Lukas Geisler, Migazin, Flucht, Flüchtling, Rassismus, Menschenrechte
Lukas Geisler © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Grenzräume

Die Dialektik der Freiheit

Warum gibt es kein Tempolimit in Deutschland? Was verteidigen Bundeswehr und die EU-Grenzen? Und auf wessen Kosten geht das alles eigentlich? Es ist höchste Zeit, mehr über Freiheit zu sprechen.

Von Montag, 29.05.2023, 13:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 29.05.2023, 11:36 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Freiheit ist in aller Munde. Nicht erst seit der Pandemie wird die Auffassung, was Freiheit ist oder was Freiheit bedeutet, gerade neu verhandelt. Nicht ein einzelnes Ereignis ist dafür ausschlaggebend, sondern ein ganzes Konglomerat. Und deshalb müssen wir dringend über Freiheit sprechen.

Zuletzt hat sich Jürgen Kaube, Herausgeber der FAZ, in einem Text gar dazu herabgelassen zu fragen, warum es kein Tempolimit in Deutschland gibt. Sein Fazit: Freiheit dürfe nicht zur Obsession werden. Jetzt ist die FAZ nicht gerade für eine linke Haltung bekannt, sondern versprüht, so muss man leider sagen, eher den konservativen Charme der Bourgeoisie. Doch wenn selbst dort die Diskussion ankommt, dass das Verständnis von dem, was Freiheit ist, momentan nicht nur stark umkämpft ist, sondern vielleicht aus den Fugen geraten ist oder schon immer war, dann müssen wir wirklich darüber reden.

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„Damit unsere Freiheit grenzenlos bleibt“

Die neue Imagekampagne der Bundeswehr, die stark in der Kritik steht, bildet, wie ich finde, einen guten Einstieg. Seit dem 2. Mai plakatierte man deutschlandweit „Damit unsere Freiheit grenzenlos bleibt“ in einer Schriftfarbe, die stark an Tarnflecken erinnert. Auf einem anderen Plakat – diesmal in weißer Schrift, dafür mit Panzer und Soldaten im Einsatz als Hintergrundbild – fragt sich Christopher N., ein Soldat der Panzergrenadiere, „Was zählt, wenn unsere Freiheit auf dem Spiel steht?“. Die Antwort will uns das Plakat in Bildsprache klar vermitteln: Panzer, Maschinengewehre und starke Männer.

Kurz ins Stocken gerät man da dann doch. Was eine Werbeagentur da fabriziert hat, zeigt allerdings klar zwei Dinge auf: Zum einen ist unsere grenzenlose Freiheit die Unfreiheit der anderen. Zum anderen braucht es Gewalt und patriarchale Herrschaftsstrukturen, um Freiheit zu garantieren. In diesem – doch vielsagenden Beispiel – scheint Freiheit nicht nur in Herrschaft umzuschlagen, sondern ist ohne Herrschaft scheinbar nicht möglich.

Doch die Imagekampagne der Bundeswehr ist nicht der einzige Fall, der ein solches – im ersten Moment merkwürdiges Verhältnis von Freiheit und Unfreiheit, bzw. Freiheit und Herrschaft – aufzeigt.

Ist die Verabsolutierung das Problem?

Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen scheint die Verknüpfung von Freiheit und Unfreiheit zu bestehen. Aus den Auseinandersetzungen an der Goethe-Universität Frankfurt in Bezug auf die sogenannte Migrationskonferenz von Susanne Schröter ist als größte Fürsprecherin vor allem das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit in Erscheinung getreten. Unter dem Deckmantel der Wissenschaftsfreiheit, so könnte man sagen, durften rassistische, antisemitische und patriarchale Inhalte als Wissenschaft betitelt werden.

Damit wurden diese menschenverachtenden Positionen salonfähig gemacht und leisteten der Freiheit von Millionen von Menschen einen Bärendienst. Wissenschaftsfreiheit, daran besteht kein Zweifel, ist ein hohes Gut. Wissenschaft, deren Ergebnisse von der Politik, Wirtschaft oder anderen Akteur:innen vorgegeben werden, kann niemand ernsthaft wollen – das lehrt uns nicht nur die deutsche Geschichte. Und doch öffnet diese Freiheit die Tür zur Unfreiheit, und zwar indem rechtes Gedankengut verwissenschaftlicht wird.

Man könnte, wie übrigens auch bei der Bundeswehr Kampagne, sagen, dass es sich hier um einen falschen Gebrauch des Wortes Freiheit handelt. Doch vielleicht ist nicht die Absolutierung der Freiheit das Problem, sondern Freiheit – wie wir sie verstehen – an sich.

Die Pandemie und die Freiheitsperversion

Ein Paradebeispiel – und damit auch der Beginn der breit geführten Debatte – war die Pandemie. Die Debatte um Masken und andere Einschränkungen sind uns noch allen vor Augen. Während der Pandemie – die Sozialwissenschaftler:innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben ein Netzwerk Wissenschaftsfreiheit darüber geschrieben – wurde der ambivalente Aspekt der Freiheit deutlich.

Neue gesellschaftliche Zwänge wurden als Unfreiheit wahrgenommen, aber dabei nicht verstanden, dass Gesellschaft schon immer eine eiserne Klammer war und gar nicht anders gedacht werden kann. Amlinger und Nachtwey nennen diese Verabsolutierung „libertärer Autoritarismus“. Doch was, wenn es sich eben nicht nur um eine solche Verabsolutierung, einer Perversion der Freiheit handelt, sondern in der Idee der Freiheit selbst Unfreiheit steckt, wie die Beispiele zeigen sollen?

