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Infotafel in Rostock informiert über das rassistische Pogrom in Lichtenhagen © Kien Nghi Ha

Ein kalter Fall 2/3

Institutioneller Rassismus im Kontext des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen

Institutioneller Rassismus im Kontext des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen: Eine Analyse der verschlungenen Ebenen des Rassismus von politischer Instrumentalisierung, Medienbilder bis hin zur kommunalen Verantwortungslosigkeit. Ein Blick auf eine dunkle Phase der deutschen Geschichte.

Von Mittwoch, 23.08.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 22.08.2023, 10:46 Uhr Lesedauer: 16 Minuten  |  

Info: Dieser Text ist der zweite Teil eines Dreiteilers. Der erste Teil kann hier abgerufen werden. Der dritte Teil erscheint in diesem Magazin am 24.8.2023.

Die verschiedenen, aber ineinandergreifenden Ebenen des institutionalisierten Rassismus mit ihren unterschiedlichen Akteur:innen lassen sich in diesem Fall wie folgt skizzieren.

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1) Deutsche Einheit, ostdeutsche Sozialkrise und Asylabschaffungsdebatte

Im zeithistorischen Kontext spielte der deutsche Einheitstaumel und die ihm begleitende nationalistische Welle eine tragenden Rolle. Statt den versprochenen „blühenden Landschaften“ (Bundeskanzler Kohl)1 wurde das nationale Projekt durch gesellschaftliche Verwerfungen konterkariert und gleichzeitig politisch zugespitzt.2 So stieg in der zunehmenden Sozialkrise in der unmittelbaren Transformationsphase die Arbeitslosenquote im Westen von 6,2 % (1990) sukzessiv auf 9,0 % (1994). In Ostdeutschland, wo 1990 mit 10,2 % bereits eine deutlich ausgeprägtere Problematik vorlag, wuchs dieser Wert im gleichen Zeitraum rasant auf 15,7 %.3 In Rostock lag diese Quote im Juni 1992 bei 15,0 %.4 Die regierenden Parteien konnten keine wirkliche Lösung für die sich ausbreitende Massenarbeitslosigkeit und Verarmung anbieten. Um die eigene Hilfslosigkeit zu vertuschen, die zunehmenden Proteste zu befrieden, Verantwortung von sich zu weisen und somit die eigene politische Machtbasis zu sichern, boten rechte Parteien den Weißen Verlierer:innen der Einheit rassistisch diskriminierte Migrant:innen und Geflüchtete als Sündenböcke für die Misere an.

2) Politische Akteure und staatliche Verantwortungsträger:innen

„Gerade die Attacken auf das Grundrecht auf Asyl erwiesen sich als Innovationsquelle rassistischer Diskurse, die trotz der damit zum Ausdruck kommenden Infragestellung der Menschenwürde gesellschaftlich weitgehend akzeptiert waren. Diese Diskurs- und Politikverschiebung eröffnete neue Spielräume hin zum Extremismus der Mitte.“

