Buch, Die Nackten fürchten kein Wasser, Flucht, Afghanistan, Flüchtling
"Die Nackten fürchten kein Wasser" von Matthieu Aikins © Hoffmann und Campe Verlag GmbH

Exklusiv-Buchauszug

Die Nackten fürchten kein Wasser – Eine Reise mit afghanischen Flüchtlingen

In dem Buch „Die Nackten fürchten kein Wasser“ wird die lebensgefährliche Fluchtgeschichte zweier Freunde von Afghanistan nach Europa erzählt. Dafür hat sich der Autor, Matthieu Aikins, Träger des Pulitzerpreises 2022, als afghanischer Flüchtling ausgegeben. MiGAZIN veröffentlicht exklusiv einen Auszug daraus.

Donnerstag, 08.09.2022, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 08.09.2022, 13:09 Uhr Lesedauer: 10 Minuten  |  

Wie die anderen vor uns verließen auch wir das Plaza, ohne uns zu verabschieden. Wir waren schon seit zwei Wochen hier, länger als geplant. Von der Horrorvision geplagt, dass Laila in seiner Abwesenheit zwangsverheiratet würde, wollte Omar so schnell wie möglich nach Italien gelangen. Wir zogen die Secondhandjacken an, die wir uns erschnorrt hatten, schulterten die Rucksäcke und schlichen uns in aller Frühe davon, als alle anderen noch schliefen – nachdem sie bis spätnachts noch auf gewesen waren, um eine Feier zum halbjährigen Bestehen des Plaza vorzubereiten. Mir tat es ein bisschen leid, dass wir die Party verpassten – aber unseren Zimmerschlüssel hinterlegten wir vorsichtshalber bei einem Freund für den Fall, dass wir zurückkommen mussten.

Mit einem Fernbus fuhren wir Richtung Westen, nach Patras. Nach dem, was Yousef widerfahren war, hatte Omar die Idee, die Balkanroute zu nehmen, wieder fallengelassen. Die Fähren über die Adria, die italienische Häfen wie Venedig und Triest anliefen, boten Omar die Chance, direkt sein endgültiges Ziel zu erreichen. Man musste einen der Schleuser bezahlen, die sich Zugang zu den Lkws gesichert hatten, und das kostete immerhin nur ein paar Hundert Euro. Andererseits war es gefährlich, unter einen Lastwagen zu kriechen. Ich würde mitmachen, wenn er dazu bereit wäre, sagte ich, aber Omar war noch unschlüssig. Er hatte von einer anderen, teureren Option gehört, die sich Nachtfracht nannte: Der Schleuser steckte einen vor dem Hafen in einen Lkw-Frachtraum, normalerweise mit stillschweigender Duldung des Fahrers. Omar entschied, dass wir erst einmal nach Patras fahren und in den leer stehenden Fabrikgebäuden, wo Migranten lebten, herumfragen würden. Diese Gebäude, Holz- und Pandschiri-Fabrik genannt, wurden von rivalisierenden Schleuserbanden kontrolliert, die häufig aneinandergerieten; erst ein paar Wochen zuvor war ein Afghane erstochen worden, und die Polizei hatte das ganze Betriebsgelände dichtgemacht. Inzwischen war allerdings zu hören, dass das game in Patras wieder in Gang war wie zuvor.

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Die Busfahrt dauerte drei Stunden. Wir fuhren hinüber auf den Peloponnes und am Golf von Korinth entlang. Patras, die drittgrößte Stadt Griechenlands, veranstaltete jedes Jahr vor der Fastenzeit einen berühmten Karneval; über den Sommer kamen dann die Touristenscharen, die, auf Liegestühlen unter dem Sternenhimmel Wein trinkend, mit den Fähren übersetzten, doch als wir am Busbahnhof ausstiegen, hatten die Reisebüros ringsum schon über den Winter geschlossen, und das Hafenviertel wirkte ausgestorben. Früher war der Fährhafen direkt hier in der Stadt gewesen, neben dem Marinestützpunkt, wo der Admiral der ionischen Flotte,290 wenn er zum Fenster hinausblickte, Migranten die Anlegeleinen hinaufklettern sah. Zu der Zeit hatte es am Stadtrand von Patras eine Barackenstadt gegeben,291 in der an die tausend Personen Obdach gefunden hatten, hauptsächlich Afghanen, doch die Polizei hatte sieben Jahre zuvor alles mit Planierraupen niedergewalzt. Dann wurde weiter im Süden der neue Fährhafen eröffnet, und die Migranten zogen in die aufgelassenen Fabrikgebäude ringsum.