Mauern der Freiheit

Auch das europäische Grenzregime kann ähnlich interpretiert werden. Indem wir uns abschotten, Menschen an unseren Grenzen sterben lassen und Mauern bauen, kann unsere Freiheit weiterhin grenzenlos sein. Doch welche Freiheit? Wird unsere Visafreiheit durch die Bundeswehr verteidigt? Vielleicht meinen wir mit Freiheit doch, frei von den ‚Anderen‘ zu sein. Die Imagekampagne der Bundeswehr weist unfreiwillig auch auf diesen Zusammenhang hin.

Paradigmatisch für den Begriff der Freiheit ist auch das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts von 2021, dass das Klimagesetz der damaligen Bundesregierung als verfassungswidrig einschätzte, und zwar in Bezug auf die Freiheitsrechte von zukünftigen Generationen. Was heißt das im Detail? Wir müssen heute unsere Freiheit einschränken oder begrenzen, damit die Freiheit zukünftiger nicht eingeschränkt oder begrenzt ist. Dies zeigt auf interessante Weise auf, dass Freiheit immer Unfreiheit ist und Herrschaft Freiheit immer erst einmal begründen muss.

Die Dialektik der Freiheit

Wenn aber Freiheit immer schon Unfreiheit und Herrschaft beinhaltet, dann bedeutet dies – auch das lässt sich durch Gegenwartsphänomene beobachten –, dass Freiheit jederzeit in Herrschaft umschlagen kann.

Ich hege keinen Zweifel daran, dass Debatten um Freiheit des Einzelnen in der Gesellschaft geführt werden müssen. Jedoch glaube ich, dass der Begriff der Freiheit – nicht weniger als die konkreten historischen Formen sowie die Institution der Gesellschaft, in die er verflochten ist – schon den Keim von Herrschaft und Unfreiheit in sich trägt, die sich heute überall ereignen. Schon Herrschaft bedeutet Freiheit (für Wenige), und: Freiheit schlägt deshalb – leider allzu oft – in Herrschaft um. Das nenne ich die Dialektik der Freiheit.

Doppelte Negation

Abseits von praktischen Beobachtungen weist auch folgende theoretische Überlegung in diese Richtung: Freisein kann nur diejenige Person empfinden und erfahren, die erlebt hat, was es heißt, unfrei zu sein. Damit ist Freiheit nicht einfach die Negation von Herrschaft, sondern die Negation der Negation.

Dies bedeutet: Ich muss erst meiner Freiheit beraubt worden sein, damit ich weiß, was es heißt, unfrei zu sein, um dann – wieder im positiven Sinne – zu wissen, was Freiheit oder Freisein bedeutet. Doppelt ist die Negation in dem Sinne, dass es in der Erfahrung erst einen Zustand braucht, in dem jemand frei ist, aber es nicht realisiert, da kein Verständnis davon vorliegt, was Unfreiheit oder Knechtschaft ist. Erst wenn dieser Zustand negiert wird, jemand unfrei wird, dann ergibt sich daraus ein Verständnis, was es hieß, frei zu sein. Um dann Freiheit wieder herzustellen, braucht es eine zweite Negation, nämlich die der Befreiung von der Knechtschaft.

Diese doppelte Negation führt allerdings nicht wieder zum Ausgangspunkt, sondern zu etwas dritten, nämlich zu dem Zustand, den wir Freiheit oder Freisein nennen. Dieser ist allerdings geprägt davon, nicht frei zu sein. Dementsprechend kann es Freiheit nicht ohne Unfreiheit geben.

Die rastlose Selbstzerstörung der Freiheit zwingt also das Denken dazu, sich die Arglosigkeit des gewohnten Gebrauches des Wortes Freiheit zu verbieten. Die Gefahr, die in der Diskussion um die Freiheit mitschwingt, ist allgegenwärtig.

Eine Warnung

Wir dürfen uns von den gegenwärtigen Diskussionen also nicht dumm machen lassen. Die Welt war nicht gestern und ist nicht heute in Ordnung. Wer, wie die Bundeswehr uns glauben machen will, unsere Freiheit verteidigt, trägt den Keim einer neuen, herrschaftsförmigen Ordnung in sich. Und diese Warnung ließe sich auch an die Verteidiger:innen, des fossilen Kapitalismus richten: Denen, die am ‚so weiter‘ des sogenannten freien Marktes festhalten, müssten eigentlich am meisten Angst und Bange vor den Folgen des herrschaftsförmigen Freiheitsbegriffs haben, den sie noch heute propagieren.

Ihre Freiheit – das meine ich wörtlich – wird ihre Kinder fressen. Deshalb lohnt es sich heute nochmal von vorne anzufangen und ein neues Verständnis, eine neue Idee zu begründen, was Freiheit und Freisein heute heißen kann. Vielleicht, das nehme ich gerne vorweg, ist es nicht einfach zu tun, was einem als Individuum – ungeachtet der Anderen – beliebt. Sondern ein anderer Freiheitsbegriff muss aus der Dialektik aus Individuum und Gesellschaft heraustreten, um seine ihm eigene Dialektik aus Freiheit und Herrschaft selbst vergessen zu machen.

Und nein, mit mehr als 130 Kilometern pro Stunde auf der Autobahn sollte man dann nicht mehr fahren dürfen – vielleicht waren Autos auch nie die richtige Idee. Noch entscheidender stellt sich die Frage um das europäische Grenzregime und die langsame Gewalt, die mittlerweile tagtäglich ihr blutiges Gesicht zeigt. Können wir uns also unsere unbegrenzte Freiheit noch leisten, wenn dafür Menschen anderenorts zu Tausenden sterben? Ich glaube nicht. Meinung

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