Die Hyperbolisierung rassistisch kodierter Kampfbegriffe und Feindbilder („Überfremdung“, „Asylbetrug“, „Scheinasylant“, „massenhafter Asylmissbrauch“, „Sozialschmarotzer“ etc.) wurde in dieser Umbruchszeit im ungeahnten Ausmaß intensiviert und ausgedehnt. Ulrich Herbert, einer der führenden deutschen Zeithistoriker resümiert ernüchternd: „Daraus entwickelte sich zwischen 1990 und 1993 eine der schärfsten, polemischsten und folgenreichsten innenpolitischen Auseinandersetzungen der deutschen Nachkriegsgeschichte.“5 Gerade die Attacken auf das Grundrecht auf Asyl erwiesen sich als Innovationsquelle rassistischer Diskurse, die trotz der damit zum Ausdruck kommenden Infragestellung der Menschenwürde gesellschaftlich weitgehend akzeptiert waren. Diese Diskurs- und Politikverschiebung eröffnete neue Spielräume hin zum Extremismus der Mitte.6 Gleichzeitig befeuerte jede tolerierte Grenzüberschreitung des politischen Establishments rechtsextreme Kräfte und verlieh ihren Forderungen demokratische Legitimität. Die verschärfte Ausgrenzung gesellschaftlich bereits marginalisierter Minderheiten fungierte hier als ideologische Verlustkompensation für Weiße Deutsche. Die damit einhergehende Anrufung rassistischer Hierarchisierungen dient der gesellschaftlichen Stabilisierung, so dass deutsche Einheitsverlierer:innen mit Nationalstolz symbolisch aufgewertet, einer exklusiven völkischen Identität emotional entschädigt und politisch mit dem nationalen Projekt versöhnt werden. Zu diesem Zweck wurden die seit Ende der 1970er Jahre geschürte Moralpanik gegen die gestiegene Zahl von Asylsuchenden verstärkt. Gerade in Wahlkampfzeiten wurden rechtspopulistische Angriffe auf das Asylgrundrecht massiv verschärft sowie ein rigideres Ausländerrecht gefordert.7 Nachdem der christdemokratische Generalsekretär Volker Rühe im September 1991 eine bundesweite Kampagne aller CDU-Parteigliederungen zur Skandalisierung des „Asylmissbrauches“ gestartet hatte, warnte Bundeskanzler Kohl im Oktober 1992 auf dem CDU-Sonderparteitag diesbezüglich vor dem drohenden „Staatsnotstand“. Der Rechtsruck im politischen Mainstream umfasste auch die sozialdemokratische Volkspartei8 und führte in der Folgezeit zu großen Wahlerfolgen für Parteien am rechten Rand, da unzufriedene Wähler:innen zunehmend auf rechtsextreme Originale setzten.9 Der bundespolitische Diskurs lud auch die soziale Atmosphäre in Rostock negativ auf10 und schuf gesellschaftliche und ideologische Rahmenbedingungen, die das Pogrom möglich machten. Sogar während des laufenden Pogroms und auch danach nutzten Bundes-, Landes- und Kommunalpolitiker:innen die rassistische Gewalt um das Asylgrundrecht auszuhebeln und politische Verantwortung von sich zuweisen.11 Diese Bemühungen wurden durch den am 6. Dezember 1992 vereinbarten „Asylkompromiss“ zwischen den Volksparteien belohnt, der dieses Grundrecht durch Verfassungsänderung fundamental einschränkte. Faktisch lässt sich feststellen, dass das Pogrom politisch instrumentalisiert wurde und ein lang gehegtes Großprojekt der Rechten zum Abbau zivilisatorischer Errungenschaften maßgeblich zum gesellschaftlichen Durchbruch verhalf.

3) Rassistische Medienbilder

„Das kann nicht wirklich verwundern, da die deutschen Medien als Institution seit Jahrzehnten ein strukturelles Rassismusproblem haben.“

Dieser Anti-Asyldiskurs wurde maßgeblich, aber nicht ausschließlich von Medien des Axel Springer-Konzerns flankiert. Konservative Medien-Flaggschiffe wie Die Welt, FAZ und das Massenblatt BILD sprangen für diese Kampagne in die Bresche12 und betrieben politisches Agenda Setting. Im Laufe der Zeit zogen andere Massen- und Leitmedien nach, so dass dieser journalistischer Trend sich in Kooperation mit einflussreichen wie interessierten politischen Stichwortgeber:innen in der eigenen Echokammer eigendynamisch verstärkte.13 Das kann nicht wirklich verwundern, da die deutschen Medien als Institution seit Jahrzehnten ein strukturelles Rassismusproblem haben.14 Im Gegensatz zum Selbstbild als vierte Gewalt der Demokratie, die kritische Aufklärung und sachliche Informierung betreibt, ist die Mehrheit der Berichterstattung über Zuwanderung, Flucht und „Ausländer“ in vielen Studien übereinstimmend als stereotypisierend, rassifizierend und negativ fokussiert analysiert worden, die bis heute mit graduellen Änderungen anhält.15 Laut Forschungsgruppe Wahlen dominierte das Thema „Asyl/Ausländer“ von Juni 1991 bis Juli 1993 mit Spitzenwerten von ca. 80 % als vermeintlich wichtigstes Problem die Bundespolitik – weit vor der deutschen Einheit und der Arbeitslosigkeit. Die Leserschaft der BILD wollte zu 98 % (09/1991) das Asylrecht einschränken; andere Umfragen zu dieser Zeit ergaben eine Mehrheit von 55 % in der Bevölkerung.16 In diesem Zeitraum wurden nicht nur in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, sondern auch im Fernsehen, Radio und elektronischen Medien eine Flut von Berichten, Reportagen, Interviews, Gesprächen, Kommentaren, Bildern, Grafiken, Karikaturen und Filmen verschiedenster Art produziert, die die Aufnahme von Asylsuchenden regelmäßig einseitig problematisierten und Migrierte als Unzugehörige rassifizierte.17

