Soziale Rollen

Beobachtungen am Epizentrum des Erdbebens

Die Dimension des Erdbebens in der Türkei und seine Folgen sind kaum vorstellbar. Ganze Städte sind zerstört, die Menschen in tiefster Trauer, herausgerissen aus ihrem gewohnten Leben. Die Herausforderungen sind groß - auch gesellschaftlich. Ein Augenzeugenbericht.

Von Ahmed Faruk Ergün Donnerstag, 02.03.2023, 23:09 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 03.03.2023, 9:17 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Mir war bewusst, dass ich den Schmerz, den das Erdbeben vom 6. Februar verursacht hat, nicht lindern kann. Dennoch habe auch ich mich freiwillig nach Kahramanmaraş, dem Epizentrum des Erdbebens, begeben – eine Region, in der ca. 13 Millionen Menschen von der Katastrophe unmittelbar betroffen sind. Ich wusste, dass ich mich dort nützlich machen kann, wenn ich mich einer erfahrenen Hilfsorganisation anschließe. Deshalb bewarb ich mich bei der Hasene-Stiftung und fuhr am dritten Tag des Erdbebens in die Region. Was ich dort sah, überstieg meine Vorstellungen. Das Erdbeben ist in jeder Hinsicht ein sehr großes Desaster. Es ist unmöglich, meine Gefühle, die ich dort erlebt habe, hier wiederzugeben. Meine Beobachtungen will ich jedoch versuchen, in Worte zu fassen.

Wir, zwölf junge Freiwillige, flogen aus Istanbul zunächst nach Sivas. Nach der Landung machten wir uns mit den Hilfstransportern auf den Weg und kamen nachts gegen 2:30 Uhr im Logistikzentrum der Stiftung in Kahramanmaraş an. Zu diesem Zeitpunkt waren etwa 100 Freiwillige dabei, die ankommenden Transporter zu entladen. Sechs Stunden später hatten auch das Such- und Rettungsteam der Stiftung das Logistikzentrum erreicht. In den frühen Morgenstunden schloss ich mich einem 14-köpfigen Such- und Rettungsteam an.

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Auf dem Weg zum Stadtzentrum wurde mir die Dimension der Katastrophe bewusst, die Stadt war komplett zerstört. Und ich bin mir sicher, dass dieser Anblick, vermutlich die Vorstellungskraft vieler Menschen übersteigt. Zu Beginn der Pandemie hatte ich etwa viereinhalb Monate in dieser Stadt verbracht. Mir kamen die Bilder der lebhaften Straßen und Gassen vor Augen, während ich draußen nur noch Trümmer sah.

Bevor ich diesen ersten Schock überwinden konnte, waren wir auch schon vor dem ersten eingestürzten Haus. Das Team nahm unverzüglich die Arbeit auf, Zeit zum Verdauen blieb nicht. Ich versuchte ihnen so gut wie möglich zu helfen. Wir arbeiteten lange Zeit an derselben Stelle, fünf bis sechs Stunden, um einen Verschütteten zu bergen – lebend oder leblos. Immer wenn es die Situation zuließ, beobachtete ich die Umgebung, saht immer wieder verzweifelte Menschen, das Wehklagen von Müttern und die Bemühungen der Väter sich in Trauer aufzurichten.

Wenn das Rettungsteam Menschen lebend bergen konnte, flossen Freudentränen. In solchen seltenen Momenten schöpften die Menschen, die auf die Rettung ihrer Kinder, Mütter, Väter oder Verwandten warteten, Hoffnung. Zugleich wussten sie alle, wie ernst die Lage war, wie unwahrscheinlich es war, dass Verschüttete jetzt noch lebend rauskommen aus den Trümmern. Sofern sie nicht beim Einsturz umgekommen sind, waren sie vermutlich durch das tagelange Ausharren in der klirrenden Kälte gestorben. Dennoch, die Hoffnung stirbt zuletzt.

„Wenn es uns gelang, einen Menschen lebend zu bergen, freuten wir uns so sehr, als ob wir jemanden aus der eigenen Familie gerettet hätten. Die Empathie waren aber auch da, wenn wir Tote bargen – was leider viel öfter vorkam.“

Wir setzten Rettungsarbeiten etwa fünf Tage in einem sehr hohen Tempo fort. Wenn es uns gelang, einen Menschen lebend zu bergen, freuten wir uns so sehr, als ob wir jemanden aus der eigenen Familie gerettet hätten. Die Empathie waren aber auch da, wenn wir Tote bargen – was leider viel öfter vorkam. Dabei müssen Moral und Motivation des Such- und Rettungsteams hoch sein. Sie müssen die Emotionen – insbesondere Trauer – außen vor lassen, um sich nur auf die Rettungsarbeiten konzentrieren zu können. In dieser Zeit arbeitete das Rettungsteam mindestens zwölf Stunden am Tag. Wer erschöpft war, schlief im Auto oder verzog sich in eine Ecke im Logistikzentrum.

