Grenzräume
Wie sollten wir das europäische Grenzregime kritisieren?
Das europäische Grenzregime wird trotz Ambivalenzen der (Un-)Durchlässigkeit seit 2015 weiterhin restriktiv transformiert. Doch wie und wo sollte unsere Kritik daran ansetzen?
Von Lukas Geisler Sonntag, 05.03.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.03.2023, 11:18 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
In einem ersten Schritt unterscheide ich grundlegend, was ich als kritisch begreife und was nicht. Denn ich bin der Auffassung dies an einer ganz banalen Formel entscheiden zu können. Im zweiten Schritt unterscheide ich Arten von Kritik. Der letzte Schritt führt den Gedankengang zusammen und versucht eine adäquate Antwort darauf zu geben, wie wir das europäische Grenzregime kritisieren sollten und auch wie eine gelebte Kritik der Praxis aussehen kann.
Das grundlegende Ziel von Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen – ob wissenschaftlich, journalistisch oder aktivistisch, spielt keine Rolle – sollte sein, menschliches Leiden zu mindern oder gar zu überwinden. Das meiste Leiden ist menschengemachtes Leiden. Klar ist nicht alles Leiden verhinderbar. Doch menschengemachtes menschliches Leiden sollte und muss das Ziel der Kritik sein.
Ob durch die Klimakrise verursachte Umweltkatastrophen oder durch illegale Pushbacks von Schutzsuchenden in der Ägäis, dem Balkan oder auf dem Mittelmeer, dieses Leiden ist menschengemacht und kann deshalb durch menschliches Handeln überwunden werden. Die Akzeptanz von solchen menschengemachten Leid oder die Behauptung, es sei außerhalb menschlicher Handlungsfähigkeit, kann getrost als reaktionär bezeichnet werden.
Falsche Ziele von Kritik
„Zentraler Impuls von Kritik ist also die Nicht-Akzeptanz von Leid und das Ziel, dieses zu überwinden.“
Zentraler Impuls von Kritik ist also die Nicht-Akzeptanz von Leid und das Ziel, dieses zu überwinden. Andere Formen der Kritik, die menschliches Leid akzeptieren oder es gar verschlimmern, sind also abzulehnen. Damit meine ich spezifisch Kritik, die gut und gerne von konservativer Seite angeführt wird, wenn es beispielsweise um den Sommer der Migration 2015 geht. Eine zentrale Sentenz ist dabei „2015 darf sich nicht wiederholen“.
Damit wird – ich setze es lieber mal in Anführungszeichen – die scheinbar liberale Geflüchtetenpolitik „kritisiert“. Es ist aber keine Kritik, die an der Überwindung von menschengemachten menschlichen Leid interessiert ist, sondern es in der Konsequenz vergrößert. Beweis dafür ist die Militarisierung und Brutalisierung des Grenzregimes in den letzten Jahren.
Selbstreflexion anhand eines einfachen Kriteriums
„Inwiefern und warum trägt meine Kritik dazu bei, das menschengemachte Leiden, welches vom europäischen Grenzregime produziert wird, zu vermindern oder gar zu überwinden?“
Daraus ergibt sich für Wissenschaftler:innen, Journalist:innen. Aktivist:innen, Politiker:innen sowie grundlegend alle, die sich in der Kritik am europäischen Grenzregime verschrieben haben, folgende Reflexionsfrage: Inwiefern und warum trägt meine Kritik dazu bei, das menschengemachte Leiden, welches vom europäischen Grenzregime produziert wird, zu vermindern oder gar zu überwinden?
Im Endeffekt sollten all jene, die Kritik üben, durch ein Selbstreflexionsprozess angeben können, ob und wie ihre Form der Kritik dies tut. Das und nichts anderes ist zentrales Kriterium der Qualität von Kritik. Doch nachdem das zentrale Anliegen von Kritik formuliert wurde, möchte ich mich allerdings noch darüber hinausbegeben und zumindest einen konkreten Vorschlag machen, der mir – ganz persönlich – am naheliegendsten erscheint. Dafür gehe ich verschiedene Formen der Kritik durch, die mir hilfreich erscheint.
