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Lukas Geisler, Migazin, Flucht, Flüchtling, Rassismus, Menschenrechte
Lukas Geisler © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Grenzräume

Ein Burnout-Manifest? Ich mache dann mal Urlaub…

Wenn diese Kolumne erscheint, bin ich im Urlaub. Es wird mein erster Urlaub seit drei Jahren und einem Monat sein. Ich weiß nicht, was mich erwartet, und auch nicht, ob ich noch Urlaub machen kann.

Von Sonntag, 26.03.2023, 13:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 26.03.2023, 12:33 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Einen Tag vor Abreise sitze ich da und schreibe an dieser Kolumne. Es ist Dienstag, der 21. März 2023. Mein letzter Urlaub endete abrupt. Am 22. Februar 2020 bestieg ich kurz nach dem Sonnenaufgang eine Fähre, die mich von der Türkei nach Lesbos, Griechenland, bringen sollte.

Ich schrieb darüber in meinem Buch, was am gleichen Tag seinen Ausgangspunkt nahm. Zwei Ausschnitte davon wurden im MiGAZIN vorveröffentlicht. Am 22. März 2023 – also 37 Monate später – werde ich einen Zug bestiegen haben, der mich von Frankfurt am Main nach Italien gebracht haben wird. Mein erster Urlaub seit über drei Jahren.

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Sinnvolle 37 Monate

Während der letzten drei Jahre war ich oft unterwegs: wieder in Griechenland, wieder auf den griechischen Inseln. Auf dem Westbalkan, in Serbien und auch in unzähligen Städten im deutschsprachigen Raum. Ich wohnte in drei verschiedenen deutschen Großstädten und durfte unzählige Menschen kennenlernen und begleiten, die mich nachhaltig geprägt haben. Auch in Ägypten auf einer Hochzeit von zwei guten Freund:innen war ich zu Besuch.

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Es waren sinnvolle 37 Monate, das möchte ich nicht bestreiten, sondern schätze die letzten drei Jahre sehr wert. Ich kann mich also nicht beschweren. Keine Prekarität zwang mich dazu, keinen Urlaub zu machen. Erst vor einigen Wochen wurde mir bewusst, dass der anstehende Urlaub mein erster seit langen sein wird.

Eine Trigger-Warnung vorweg: Im Folgenden geht es um psychische Gesundheit

„Auch ich habe immer wieder Phasen, wo es mir nicht gut geht. Wo die Kraft nicht mehr ausreicht und ich mich machtlos fühle. „

Eine Freundin, mit der ich auch politisch aktiv bin, antwortete auf die Frage, „Wie geht es dir?“, mit „Ich habe Depressionen“. Natürlich hatte ich auch schon zuvor so ein Gefühl. Sie hatte sich Zunehmens aus unserem gemeinsamen politischen Kontext herausgezogen.

Ich hätte es also wissen können. Und doch habe ich die Option, nach jahrelanger politischer Arbeit, ausgebrannt zu sein, nicht gesehen – oder zumindest nicht sehen wollen. Auch ich habe immer wieder Phasen, wo es mir nicht gut geht. Wo die Kraft nicht mehr ausreicht und ich mich machtlos fühle. Vieles verarbeite ich durch das Schreiben. Nicht immer gelingt es. „Activist-Burnout“, heißt das Phänomen.

Ein allgemeiner Disclaimer

Diskussionen über psychische Gesundheit sind komplex. Es gibt keine universal gültigen Lösungen, denn Menschen sind verschieden und funktionieren verschieden. Ich möchte weder meine noch anderen Erfahrungen generalisieren. Ein paar einfache Fragen helfen hingegen, sich selbst zu reflektieren: Hast du dich schon mal schlecht gefühlt, weil du eine Pause gemacht hast, während andere Leid erfahren? Hast du dich je überfordert, unmotiviert, zynisch oder ausgelaugt in Bezug auf deinen Aktivismus gefühlt?

Falls die Antwort jeweils „Ja“ ist, dann sind das erste Anzeichen von einem Burnout. Damit ist ein Zustand völliger Erschöpfung und Abschottung gemeint, der sich Schritt für Schritt in einer stressigen Umgebung aufbaut. Expert:innen sehen Burnout bei politisch Aktiven als eine der größten Hürden für Bewegungen, ihr gesellschaftliches Engagement über längere Zeit aufrechtzuerhalten. Langfristig kann Activist-Burnout gesellschaftliche Veränderungen verhindern und das, weil die Menschen nicht mehr können – ausgebrannt sind.

Ein Burnout kann zu genereller Unzufriedenheit, sozialem Rückzug, Schlaflosigkeit, verminderter Leistungsfähigkeit und zu schwerwiegenden Konsequenzen, wie Angststörungen und Depressionen, führen.

Ich brauche eine Pause

Zurück zu mir. Teilweise habe ich seit Monaten engen Freund:innen nicht mehr geantwortet, mich nicht bei meiner Familie gemeldet und habe sicherlich dabei viele enttäuscht. Es tut mir leid! Mehr als erste Anzeichen ist also auch bei mir da, was sicherlich dazu geführt hat, das ich nicht sehen wollte – nicht sehen konnte, wie es anderen Aktivist:innen in meinem Umfeld geht.