Dort wurden Hilfsgütertransporter aus ganz Europa entladen und auf die Verteilung vorbereitet. Jeden Tag kamen Dutzende Fahrzeuge in das Zentrum, luden die Hilfsgüter in die Fahrzeuge und brachten sie an die bedürftigen Stadtteile. Ich erfreute mich daran, Menschen zu sehen, die Tag und Nacht arbeiteten, um Bedürftigen zu helfen. Gleichzeitig musste ich immer wieder an die vielen verwaisten Kinder, die verwitweten Frauen und die hilflosen Väter denken, was mich jedes Mal mit Trauer, Kummer und Hilflosigkeit befüllte. Was mich zutiefst bewegte, waren die unschuldigen und ahnungslosen Kinder.

„Viele dieser Kinder waren nicht alt genug zu erfassen, was gerade passierte. Sie werden aber wachsen und das Geschehene langsam begreifen.“

Manche von ihnen zeichneten mit Buntstiften eingestürzte Gebäude, während sie von Psychologen betreut wurden. Viele dieser Kinder waren nicht alt genug zu erfassen, was gerade passierte. Sie werden aber wachsen und das Geschehene langsam begreifen. Deshalb ist es wichtig, diese Kinder nicht alleine zu lassen, den Schaden auf ein Minimum zu reduzieren.

Nach so einer Katastrophe durchläuft die Gesellschaft nacheinander oder ineinandergreifend bestimmte Phasen: Schock, Wut, Akzeptanz, Bedeutungsverlust und schließlich die Rückkehr zum Leben. Am dritten und vierten Tag des Erdbebens war die Schockphase vorbei und die Phase der Wut hatte bereits begonnen. Die Verzweiflung der Menschen und die Wut auf Bauunternehmer, von denen sie ihre wie Pappkartons zusammengefallen Häuser gekauft hatten, und auf korrupte Behörden waren in ihren Gesichtern zu sehen.

Die Erdbebenopfer bedankten sich einerseits bei den freiwilligen Helfern vor Ort, sie wussten aber auch, dass sie schon nach wenigen Monaten, wenn die Helfer wieder weg sind, alleine sein würden in ihrer zerstörten Stadt. Ihnen war bewusst, dass neben der Soforthilfe eine mehrdimensionale und langfristige Planung nötig ist.

Die Menschen hatten nicht nur ihre Wohnungen und Familien verloren, sondern auch ihre Arbeit, mithin auch ihre gewohnten sozialen Rollen. Durkheim bezeichnet diese Lage als Anomie. Die Anomie beschreibt den Zustand mangelhafter gesellschaftlicher Integration, welches mit der Situation in Kahramanmaraş übereinstimmte. Damit die Erdbebenopfer wieder „zurück zum Leben finden“ ist es wichtig, dass sie wieder in ihre konstruktiven und sinnstiftenden sozialen Rollen zurückkehren und ihre Wunden in diesen Rollen heilen.

„Den Menschen den Übergang von der Rolle des Bedürftigen zu einer aktiven, autarken Rolle zu ermöglichen, wird nach dem Beben die wichtigste Aufgabe sein.“

Auch deshalb wird es unerlässlich sein, die Industrie und die Wirtschaft in der Region wiederaufzubauen und zu beleben, sowohl um die langfristige Entleerung dieser Städte zu verhindern als auch um den Menschen zu helfen, wieder ins Leben zurückzukehren. Bereits der Aufbau vorübergehender Containerstädte sollte daher wohlüberlegt sein, in der Nähe von möglichen Arbeitsstädten aufgebaut werden, damit die Menschen – mangels zusammengebrochener öffentlicher Nahverkehr – eine reale Option auf Beschäftigung haben, um sich und ihre verbleibenden Familienmitglieder zu ernähren. So könnten die Menschen wieder zurück ins Leben finden.

Zugleich würde durch die Wiederbelebung der Industrie die Massenabwanderung verhindert werden. Je mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, desto mehr Menschen können ihre Bedürfnisse erfüllen und soziale Rollen annehmen. Somit würden die Opferrollen von konstruktiven sozialen Rollen abgelöst werden. Den Menschen den Übergang von der Rolle des Bedürftigen zu einer aktiven, autarken Rolle zu ermöglichen, wird nach dem Beben die wichtigste Aufgabe sein. Nur so kann sich die Gesellschaft erholen und genesen. Ausland

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