„Die Nackten fürchten kein Wasser
Eine Reise mit afghanischen Flüchtlingen“
ISBN: 978-3-455-01513-3
Sprache: Deutsch
Erscheinungsdatum: 02. August 2022
400 Seiten

Mit geschulterten Rucksäcken gingen Omar und ich die Landstraße entlang auf die großen Schiffe in der Ferne zu. Nach ein paar Kilometern kamen wir zu einem Gebäudekomplex aus Backstein mit teilweise eingestürztem Schindeldach gegenüber dem Fährhafen. Vor dem Tor lungerten Männer herum, deren Kleider und Gesichter mit Öl verschmiert waren, andere kauerten auf unserer Straßenseite am Hafenzaun. Wir gingen zu ihnen und spähten ebenfalls durch die Zaunstäbe: Zwei Männer, der eine mit einem Brett auf der Schulter, pirschten sich geduckt an eine Reihe Lkws heran, die etwa hundert Meter entfernt standen.

»Wessen Reisende seid ihr, Brüder?«, fragte ein stämmiger Mann auf Dari. Ihm fehlte das rechte Auge.

»Wir sind eben erst aus Athen gekommen, wir haben noch keinen Schleuser«, antwortete Omar. In dem Moment kamen die beiden Migranten angerannt, verfolgt von einem Wächter auf einem Motorroller. Wir stoben alle davon zu den Bäumen auf der anderen Straßenseite. Als die zwei über den Zaun sprangen, drehte der Rollerfahrer ab und kehrte zu den Sattelzügen zurück. Der eine Zaunspringer, ein älterer Mann, schleppte sich zu uns herüber und verschnaufte, vornübergebeugt.

»Da, die Lastwagen da drüben«, sagte der einäugige Schleuser.

»Ihr klettert ins Untergestell eines Lkws und fahrt mit ihm los, direkt auf das Schiff dort.« Er deutete auf die riesige Fähre.

»Ist das nicht gefährlich?«, fragte Omar.

»Nein.«

Ein Koloss in Jogginghose kam auf uns zu und reichte uns seine Pranke. »Wessen Reisende seid ihr, Freunde?«

Wir seien neu, erklärte Omar. »Ist das hier die Holzfabrik?«

»Nein, die Pandschiri-Fabrik«, sagte der Einäugige. »Die andere ist da unten. Dort sind unsere lieben Landsleute, die Hazaras«, sagte er mit spöttischem Grinsen.

»Was passiert, wenn einen die Polizei schnappt?«, fragte Omar.

»Unterm Lastwagen? Nix passiert. Mach, dass du weiterkommst, sagen sie. Wenn sie dich allerdings im Lastwagen erwischen, landest du im Knast.«

»Aber geschlagen wird man nicht?«

»Die krümmen dir kein Haar.«

»Mir schon«, warf ein Jugendlicher mit schwarzer Schmiere auf der Wange ein. »Diese padar nalat haben mich an den Eiern erwischt. Sie stochern nämlich mit Stecken herum, ob sich jemand unter dem Lkw versteckt, und mich haben sie voll an den Eiern erwischt. Ich hab natürlich geschrien wie am Spieß.«

Der ältere Zaunspringer keuchte noch, als sein Begleiter ihm auf die Schulter tippte: »Los, komm. Sie sind weg.«

Die beiden rannten wieder über die Straße, sprangen wieder über den Zaun – das heißt, der Schleuser sprang, mit einer einzigen fließenden Bewegung, bei seinem Reisenden ging es wesentlich mühsamer. Aber fast sofort machten sie wieder kehrt. Diesmal kam der Aufpasser zu Fuß hinter ihnen her, rannte ihnen bis zum Zaun nach, steckte dann auch sein Telefon durch den Maschendraht und filmte uns alle. Wir drehten uns rasch um oder versteckten uns hinter den Bäumen.

»Der stellt das auf Facebook«, sagte der Junge mit dem Schmierfleck kichernd. Der Grieche hob das Holzbrett auf, das die beiden verloren hatten, und trat dagegen, um es zu zerbrechen, allerdings mit mäßigem Erfolg, was weiteres schadenfrohes Gelächter auslöste.

Der Koloss mit der Jogginghose meinte, wir sollten nicht mit Rucksäcken auf der Straße herumstehen, sondern ins Gebäude hereinkommen, aber wir dankten ihm und sagten, wir kämen später wieder, wir wollten erst die Holzfabrik sehen. Auf der Fernstraße machten wir uns wieder auf den Weg.