„Ich brauche eine Pause, deshalb mach ich einen längeren Urlaub. Doch wie geht das?“

Die richtige Konsequenz habe ich hoffentlich daraus gezogen: Ich brauche eine Pause, deshalb mache ich einen längeren Urlaub. Doch wie geht das? Um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht mehr. Das, was ich mache, macht mir Spaß. Ich habe keine Hobbys und ich bin stolz darauf. Es passiert viel in meinem Umfeld, ich bin gut vernetzt, ich schreibe. Im Dezember besetzte ich mit einer Klimagerechtigkeitsgruppe den größten Hörsaal der Goethe-Universität.

Auch auf das Exposé für ein neues Buch, an dem ich mit einem Kollektiv arbeite, haben wir ein Publikationsangebot eines Verlages erhalten. Alles ist gut. Das Leben läuft. Ich mache sinnvolle Arbeit. Jeden Tag versuche ich mich daran, die Utopie zu leben, für die ich kämpfe. Von meinen zwischenmenschlichen Beziehungen bis zudem, was vielleicht der öffentliche Teil meiner Person darstellt.

Keine neoliberale „Self-Care“

Pausen gönne ich mir regelmäßig, aber nicht immer ohne schlechtes Gewissen. Ein Urlaub, das kam mir lange nicht mehr Sinn. Gerade die Diskussionen um „Self-Care“ schrecken mich ab: „Einfach mal ein bisschen langsamer tun“, ist ambivalenter als es erscheinen mag. Entschleunigung ist spätestens seit der Pandemie zur Speerspitze des privilegierten weißen „Männertums“ geworden. „Da sitze ich nun auf meiner Villa auf den Kanarischen Inseln und erhole mich von meinem Schlaganfall“, schallt es mir in den Ohren.

„Wenn ich bisher keine Depressionen hatte, dann spätestens, wenn ich die ideologischen Auswürfe von sogenannten Self-Care-Influencer lesen muss.“

„Ich wollte immer schneller und mehr gleichzeitig – heute weiß ich, dass mir das nicht gutgetan hat“, sind dann so Sätze, die Mann scheinbar nicht oft genug sagen kann. Hören kann ich sie nicht mehr. Eines – das denke ich dann immer – darf man nicht vergessen: Das alles sind Privilegien. Es war und ist eine Entscheidung – zumindest für die, die Entschleunigung predigen. Diese Entscheidung haben nicht alle.

Was es nicht besser macht, ist, dass die sozialen Medien voll sind mit sogenannten „Self-Care“-Nachrichten und Sprüchen. Eine wahre Flut, die einen schier ertrinken lässt. Eine Welle, die sich zu einem Tsunami entwickelt und einen mitreißt. Wenn ich bisher keine Depressionen hatte, dann spätestens, wenn ich die ideologischen Auswürfe von sogenannten Self-Care-Influencer lesen muss.

Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht?

Ich werde deshalb hier nicht der migrantisierten Supermarktkassiererin, dem prekarisierten Student mit zwei Nebenjobs oder dem afghanischen Geflüchteten in Serbien erzählen, dass sie es mal mit Entschleunigung und „Self-Care“ versuchen sollen.

„Gesellschaft verändert sich nicht, wenn alle nur an sich denken.“

Dass ich überhaupt das mache, was ich mache, ist ein Privileg. Dass ich schreibe, vielleicht andere lesen, was ich schreibe – das ist eine privilegierte gesellschaftliche Position. Dadurch – das ist mein Gefühl – trage ich Verantwortung für die, die diese Privilegien nicht haben. Das sollten die Internet-Self-Care-Gurus, die Bücher-Schreibenden-Männer im mittleren Alter und alle anderen reflektieren lernen.

Gesellschaft verändert sich nicht, wenn alle nur an sich denken. Im Umkehrschluss heißt das allerdings nicht, dass wir Gesellschaft verändern, wenn wir nur an das Leid der Anderen denken.

Bis in drei Wochen

Und deshalb muss trotz alledem Self-Care ernst genommen werden. Jede ausgebrannte politisch-aktive Person ist eine zu viel. Für sich selbst und andere sorgen ist keine Selbstgefälligkeit. Nein, sie ist nötige Selbsterhaltung, um den Kampf für eine bessere Welt fortzuführen.

Für-Sich-Und-Andere-Sorge-Tragen ist damit ein radikaler politischer Akt, der auf eine andere, eine solidarische Gesellschaft hinweist. Nur gemeinsam sind wir stark, nur gemeinsam können wir die Welt verändern. Lasst uns gemeinsam Sorge um uns tragen.

„Für-Sich-Und-Andere-Sorge-Tragen ist damit ein radikaler politischer Akt, der auf eine andere, eine solidarische Gesellschaft hinweist.“

Angesicht der aktuellen multiplen Krisentendenzen ist es schwer, kämpferisch, motiviert und belastbar zu bleiben. Aber so viel ist den meisten politischen Menschen ja klar: Wie es ist, kann es nicht bleiben. Die Frage ist nur, wie ich und andere langfristig kämpferisch, motiviert und belastbar bleiben können. Ich habe keine Antwort. Ein Einmaleins der Self-Care brauche ich nicht neu erfinden und ich brauche auch keine Allgemeinplätze wiederholen.

Ich bin kaputt und ich mache Urlaub. Ich bin gespannt, ob ich – nach 37 Monaten ohne – noch weiß, wie das geht. Die Angst, dass mich der Urlaub überfordert und an meine Grenzen bringt, ist da. Ich melde mich in drei Wochen wieder und hoffe, dass ich irgendwann die Balance zwischen Aktivismus und Attentismus finde. Meinung

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