Pulitzerpreis-Träger im Gespräch

Matthieu Aikins: „Am Ende ging es aber vor allem um unser Überleben“

Matthieu Aikins, Journalist, kanadischer Träger des Pulitzerpreises 2022, Buchautor, flüchtete mit seinem Freund Omar aus Afghanistan - als Afghane, undercover. Im Gespräch erklärt er, warum er die lebensgefährliche Flucht angetreten ist, was er erlebt hat, welche Rolle Schmuggler, Politiker und Polizisten spielen und warum der Westen mehr Verantwortung für Afghanistan trägt als für die Ukraine.

Von Donnerstag, 08.09.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 09.09.2022, 6:10 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Alexandra Senfft: Matthieu, was hat Sie als Journalisten dazu bewogen, undercover aus Afghanistan zu fliehen?

Matthieu Aikins: Ich wollte über Migration berichten und meinen Freund Omar begleiten. Da ich aber Gefahr lief, entführt oder verhaftet zu werden, war das nur möglich, indem ich mich als afghanischer Flüchtling ausgab.

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Ein Kanadier und ein Afghane als Flüchtlinge: Wie haben Sie sich auf diese gefährliche Reise vorbereitet?

Ich habe die Routen studiert und einige der Orte besucht, zu denen wir reisen wollten. Außerdem habe ich meine Sprachkenntnisse aufpoliert, weil ich unter Afghanen als Afghane durchgehen musste. Darauf war ich teils schon vorbereitet, weil ich seit vielen Jahren in gefährlichen Gegenden in Afghanistan unterwegs war. Ich kleidete mich wie die Einheimischen und passte mich ihnen an.

Ein Journalist, der seinen Freund begleitet – bewegten Sie sich da nicht auf einem schmalen Grat? Wie sind Sie mit dieser ambivalenten Situation umgegangen?

„Am Ende ging es aber vor allem um unser Überleben und darum, sicher ans Ziel zu kommen.“

Um verdeckt zu arbeiten, musste ich täuschen und Dinge tun, die manchmal vielleicht illegal waren. Hinsichtlich meines journalistischen Auftrags rechtfertige ich das damit, dass das die einzige Möglichkeit war, die Geschichte in erster Person zu erfahren. Die Öffentlichkeit hat das Recht, über das informiert zu werden, was verborgen an den Grenzen geschieht. Ein weiterer wichtiger Punkt war, dass wir keinen Schaden anrichteten wollten und uns nur in dem Maße tarnten, wie es für unsere Sicherheit notwendig war. Beim Schreiben des Buches war es dann komplizierter, meine Rolle als objektiver Journalist zu bewahren, weil ich mit meinem Freund unterwegs war. Am Ende ging es aber vor allem um unser Überleben und darum, sicher ans Ziel zu kommen.

Warum hat es fast ein Jahr gedauert, bis Sie und Omar endlich aufgebrochen sind?

„Ich sage das, um deutlich zu machen, warum die Menschen fliehen, denn sie fliehen vor Konflikten, die noch viel gefährlicher sind als die Flucht selbst.“

Omar hatte sich entschlossen, nach Europa zu fliehen, nachdem sein Visum für die USA abgelehnt worden war. Dafür hätte er qualifiziert sein müssen, weil er als Übersetzer für das amerikanische Militär tätig war. Deshalb beschloss er, sein Leben auf einer Fluchtroute zu riskieren. Ich war entschlossen, ihn nicht alleine gehen zu lassen. Aber es war ein wichtiger Faktor hinzugetreten: Er war in die Nachbarstochter verliebt und hoffte, sie zu heiraten oder sich vor der Abreise zumindest zu verloben, und so zögerte er lang. Er befürchtete, diese Frau zu verlieren, wenn er das Land verließe. Schließlich wurde aber klar, dass ihr Vater ihn nur dann akzeptieren würde, wenn er es schaffte, sich in Europa zu etablieren und sie nachzuholen. Er musste also das Risiko eingehen, sie zu verlieren und sich auf die Flucht begeben.

Gab es während Ihrer Odyssee einen Moment, in dem Sie Angst hatten oder am liebsten abgebrochen und das nächste Flugzeug nach Hause genommen hätten?

Es gab diverse beängstigende Momente, aber ich war fest entschlossen, meinen Freund nicht im Stich zu lassen. Er war nicht in der Position, wie ich, einen Anruf zu tätigen, einen Pass zu organisieren und in eine sichere Existenz zurückzukehren. Sobald er sich auf diesen Plan eingelassen hatte, hing er fest. Ich wäre lieber gestorben, als ihn im Stich zu lassen, deshalb war es meine Pflicht, nicht aufzugeben, – auch er fühlte sich für mich verantwortlich. Doch auch wenn diese Reise gefahrvoll war, so habe ich jahrelang über die Kriege in Afghanistan, Irak und Syrien von der Front berichtet. Da gab es viel gefährlichere Situationen wie etwa die Bombardierung von Aleppo. Ich sage das, um deutlich zu machen, warum die Menschen fliehen, denn sie fliehen vor Konflikten, die noch viel gefährlicher sind als die Flucht selbst.