Ein eindrückliches Beispiel wie Leitmedien an rechtsextreme Bilder anknüpfen, lieferte DER SPIEGEL in der Coverstory „Flüchtlinge – Aussiedler – Asylanten: Ansturm der Armen (09/1991). Dabei greift die Redaktion nicht nur die Begrifflichkeiten und Bildersprache des Wahlplakats „Das Boot ist voll! Schluss mit Asylbetrug“ (06/1991) der rechtsextremen ‚Republikaner‘ auf.18 Vielmehr transportiert sie nahezu ungeschminkt die damit verbundene politische Nachricht und macht sich diese Botschaft durch die fehlende kritische Distanzierung zu eigen. Durch die Metapher der Masseninvasion findet sogar eine Radikalisierung statt, die Menschen wie eine Ameisenplage darstellt. Auch das rechtsextreme Motto „Das Boot ist voll!“ wurde als kollektive Notmetaphorik mit impliziter Täter-Opfer-Umkehrung zu einem geflügelten Wort. In der Kontroverse zur Einschränkung des Asylrechts wurde mit diesem Bild die bedrohte ‚nationale Schicksalsgemeinschaft‘ konstruiert und gleichzeitig beschworen. Die vorwiegend negative journalistische Berichterstattung war nicht nur in diesem Fall durch selektives Gate Keeping (Einseitigkeit), Agenda Setting (Themenfixierung) und Framing (problematische Setzungen, Kontexte, Sprache und Perspektive) geprägt. Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) hat die negativierende, entindividualisierende und entmenschlichende Verobjektivierung von Geflüchteten in der bildgewaltigen Sprache des Asyldiskurses akribisch seziert. Indem Asylsuchende in naturalisierenden Katastrophenszenarien als Fluten, Wellen, Ströme, Schwemmen und Massen erscheinen, werden sie anknüpfend an tradierte kolonialrassistische Bilder als gefährliche Bedrohung konstruiert. Da Asylbewerber:innen nicht als schützenswerte „Flüchtlinge“,19 sondern in Analogie zum Spekulanten und Simulanten nun als „Asylanten“ oder gar als betrügerische „Scheinasylanten“ kriminalisiert wurden, verdienen sie keine Sympathien oder Hilfe, sondern müssen vielmehr „abgewehrt“, d.h. bekämpft werden. Indem mediale und politische Routinen, Schlagwörter wie „Asylmissbrauch“, „Sozialbetrug“, „Ausländerkriminalität“ durch omnipräsente Wiederholung prägten, wurden nicht nur rassistische, sondern auch anti-ziganistische Klischees reaktiviert und verstärkt. Auf diese Weise wurden ‚harte Maßnahmen‘ des deutschen Staates als überlebensnotwendige Abwehr rationalisiert und legitimiert. Diese Konstruktionen beflügelten Überfremdungsängste und untermauerten Polemiken gegen Einwanderung und „Multikulti“.20

Die lokale Wahrnehmung und rassistischen Auseinandersetzung um die Zentrale Aufnahmestelle (ZAST) in Lichtenhagen wurden im Vorfeld durch überregionale Kontroversen überlagert und geframt:21 „In der Tat war die Zeit vor den Ausschreitungen von einer tendenziösen und bisweilen rassistischen Berichterstattung in den lokalen und überregionalen Medien begleitet.“22 Auch nach dem Rostocker Pogrom waren die medialen Reaktionen doppeldeutig und mehrheitlich weit von einer kritischen Selbstreflexion entfernt: Neben Abscheu waren vor allem halbherzige Distanzierungen, moralische Relativierungen und Schuldumkehrthesen in vielen Medien wahrnehmbar, die nun noch entschlossener im Gleichklang mit konservativen und rechtsextremen Stimmen das „Einfallstor Asyl“ als Gefahrenquelle und Ursache ausmachten.23