Immanente Kritik
„Immanente Kritik verweist also auf Widersprüche, die innerhalb der jetzigen Gesellschaft vorhanden sind und versucht sie dabei nicht aufzulösen, sondern aufzuzeigen.“
Das Wort „immanent“ heißt erstmal so viel wie „innewohnend, in etwas enthalten“. Immanente Kritik an gesellschaftlichen Verhältnisse und Formationen heißt dann so viel, wie dass die Kritik innerhalb der momentanen gesellschaftlichen Regeln und Normen verbleibt. Immanente Kritik verweist also auf Widersprüche, die innerhalb der jetzigen Gesellschaft vorhanden sind und versucht sie dabei nicht aufzulösen, sondern aufzuzeigen.
Am Beispiel des europäischen Grenzregimes heißt immanente Kritik beispielsweise auf den Widerspruch hinzuweisen, dass sich die Europäische Union zum einen als Verteidigerin der Menschenrechte sieht und zum anderen Menschen an ihren Außengrenzen genau diese aktiv vorenthält. Auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kann ein solcher Referenzpunkt für immanente Kritik sein.
Probleme der immanenten Kritik
Immanente Kritik erscheint mir als die häufigste Form der Kritik, die vorgebracht wird. Allerdings ist sie mindestens in einem Aspekt problematisch, weshalb sie – meiner Meinung nach – nicht allein hinreichend ist, um das europäische Grenzregime zu kritisieren. Die Kritik allein von innen heraus, wie durch die Europäische Menschenrechtscharta, führt dazu, dass wir die Menschenrechte in ihrer Funktion, die sie in den gesellschaftlichen Verhältnissen einnehmen, nicht mehr sehen können.
„Damit kritisiert man Menschenrechte nicht an sich, sondern nur in der Form, in der sie unter der gegebenen gesellschaftlichen Formation existieren.“
Auch Menschenrechte sind innerhalb dieser gesellschaftlichen Ordnung herrschaftsförmig ausgeprägt. Allein immanente Kritik zu üben, verdeckt diesen Zusammenhang. Damit kritisiert man Menschenrechte nicht an sich, sondern nur in der Form, in der sie unter der gegebenen gesellschaftlichen Formation existieren. Denn auch die Menschenrechte sind Teil eines hegemonialen Kampfes um Deutungshoheit.
Transzendente Kritik
Wie das Wort „transzendent“ schon ausdrückt, geht diese Form der Kritik über die bestehenden Verhältnisse hinaus, die wir im Hier und Jetzt erfahren können. Sie nimmt nicht die momentanen gesellschaftlichen Normvorstellungen, Regeln oder Rechten als Ausgangspunkt, sondern versucht alles in Gänze zu verwerfen. Konkret fragt transzendente Kritik dabei nach den Funktionen, die bestimmte geistige Gebilde in Bezug auf die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse haben.
„Sind Menschenrechte in einer von Nationalstaaten geprägten Welt überhaupt für die durchsetzbar, die sie am dringendsten Benötigen würden? Müssen wir in der Konsequenz also Staatlichkeit an sich überdenken.“
Indem sie also aufzeigt, wie einzelne Objekte von der spezifischen Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse durchwirkt sind, leistet sie genau jene Erkenntnis der Objekte von außen, die immanente Kritik vermissen lässt. Verdeutlichen lässt sich dies am konkreten Beispiel der Anomalie der Geflüchteten. Sind Menschenrechte in einer von Nationalstaaten geprägten Welt überhaupt für die durchsetzbar, die sie am dringendsten Benötigen würden? Müssen wir in der Konsequenz also Staatlichkeit an sich überdenken?
Probleme der transzendenten Kritik
Durch die transzendente Kritik können wir also genau über das hinausgehen, was gegeben ist. Und das nicht dadurch, dass wir utopische Scheinwelten aufbauen, sondern dadurch, dass wir alles nach der herrschaftsförmigen Funktion hinterfragen. Sprich: Kein Stein auf dem anderen belassen und alles nach der herrschaftsförmigen Funktion hinterfragen – gerade Nationalstaatlichkeit und eben auch Menschenrechte.
„Der Standpunkt „von außen“ ist also immer ein fiktiver und somit zu Teilen willkürlich.“
Dabei muss natürlich ebenfalls auf Probleme hingewiesen werden. Einen Standpunkt von außerhalb einzunehmen ist für niemanden möglich, da wir alle selbst Teil der bestehenden gesellschaftlichen Formationen sind. Der Standpunkt „von außen“ ist also immer ein fiktiver und somit zu Teilen willkürlich.