Omar war ein „privilegierter“ Flüchtling, weil er genug Geld hatte, um für seinen Transport zu bezahlen. Wie schaffen es Flüchtlinge, die kein oder nur sehr wenig Geld besitzen?

„Je mehr Geld in Polizei und Grenzmauern investiert wird, desto wertvoller werden die Dienste der Schmuggler. Und so entsteht an den EU-Außengrenzen im Tandem mit verstärkten Grenzkontrollen eine milliardenschwere Industrie.“

Natürlich ist Geld einer der wichtigsten Faktoren, um sicher und rasch reisen zu können, das gilt auch für Flüchtende. Weil Omar Geld hatte, um seinen Transport zu bezahlen, konnten wir relativ schnell reisen, innerhalb weniger Monate. Für viele Flüchtlinge dauert es Jahre, weiterzukommen, und sie müssen oft an Orten wie dem Iran oder Istanbul in der Türkei arbeiten, um Geld für die Weiterreise zu bekommen. In meinem Buch erzähle ich von einer jungen Deutschen namens Ruby. Sie half minderjährigen Kindern, die in Griechenland gestrandet sind, indem sie es ihnen ermöglicht, ganz selbstständig ihre eigenen Handtaschen herzustellen und diese für sie zu verkaufen. Was die Menschen viel mehr als das Essen von NGOs benötigen, ist, ihren Zielort zu erreichen, und dafür brauchen sie Geld.

Sie haben sich mit Schleppern getroffen und waren auf sie angewiesen, um auf der Flucht weiterzukommen. Die gängige Meinung ist, dass es sich dabei um Kriminelle handele, die die Abhängigkeit der Flüchtlinge für ihre eigene Habgier ausnutzten. Was war Ihr Eindruck von ihnen?

Termine mit Matthieu Aikins in Deutschland: 9.9.22, Berlin, Internationales Literaturfestival; 15.9.22, Köln, Lesung und Diskussion; 16.9.22, Hamburg, Lesung und Gespräch.

Die Schmuggler sind sehr bequeme Sündenböcke für die menschliche Tragödie, die sich an den europäischen Grenzen abspielt. Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi nannte sie „die Sklavenhändler des 21. Jahrhunderts“. Tatsache ist jedoch, dass es ohne Grenzen keinen Bedarf an Schmugglern gäbe. Je mehr Geld in Polizei und Grenzmauern investiert wird, desto wertvoller werden die Dienste der Schmuggler. Und so entsteht an den EU-Außengrenzen im Tandem mit verstärkten Grenzkontrollen eine milliardenschwere Industrie. Wir sehen das nicht nur in Europa, sondern auch an der Grenze zwischen den USA und Mexiko oder zwischen Indien und Bangladesch. Schmuggler, Politiker und Polizisten sind also zwei Seiten der gleichen Medaille. Schmuggler erbringen eine Dienstleistung für Migranten. Das ist wahrlich keine Branche, die zu Ehrlichkeit oder Freundlichkeit ermutigt. Es gibt viel Ausbeutung, aber die Schmuggler und die Migranten stehen in einer Geschäftsbeziehung. Fast jeder Flüchtling braucht tatsächlich einen Schleuser, weil er durch restriktive Ausreisegesetze absichtlich am Verlassen seines Landes gehindert wird. Afghanen haben die schlimmsten Pässe der Welt, wenn es um visumfreies Reisen geht. Derzeit sind nur sehr wenige Botschaften in Afghanistan geöffnet, für Afghanen gibt es also kaum Möglichkeit, ohne die Hilfe von Schleusern zu entkommen.

Unterwegs haben Sie viel Elend gesehen – gab es auch freudige Momente während der Flucht?

Es gab durchaus Momente von Freude, Spaß und von Solidarität für die Menschen entlang der Route. Einer der Gründe, warum ich froh war, eine solche Reise undercover gemacht zu haben, war, dass ich das gesamte Spektrum dieser Erfahrungen erleben konnte. Manchmal denke ich, dass die Berichterstattung über Flüchtlinge dazu neigt, sich auf das Elend und die Opferrolle der Migranten zu konzentrieren. Natürlich gibt es schrecklich viel Leid, und sie sind Opfer eines Systems. Aber gleichzeitig gibt es viele Handlungsmöglichkeiten, es ist erstaunlich, wie Menschen in dieser sehr schwierigen Lage handlungsfähig bleiben. Da die Leute mich auch für einen Migranten hielten und mit mir wie mit einem solchen sprachen und mich einluden, an ihren Aktivitäten oder Planungen teilzunehmen, lernte ich die gesamte Bandbreite dessen kennen, was auf dem Weg passiert.