Politik und Medien müssen sich als Institutionen mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit ihre Kampagnen die rassistischen Gewaltexzesse in den 1990er Jahre begünstigt und mitverursacht haben. Laut der Polizeistatistik „Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) – rechts“ wurden 1990 noch 128 rechte Gewalttaten erfasst. Diese Zahl hatte sich 1991 mit 1.483 mehr als verzehnfacht und erreichte 1992 mit 2.584 ihren bisherigen Höchststand. Eine ähnlich dramatische Entwicklung war auch bei rechten Straftaten zwischen 1990 mit 1.380 und 1993 mit 10.561 Fällen auszumachen. Im Unterschied zur polizeilich erfassten rechten Gewalt stiegen die rechten Straftaten bis 2016 tendenziell immer weiter an, da sie zum großen Teil Propagandadelikte umfassen. Obwohl die Kriterien der Statistik 2001 teilweise verändert wurden und Vergleiche Einschränkungen unterliegen, lässt sich zumindest in der Unterkategorie „rechte Gewalttaten“ sagen, dass diese bis 1995 auf etwa 800 Fälle jährlich absanken und sich auf diesem hohen Niveau bis zum nächsten rechten Gewaltexzess 2015/16 mit kleinen Schwankungen einpendelten. Zwischen 60 bis 80 % der seit 2001 erfassten rechten Hasskriminalität wird von der Polizei als „fremdenfeindlich“ bzw. „rassistisch“ eingestuft.24

Der SPIEGEL berichtet in seiner Titelstory zu den „Krawallen“ in Rostock-Lichtenhagen: „Nach einer Untersuchung des Berliner Instituts für Sozialwissenschaftliche Studien wollen 85 Prozent der Ostdeutschen keine Türken mehr ins Land lassen. 82 Prozent hegen Aversionen gegen Afrikaner oder Asiaten, rund 60 Prozent lehnen Osteuropäer ab.“25

Auch hier zeigt sich wieder, dass die unterschiedlichen Formen des Rassismus miteinander sind und verschiedene Communities trotz aller Unterschiede auch gemeinsame Erfahrungen miteinander teilen. In Bezug auf Rostock-Lichtenhagen ist wichtig daran zu erinnern, dass sowohl anti-vietnamesische als auch anti-ziganistische Gewalt nicht nur in den 1990er Jahren im ostdeutschen Alltag etwa in Form von rassistischen Beleidigungen und Überfällen sehr präsent war.26 Unter anderem wurden am 15. März 1992 der 18-jährige Dragomir Christinel aus Rumänen in einem Asylwohnheim in Saal (MV) und am 24. April 1992 Nguyễn Văn Tú in Berlin-Marzahn von Rechtsextremisten ermordet.

4) Kommunale Politik, Verwaltung und Sicherheitsbehörden

„Trotz konkreter Hinweise auf rechtsextreme Drohungen […], entwickelten die Behörden weder auf Kommunal- noch auf Landesebene Sicherheitskonzepte oder trafen Vorbereitungen.“