Dialektische Kritik
Wenn allerdings beide zusammengeführt werden, dann ist man – so die Theorie – in der Lage, auf die Veränderung der Gesellschaft hinzuarbeiten. In der Verbindung von innen durch die immanente Kritik und von außen durch die transzendente Kritik entsteht eine Symbiose, die ein systematischen Problembewusstsein über den Zustand der gesellschaftlichen Form schaffen kann, die schließlich menschengemachtes Leid überwinden kann.
„Kritik am europäischen Grenzregime – so mein Vorschlag – sollte also immer beides beinhalten: Das aufzeigen der inneren Widersprüche sowie die Infragestellung der gesellschaftlichen Formation als Ganzes.“
Dies möchte ich anschließend an die lange Tradition kritischen Denkens als dialektische Kritik bezeichnen. Kritik am europäischen Grenzregime – so mein Vorschlag – sollte also immer beides beinhalten: Das aufzeigen der inneren Widersprüche sowie die Infragestellung der gesellschaftlichen Formation als Ganzes.
Kritik durch eine andere, solidarische Lebensform
Dabei gehe ich dennoch nicht davon aus, dass Kritik aus dem Elfenbeinturm der Philosophie oder der stillen Kammer kommen sollte. Das europäische Grenzregime stellt für uns ebenfalls eine Lebensform dar. Dort draußen die Barbarei, hier drinnen die Sicherheit durch hohe Mauern. Kritik – ich weiß, dass das ist ein hoher Anspruch ist – sollte im besten Fall nicht in theoretisch verbleiben, sondern muss in eine politische Praxis einer anderen Lebensform überführt werden.
„Das militarisierte, rassifizierte und postkoloniale Grenzregime reproduziert sich in unserer aller alltäglichen Praktiken – in unserer Lebensform.“
Das militarisierte, rassifizierte und postkoloniale Grenzregime reproduziert sich in unserer aller alltäglichen Praktiken – in unserer Lebensform. Wir sind Teil der Gesellschaft, die Menschen ausgrenzt. Gleichzeitig genießen wir dadurch an Privilegien, die wir nutzen können. Diese Privilegien können und sollten wir unseren Alltag einsetzen, um eine Kritik in der Praxis zu üben.
Kritik leben
Ganz klein angefangen beim aktiven kritischen Beobachten rassistischen Polizierens in der Innenstadt, über zivilgesellschaftliches Engagement in der Geflüchtetenhilfe oder der zivilen Seenotrettung bis hin zur aktiven Nicht-Zusammenarbeit mit den repressiven Staatsapparaten. Und auch das Aufbauen von alternativen Projekten der Unterbringung, kann eine andere, solidarische Lebensform begründen, die ganz praktisch Kritik am europäischen Grenzregime formuliert.
Beispiele hiervon gibt es unzählige. Einige davon habe ich in meinem Buch gesammelt, wie die Gemeinschaft Brot und Rosen in Hamburg oder Together We Are Bremen. Auch Project Shelter aus Frankfurt am Main oder das Bellevue di Monaco in München, sind solche Praxisbeispiele, die daraufhin arbeiten, menschengemachten Leid zu überwinden.
Kritik am europäischen Grenzregime
„Auch die Kritik durch eine andere, solidarische Lebensform sollte natürlich nicht unabhängig von einer dialektischen Kritik betrachtet werden, sondern sollte praktische Konsequenz der theoretischen Einsicht sein.“
Auf die Frage, wie wir das europäische Grenzregime kritisieren sollten, kann ich zusammengefasst antworten: Die Kritik sollte aus einer Verbindung von innen durch die immanente Kritik und von außen durch die transzendente Kritik bestehen, die als dialektische Kritik zusammengefasst werden kann. Auch die Kritik durch eine andere, solidarische Lebensform sollte natürlich nicht unabhängig von einer dialektischen Kritik betrachtet werden, sondern sollte praktische Konsequenz der theoretischen Einsicht sein.
Das wichtigste Kriterium anhand solch ein Modus der Kritik gemessen werden kann, ist die einfach wie banale Frage: Inwiefern und warum trägt meine Kritik dazu bei, das menschengemachte Leiden, welches vom europäischen Grenzregime produziert wird, zu vermindern oder gar zu überwinden? Was dies konkret in den einzelnen Feldern, wie der kritischen Geflüchtetennothilfe, im Journalismus, der Politik, im Aktivismus oder in der Wissenschaft, konkret heißt, kann und muss noch einmal konkret ausbuchstabiert werden. Meinung
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