2016 hat Europa seine Grenzen geschlossen und es Flüchtlingen immer schwerer gemacht, zu entkommen. Jeden Tag ertrinken Menschen im Mittelmeer. Und diejenigen, die es bis nach Europa schaffen, warten oft monatelang auf einen Asylantrag und auf eine Antwort darauf. Was ist in der europäischen Migrationspolitik schiefgelaufen?

„Europa verfolgt so eine Politik, die die Gewalt an die Grenzen auslagert. Durch den Arabischen Frühling, der viele Diktatoren stürzte, auf die sich Europa verlassen hatte, war das System gestört. Nun ist es zum großen Teil wiederhergestellt.“

Aus der Sicht einiger Politiker und anderer, die Migranten fernhalten wollen, ist die europäische Migrationspolitik insofern gut gelaufen, als dass die Migranten draußen bleiben. Nach dem Zusammenbruch der Regierung in Afghanistan im letzten Sommer befürchtete man in Europa eine neue Welle afghanischer Flüchtlinge. Doch das ist nicht geschehen, nicht annähernd vergleichbar mit 2015, und das liegt zum Teil an den Maßnahmen, die nach der damaligen Krise ergriffen wurden. Dazu gehört, dass Länder wie Türkei, Iran und Pakistan dafür bezahlt werden, Grenzmauern zu bauen, um Migranten fernzuhalten, sowie Abschiebehaftanstalten, um sie einzusperren und in ihre vom Krieg zerrütteten Länder abzuschieben. Europa verfolgt so eine Politik, die die Gewalt an die Grenzen auslagert. Durch den Arabischen Frühling, der viele Diktatoren stürzte, auf die sich Europa verlassen hatte, war das System gestört. Nun ist es zum großen Teil wiederhergestellt. Das ist freilich schlecht für die Menschen, die zu fliehen versuchen.

Wir leben in einer extremen globalen Ungleichheit, in der eine winzige Minderheit den größten Teil des Reichtums kontrolliert. Eine kleine Anzahl von Nationen besitzt einen unverhältnismäßig großen Anteil an den Ressourcen unseres Planeten. Solange diese extreme Ungleichheit besteht und Kriege, Katastrophen und Umweltkatastrophen die Menschen zum Verlassen ihres Landes zwingen, wird es immer verzweifelte Menschen geben, die versuchen, die Grenzen zu überqueren. Und man wird Gewalt benutzen, um sie davon abzuhalten. Es bedürfte einer radikalen Umgestaltung unserer wirtschaftlichen und politischen Systeme, um diese Ungerechtigkeit zu beseitigen. Gleichzeitig erscheint es mir nicht sinnvoll, weiter in repressive Überwachungstechnologien zu investieren, auch weil die dann zur Überwachung der Gesellschaften in Europa führt.

Die Taliban haben Afghanistan letztes Jahr nach dem Abzug der USA zurückerobert: Tausende von einheimischen Mitarbeitern, Menschen wie Omar, sind bedroht. Sie sitzen fest und warten versteckt, dass ihnen endlich aus dem Land geholfen wird. Der Hunger wird immer mehr zu einem Problem, Frauen sind am meisten gefährdet. Haben wir ihr Schicksal angesichts des Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine vergessen?

„Wir tragen viel mehr Verantwortung für die Tragödie, vor der die Afghanen fliehen als für die Ukraine.“

Ich bin letzten Sommer in Afghanistan zurückgeblieben, als das Land zusammenbrach, um über den Fall von Kabul zu berichten und war selbst an einigen Evakuierungsmaßnahmen beteiligt. Damals habe ich an Omar gedacht und war sehr froh, dass er und seine Familie es sicher nach draußen geschafft haben, bevor es zu spät war. Es ist unsere Pflicht, die Afghanen nicht zu vergessen. Wir tragen viel mehr Verantwortung für die Tragödie, vor der die Afghanen fliehen als für die Ukraine. Wir tragen mehr Verantwortung, können die Ereignisse dort aber viel weniger beeinflussen, angesichts des Scheiterns unserer militärischen Mission.

Wir werden hier nicht verraten, ob es Omar gelungen ist, nach Europa zu gelangen. Stehen Sie noch in Kontakt mit ihm?

Omar ist ein Freund fürs Leben, und wir sind durch diese gemeinsame Erfahrung eng miteinander verbunden. Wir sind beide froh, dass er entkommen ist, solange er noch konnte. Interview Leitartikel Panorama

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