Die 1990 eröffnete ZAST in Rostock-Lichtenhagen verfügte über eine maximale Aufnahmekapazität für 300 Personen. Schon lange vor dem Pogrom war die dramatische Überbelegung als dauerhaftes Problem den zuständigen Verwaltungen bekannt. Bereits im Sommer 1991 kritisierte ein Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) die Lebensbedingungen in der ZAST als unhaltbar. Auch nach dringenden Warnungen des Gesundheitsamtes im Juni 1992 blieben kommunale Politik und Verwaltung weitgehend untätig, um auf kommunaler Ebene ein Asylstopp durch Überlastung zu erzwingen.27 Dabei war den politisch Verantwortlichen vor Ort schon frühzeitig klar, welche Folgen die weitere Eskalation der unvertretbaren Zustände in der ZAST haben könnte. Rostocks Oberbürgermeister Kilimann (SPD) schrieb am 26.07.1991 an den MV-Innenminister Diederich (CDU): „Schwerste Übergriffe bis hin zu Tötungen sind nicht mehr auszuschließen“.28 Rostocks Innensenator Peter Magdanz (SPD) warnte im Juli 1992 davor, „dass es kracht“.29 Trotz konkreter Hinweise auf rechtsextreme Drohungen gegen die ZAST und Informationen über gewaltbereite Mobilisierungen der NPD-nahen Initiative „Rostock bleibt deutsch“ und der DVU gesteuerten „Bürgerinitiative Lichtenhagen“, die in den Tagen vor dem Pogrom von Lokalmedien aufgegriffen wurden, entwickelten die Behörden weder auf Kommunal- noch auf Landesebene Sicherheitskonzepte oder trafen Vorbereitungen. Fast alle polizeilichen Führungskräfte waren am Pogromwochenende im Heimaturlaub im Westen. Diese Sorglosigkeit teilten sie mit Rostocks Oberbürgermeister Kilimann, der seinen Urlaub nur kurz unterbrach, um ihn dann noch während des laufenden Pogroms fortzusetzen. Das Versagen von Politik und Sicherheitsorganen ist offensichtlich und eklatant:30 Die ZAST und das Sonnenblumenhaus waren zu keinem Zeitpunkt während des Pogroms ausreichend geschützt. Besonders schockierend war der Abzug der letzten Polizeikräfte am Abend des 24.08.1992, so dass das Sonnenblumenhaus mit mehr als 100 vietnamesische Bewohner:innen, einem ZDF-Fernsehteam, dem Rostocker Ausländerbeauftragen Wolfgang Richter sowie linken Aktivist:innen etwa 1,5 Std. ungehindert gebrandschatzt werden konnte. Nur mit knapper Not konnten die Eingeschlossenen über eine mühevoll entsperrte Brandschutztür der tödlichen Rauchvergiftung entkommen. Bis heute ist ungeklärt, ob behördliche Überforderung, Unfähigkeit und Inkompetenz bzw. eine fahrlässige, politisch tolerierte oder gar gewollte Zuspitzung der Konflikte um Aufnahmestopp für die ZAST (kommunal) und Asylrechtsänderung (bundespolitisch) für das multiple behördliche Nicht-Handeln mitverantwortlich sind. Denkbar ist auch eine Mischung dieser Faktoren. Auffällig ist, dass die Polizei trotz Personalmangel am 23.08.1992 Zeit, Kapazitäten und Priorität (er-)fand, etwa 60 linke Demonstrierende festzunehmen, die ihre Solidarität mit den angegriffenen Roma und Vietnames:innen zeigten.31 Auch die großräumige Behinderung und Unterdrückung der Solidaritätsdemonstration „Stoppt die Pogrome“ am 29.08.1992 mit kurzfristig mobilisierten 3.000 Polizist:innen zeigt eindrucksvoll, was bei einem entsprechenden politischen Willen alles möglich ist.32 Daher muss die für einen demokratischen Rechtsstaat ungeheuerliche These endlich schonungslos untersucht werden: „Rostock-Lichtenhagen sollte als Fanal fungieren. Geplant war eine kontrollierte Eskalation des Volkszorns mit dem Ziel, die SPD zum Einlenken in der Asylfrage zu zwingen“.33

Info: Dieser Text ist der zweite Teil eines Dreiteilers. Der erste Teil kann hier abgerufen werden. Der dritte Teil erscheint in diesem Magazin am 24.8.2023.

