu liefern.
Der Favorit dieser der brennenden Aktualität gewidmeten Filme ist bislang Agnieszka Hollands „Green Border“. Die 74-jährige polnische Regieveteranin zeichnet darin ein um Nuancen und Vielschichtigkeit bemühtes Bild der Zustände an der polnisch-belarussischen Grenze.
„Green Border“ zeigt die Seite der Flüchtenden
Dreierlei Perspektiven bestimmen ihren Film: Da ist die Seite der Flüchtenden, die zuerst noch optimistisch mit dem Flugzeug in Belarussland ankommen, um dann unter zunehmend unmenschlichen Bedingungen nächtens über die Grenze nach Polen geschleust werden, von wo sie allzu gewaltbereite polnische Grenzsoldaten wieder zurück nach Belarussland drängen.
Das Hin und Her wird schnell zum Martyrium. In Parallelschnitt wechselt Holland zum Blickwinkel der polnischen Grenzsoldaten, denen eingebläut wird, dass die Flüchtenden „Waffen“ seien, die vom belarussischen Präsidenten Lukaschenko in seinem Krieg gegen Westeuropa eingesetzt werden.
Zwischen den Extremen
Zwischen diesen Extremen schaltet der Film die Perspektive der „Aktivisten“, die in partisanenhaften Aktionen versuchen, den im Wald gestrandeten Flüchtenden zu helfen. Zusammen ergeben diese drei Perspektiven einen Tanz der Verzweiflung und Ausweglosigkeit – der bei der Premiere viel Zustimmung und Applaus erntete.
Große Chancen für eine Auszeichnung bei dem am Samstag endenden Festival kann sich Holland nicht nur wegen der Gewichtigkeit ihres gewählten Themas ausrechnen, sondern vor allem wegen der Menschlichkeit, mit der sie alle ihre Figuren behandelt.
„Me Captain“ zeigt Schicksal der Flüchtenden
Der italienische Regisseur Matteo Garrone macht in seinem Film indes die Reduktion der Perspektive zur Methode. Sein „Me Captain“ fokussiert sich auf zwei 16-Jährige in Dakar, Senegal, die gegen den Willen ihrer Eltern beschließen, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Die ersten Szenen zeigen Seydou (Seydou Sarr) und Moussa (Moustapha Fall) noch als normale Teenager der Gegenwart mit Liebe zu Rap und TikTok, eine Unschuld, die sie unterwegs naturgemäß schnell verlieren.
Auch Garrones Film schildert das Schicksal der Flüchtenden als Martyrium, bei dem die Schwächsten auf der Strecke bleiben. „Me Captain“ fesselt mit seinen beiden jungen dynamischen Darstellern, aber das Drehbuch reduziert sie leider gen Ende doch wieder ganz auf ihren Opferstatus. Aber vielleicht ist es auch genau das, was Garrone zeigen will: Wie zwei lebensfrohe, vielfach interessierte Teenager jeder Hoffnung auf Anerkennung ihrer Menschlichkeit beraubt werden.
Rassismus, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit in „Selma“
Ava DuVernay („Selma“) geht das Thema Rassismus, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit in „Origin“ einmal ganz anders an. Ihr Film ist eine Adaption des Sachbuchs „Kaste. Die Ursprünge unseres Unbehagens“, in dem die afroamerikanische Autorin Isabel Wilkerson eine übergreifende Theorie gegen systemische Ungleichheit und Ausgrenzung versucht.
Statt mit den Mitteln des Dokumentarfilms die durchaus umstrittenen Thesen per „Talking Heads“ darzulegen, inszeniert DuVernay die Schauspielerin Aunjanue Ellis-Taylor als Autorin, die durch eine Reihe von persönlichen Krisen hindurch zu den Überlegungen ihres Buchs findet. Es ist eine kühne Mischung aus Spielfilm- und Essay-Elementen, die DuVernay hier zusammenmontiert. Viele Szenen befinden sich haarscharf an der Grenze zum Kreativ-Kitsch, etwa wenn die Autorin den Schlusssatz ihres Werks auf dem flauschigen Teppich ihres Schlafzimmers in den Computer eintippt, umgeben von aufgeschlagenen Büchern ihrer Forschung.
„Origin“ – Ton der Identitätsdebatte
Sehr gut funktioniert „Origin“ als Porträt einer die Diskurse der Gegenwart bestimmenden Sprecherhaltung, die die eigene Betroffenheit an den Anfang jeder Überlegung setzt. Der Film trifft den emotionalen Ton der Identitätsdebatten genau und liefert streitbare Denkanstöße.
Die ersten Bilanzen dieser 80. Filmfestspiele von Venedig fallen unterdessen rundum positiv aus. Zuschauer- und Akkreditiertenzahlen sind weiter gestiegen, trotz eines Mangels an Hollywood-Stars, die wegen des Schauspielerstreiks nicht anreisen konnten. Entgegen allen Klagen über strukturelle Umbrüche in der Branche scheint das Interesse am Kino als solchem größer denn je. (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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