Rezension

„Fremd“ – Michel Friedman sehr vertraut

Vielfach gilt Michel Friedman als arrogant. Mit „Fremd“ hat der Jurist, Philosoph und Talkmaster eine ungewöhnliche und lesenswerte Autobiografie vorgelegt.

Von Donnerstag, 24.11.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 24.11.2022, 10:56 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

„Michel Friedman“, ein Name, an den man sich gewöhnen musste: Wie schreibt man „Michel“ überhaupt, und warum „Friedman“ nur mit einem „n“? Und warum ein ausländischer und ein deutscher, deutsch klingender Name in einem? Sich an den Namen zu gewöhnen ergab sich jedoch von selbst: Immer wieder tauchte der Publizist, Politiker, Verbandsvertreter und Talkmaster Michel Friedman auf, wenn es um rechte Gewalt ging. Er sagte meist nicht „Fremdenfeindlichkeit“, sondern sehr früh schon „Rassismus“ und nannte Antisemitismus beim Namen. Dabei sprach Friedmann stets sehr eindringlich, akzentuiert, stark und offensiv. Auf ihn als Person, die gehört wird, war immer Verlass, wenn rassistische oder geschichtsrevisionistische Diskurse aufflammten, sei es durch den Bestseller eines Thilo Sarrazins 2010 oder die Paulskirchenrede Martin Walsers 1998.

„In einer Zeit, als in Deutschland an eine Antidiskriminierungsgesetzgebung nicht einmal zu denken war, machte Friedman den ungewöhnlichen Schritt, vor Gericht zu gehen, den viele sich auch heute nicht zutrauen.“

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Wiederholt wurde der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland selbst Ziel antisemitischer Angriffe und leistete lautstark und mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Widerstand. Beeindruckend waren und sind seine argumentative und rhetorische Stärke und inspirierend seine Lust am intellektuell überlegenen Widerspruch. 2001 klagte der Jurist Friedman dagegen, als „Zigeunerjude“ beschimpft zu werden – eine Erniedrigung, die nicht zufällig indirekt an das nationalsozialistische Mordprogramm erinnert. In einer Zeit, als in Deutschland an eine Antidiskriminierungsgesetzgebung nicht einmal zu denken war, machte Friedman den ungewöhnlichen Schritt, vor Gericht zu gehen, den viele sich auch heute nicht zutrauen. Tatsächlich verlor Friedman in erster Instanz und bekam erst ein Jahr später Recht. Vielfach gilt Friedman als arrogant und narzisstisch, zumindest ist er es für die richtige Sache: „Wäre die AfD in einer Bundesregierung, würde ich gehen“, sagte Friedman 2019 und störte den deutschen Selbstbeschwichtigungsdiskurs über eine Normalisierung der AfD.

Individuelle Erfahrungen, zugleich exemplarisch

Mit „Fremd“ hat Michael Friedman nun eine Autobiografie vorgelegt, die seine schwachen Seiten zeigt. Es geht um Ängste, Verlorenheit, auch Selbstverletzung. Die Schwächen und Unsicherheiten werden im Vorwort kontextualisiert: Es geht um das Fremdsein, bedingt durch das Aufwachsen mit einem Staatenlosen-Pass, mit den Holocaust überlebenden Eltern aus Polen, mit einer Kindheit in Paris und dem Mitgenommen-Werden in ein postnationalsozialistisches Deutschland. Auch wenn er individuelle und spezifische Kollektiverfahrungen formuliert, die er pointiert im ersten Satz „Ich bin auf einem Friedhof geboren“ bebildert, verallgemeinert Friedman sie sofort: Es sei „eine Erfahrung, die exemplarisch für viele Menschenschicksale sein könnte“ (S. 7).

„Diese Solidarität mit anderen, die ebenfalls ‚irgendwo im Nirgendwo leben‘ und ‚ohne Kreditkarte‘ nicht gern gesehener Ausländer, sondern Flüchtling sind, machen Friedman so vertraut.“

Wie gleich zu Beginn verfährt Friedman im gesamten Text, der vielfach als langes Gedicht in stark verdichtetet Sprache beschrieben wird: Konkrete Erfahrungen und Hintergründe als Jude in Deutschland werden in ihren universellen Dimensionen ausgedrückt. Diese Solidarität mit anderen, die ebenfalls „irgendwo im Nirgendwo leben“ (ebd.) und „ohne Kreditkarte“ nicht gern gesehener Ausländer, sondern Flüchtling sind (S. 27), machen Friedman so vertraut. So vertraut für diejenigen ohne die richtigen Papiere, ohne Geld, ohne die richtigen Manieren, die passende Kleidung oder die akzentfreie Sprache. Für diejenigen mit furchtbaren Erfahrungen in der Familie, mit kollektiven Gewaltgeschichten, und mit eigenen alltäglichen Erniedrigungen. Und mit geteilten Erfahrungen:

„1970er Jahre.
Hass auf Fremde.
Italiener sind ‚Spaghettifresser‘.
Türken ‚stinken nach Knoblauch‘.
Griechen auch.
Juden sind nur da,
um ein schlechtes Gewissen zu machen.
Viele sind ‚Kanacken‘.
Die Fremden
leben in ihren Ghettos.
Wenige haben es in den Mittelkreis geschafft.“
(S. 69)

Solidarität mit Brüchen

Vertraut ist vielen auch die Entscheidung, vor der Friedman steht: Mit dem deutschen Pass und der Möglichkeit, ins Ausland zu gehen – in Zeiten ohne Billigflüge und Smartphones – und vielleicht den Friedhof hinter sich zu lassen: Lässt man die Eltern allein? Und sehr bekannt auch die Parabel, die ihm ein Therapeut erzählt: Elefanten haben rote Augen, damit sie sich besser im Kirschbaum verstecken können. Auf Friedmans Einwurf, noch nie habe er einen Elefanten in einem Kirschbaum gesehen, heißt es: „Da kannst du mal sehen, wie gut sie sich verstecken können.“ (S. 149f)

„Es zeigt sich, dass die tiefe Spaltung des Geschlechterverhältnisses, in Verbindung mit der Kreditkarte des Mittelstands, auch unter denjenigen im Nirgendwo besteht.“

Friedmans Solidarität hatte auch Brüche. Bekannt ist die „Friedman-Affäre“ um Kokain und zwangsprostituierte Frauen aus der Ukraine 2003. Es zeigt sich, dass die tiefe Spaltung des Geschlechterverhältnisses, in Verbindung mit der Kreditkarte des Mittelstands, auch unter denjenigen im Nirgendwo besteht. Friedman beschreibt im Buch ein männliches Zugehörigkeitsritual, dem er sich als Jugendlicher unterwerfen musste, hier unternahm er bereitwillig ein weiteres. Und dennoch zeigt die Häme, mit der heute aus Anlass der Neuerscheinung in Kommentaren über Friedman und den Fehltritt hergezogen wird, die Lust an der antisemitischen Aggression.

„Fremd“ ist ein Buch, das wie so viele von Friedmans Aktionen eine unvergleichliche Person zeigt. Aber fremd ist er nicht allein.

Michel Friedman: Fremd. Berlin Verlag, Berlin 2022, 176 Seiten, 20 Euro.

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