  1. Fernsehansprache anlässlich des Inkrafttretens der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990.
  2. Hajo Funke: Brandstifter. Deutschland zwischen Demokratie und völkischem Nationalismus. Göttingen: Lamuv 1993, S. 50–66; 106–108.
  3. Bundeszentrale für politische Bildung: Arbeitslose und Arbeitslosenquote. In absoluten Zahlen und in Prozent aller zivilen Erwerbspersonen, 1980 bis 2013, 2014, hier S. 6. (Zugriff am 25.02.2023).
  4. Johann Gerdes, Annett Jackisch, Christoph Schützler: Lagebericht zur sozialen Situation in der Hansestadt Rostock. Universität Rostock: 2005, S. 32. DER SPIEGEL gibt ohne Zeitbezug die Arbeitslosenquote in Rostock mit 13 % und im Stadtteil Lichtenhagen mit 17 % an. Vgl. DER SPIEGEL: „Ernstes Zeichen an der Wand“, Nr. 36/1992. 30.08.1992. (Zugriff am 25.02.2023).
  5. Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Bonn: bpb 2003, S. 299.
  6. Nur ein Beispiel von vielen, um den unverhohlenen Rassismus im damaligen politischen Diskurs der demokratischen Volksparteien zu illustrieren: „Es kann nicht sein, dass ein Teil der Ausländer bettelnd, betrügend, ja auch messerstechend durch die Straßen ziehen, festgenommen werden und nur, weil sie das Wort ‚Asyl‘ rufen, dem Steuerzahler auf der Tasche liegen.“ (Klaus Landowsky, CDU-Fraktionsvorsitzender in Berlin, In: Stern, Nr. 43 vom 17.10.1991).
  7. Vgl. Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 263–273; 296–322.
  8. Die Eskalationsspirale gegenseitiger rhetorischer Übertrumpfungen führte zu einer enthemmten Debatte, die ein sehr breites politisches Spektrum umfasste. Wie entfesselt der politische Extremismus der Mitte war, zeigte etwa Friedhelm Farthmann, Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion in NRW und späterer Ehrenvorsitzender der Deutschen Stiftung Patientenschutz des Malteserordens. Er schlug vor „Asylanten“ auf diesem Weg abzuschieben: „Kurzen Prozess, an Kopf und Kragen packen und raus damit!“ (17.03.1992) Später blies Gerhard Schröder als SPD-Ministerpräsident von Niedersachsen im Landeswahlkampf ins gleiche Horn. Im Interview mit BILD am Sonntag forderte er „Wer unser Gastrecht missbraucht, für den gibt es nur eins: raus und zwar schnell?“ (20.07.1997). Trotz oder gerade wegen solcher Aussagen wurde er SPD-Vorsitzender und Bundeskanzler (1998–2005).
  9. In Berlin erzielten die „Republikaner“ 7,5 % (1989) und in Baden-Württemberg sogar 10,9 % (1992). Die rechtsextreme Deutsche Volksunion (DVU) kam in Bremen auf 6,2 % (1991), in Schleswig-Holstein auf 6,3 % (1992) und erreichte in Sachsen-Anhalt mit 12,9 % (1998) ihr bestes Wahlergebnis.
  10. Vgl. Prenzel: Rostock-Lichtenhagen und die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl, S. 13–15.
  11. Vgl. Jochen Schmidt: Politische Brandstiftung. Warum 1992 in Rostock das Ausländerwohnheim in Flammen aufging. Berlin: Edition Ost 2002, S. 154–196.
  12. Vgl. Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 303.
  13. Vgl. Margaret Jäger: BrandSätze und SchlagZeilen. Rassismus in den Medien. In: Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Entstehung von Fremdenfeindlichkeit. Die Verantwortung von Politik und Medien. Bonn: 1993, S. 73–92.
  14. Vgl. Jesus Manuel Delgado: Die „Gastarbeiter“ in der Presse. Eine inhaltsanalytische Studie. Opladen: Leske 1972. Siehe auch diese medienwissenschaftliche Metastudie, die die Ergebnisse von zwölf empirischen Untersuchungen lokaler und überregionaler Zeitungen aus den Jahren 1972 bis 2000 zusammenfasst: Daniel Müller: Die Darstellung ethnischer Minderheiten in deutschen Massenmedien. In: Rainer Geißler / Horst Pöttker (Hrsg.): Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland. Bielefeld: transcript 2015. S. 83–126.
  15. Vgl. Christine Horz: Fluchtmigration in den Medien. Stereotypisierungen, Medienanalyse und Effekte der rassifizierten Medienberichterstattung. In: Meltem Kulaçatan / Harry Harun Behr (Hrsg.): Migration, Religion, Gender und Bildung: Beiträge zu einem erweiterten Verständnis von Intersektionalität. Bielefeld: transcript 2020, S. 175-210; Marcus Maurer et al.: Fünf Jahre Medienberichterstattung über Flucht und Migration. Johannes Gutenberg-Universität Mainz: Institut für Publizistik 2021. (20.02.2023).
  16. Vgl. Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 303.
  17. Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung: Schlagzeilen. Rostock: Rassismus in den Medien, Duisburg: DISS 1993, zweite durchges. Aufl.
  18. Vgl. Cord Pagenstecher: „Das Boot ist voll“. Schreckensvision des vereinten Deutschland. In: Gerhard Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder, Band II: 1949 bis heute. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 606–613.
  19. Heutzutage wird der Begriff „Geflüchtete“ bevorzugt, da die Bezeichnung „Flüchtling“ verniedlichend und die Endung -ling häufig mit negativ assoziierten Wörtern wie Fiesling besetzt sei. Trotzdem ist daran zu erinnern, dass nur der letztgenannte Begriff laut Genfer Flüchtlingskonvention international anerkannt ist und einen gesetzlichen Schutzstatus darstellt. Vgl. Andrea Kothen: Sagt man jetzt Flüchtlinge oder Geflüchtete?, In: Pro Asyl, 01.06.2016. https://www.proasyl.de/hintergrund/sagt-man-jetzt-fluechtlinge-oder-gefluechtete/ (Zugriff am 01.07.2023).
  20. Vgl. Jäger: BrandSätze und SchlagZeilen, S. 73–92.
  21. Vgl. Prenzel: Rostock-Lichtenhagen, S. 13–17.
  22. Roman Guski: Nach Rostock-Lichtenhagen: Aufarbeitung und Perspektiven des Gedenkens. In: Thomas Prenzel (Hrsg.): 20 Jahre Rostock-Lichtenhagen. Universität Rostock. Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften 2012, S. 31–52, hier S. 34.
  23. Helmut Kellershohn: „Der Feind steht links!“. In: Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung: Schlagzeilen, S. 55–71.
  24. Vgl. Toralf Staud: Straf- und Gewalttaten von rechts: Was sagen die offiziellen Statistiken?, In: Bundeszentrale für politische Bildung, 13.11.2018. (Zugriff am 25.02.2023).
  25. DER SPIEGEL: „Ernstes Zeichen an der Wand“, o. S.
  26. In jüngerer Zeit wird unter dem Hashtag #baseballschlägerjahre an dieser Zeit erinnert. Vgl. Christian Bangel: #baseballschlägerjahre. Ein Hashtag und seine Geschichten. In: APuZ, Nr. 49-50/2022, S. 4–9 und Fabian Virchow: Rechte Gewalt in Deutschland nach 1945. Eine Einordnung der 1990er Jahre. In: ebd., S.10–14.
  27. Vgl. Schmidt, Politische Brandstiftung, S. 54–68; Prenzel: Rostock-Lichtenhagen, S. 16–17.
  28. Vgl. taz: Brief des Oberbürgermeisters belegt. Rostocker Warnung ein Jahr ignoriert. In: taz, 5.9.1992, S. 1.
  29. DER SPIEGEL: „Ernstes Zeichen an der Wand“, o. S.
  30. Vgl. Otto Diederichs: Das Polizeidebakel von Rostock – Versuch einer analytischen Würdigung. In: CILIP, Nr. 44, 22.02.1993. (Zugriff am 25.02.2023).
  31. Parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Landtags Mecklenburg-Vorpommern: Beschlussempfehlung und Zwischenbericht. 16. Juni 1993, S. 48.
  32. Vgl. Diederichs: Das Polizeidebakel von Rostock.
  33. Jochen Schmidt bei der Buchvorstellung von „Politische Brandstiftung“ zit. nach Heike Kleffner: Pogrom gewollt?. In: taz, 21.08.2002, S. 8.
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