Achthundert Meter und einen Supermarkt weiter stand der nächste Komplex mit einem vierstöckigen Bürogebäude und einer Lagerhalle mit rotem Dach, auf dem in griechischen Buchstaben abex stand. Wir gingen den Holzzaun entlang bis zu einer Stelle, an der ein paar Latten abgerissen worden waren, und stiegen ein.

Durch wucherndes Gestrüpp sahen wir Leute in einem Hof stehen, der so groß wie ein Fußballfeld sein mochte. Aus den Ritzen im Asphalt schoben sich Gräser und Schösslinge. Die offene Lagerhalle krümmte sich um den Hof; rechter Hand war ein Hangar, drei Stockwerke hoch. Durch zerbrochene Fenster und Wellbleche konnte man tief ins dunkle Innere schauen. Links war eine erhöhte Laderampe, auf der drei Zelte standen. Ein paar Migranten saßen dort auf ergatterten Möbeln, andere standen im Hof und plauderten mit einer Gruppe junger Männer und Frauen in Jeans und Pullover, die wie Mitarbeiter einer Hilfsorganisation aussahen.

Wir gingen auf die Laderampe zu, wo eine von verkohltem Holz und rußigem Blech eingefasste Feuerstelle war. Ein hängebackiger Mann mittleren Alters stand von seinem Campingstuhl auf und begrüßte uns herzlich. Er stellte sich als Haider aus Kabul vor.

»Ihr müsst euch hier einen guten Schleuser suchen. Mit unserem sind wir nicht zufrieden. Er heißt Abu Fazl«, sagte er und deutete mit dem Kinn auf einen großen bärtigen jungen Mann. »Zahlt kein Bargeld, deponiert das Geld bei einem Geldwechsler, damit ihr nicht auf einen bestimmten Schleuser angewiesen seid.«

»Wer ist denn der beste?«, fragte Omar.

»Dschawad Zaun ist ziemlich gut. Das ist der dort.« Er deutete auf einen Mann in grauen Shorts und Strickmütze, der in dem Moment durch den Hof kam.

»Was ist mit Rambo?« Omar hatte den Namen in Athen gehört: Der sei der Beste, hieß es.

»Rambo und Onkel sind momentan nicht hier. Morgen kommen sie wohl.«

Es stellte sich heraus, dass Omar und Haider beim selben US-Vertragspartner in Kabul gearbeitet hatten. Während sie Erfahrungen austauschten, kam ein jüngerer Mann auf mich zu, der eine schmutzige Trainingshose trug. Wir musterten einander; seine Wangen waren tiefrot, und seine Nase mündete in eine himmelwärts gewandte Spitze.

Termine mit Matthieu Aikins in Deutschland: 9.9.22, Berlin, Internationales Literaturfestival; 15.9.22, Köln, Lesung und Diskussion; 16.9.22, Hamburg, Lesung und Gespräch.

»Salam«, sagte er. »Wo bist du her?«

»Kabul.«

»Wo in Kabul?«

»Schahr-e Nou.«

»Wo in Schahr-e Nou?«

»Qala-e Fatullah.«

»Wo in Qala-e Fatullah?«

»Wazirabad-Straße.«

»Echt?«, fragte er lang gezogen. »Gibt’s nicht. Ich bin aus der Wazirabad und kenne jeden dort. Wieso hab ich dich nie gesehen?« Ich war in einer gewissen Verlegenheit, doch Omar kam mir zu Hilfe, indem er den Knaben seinerseits mit Fragen löcherte. Die beiden bombardierten sich eine Zeit lang mit Namen von Polizeichefs und Schulrektoren, bis der andere offenbar die Echtheit unserer Herkunft akzeptierte und die Hand ausstreckte. »Ich bin Scharif.

Seit drei Monaten hier in Patras. Keine Sorge, ich zeige euch, wie alles hier läuft.«

Die Mitarbeiter der Hilfsorganisation kamen zu uns herüber; sie waren von Praksis, einer medizinischen Einrichtung, und die lokale Koordinatorin, eine junge Frau namens Maria, führte ein paar belgische Kollegen herum, die zu Besuch waren. Sie begrüßte uns mit Hilfe ihres Dolmetschers, eines Afghanen, der ein Hemd mit geknöpftem Kragen trug und eine Brille mit eckigen Gläsern. Praksis betreibe ein Heim für unbegleitete Minderjährige in Patras, erklärte sie, aber sie hätten auch eine Anlaufstelle für Erwachsene, die bei ihnen Frühstück und eine Dusche bekämen.

»Ich war im besten Minderjährigenheim von Athen, und es wurde von Praksis betrieben«, rief ein iranischer Junge im Trainingsanzug.

Ich drehte mich um, weil ich ein quietschendes Geräusch hinter mir vernahm, und sah einen Mann, nackt bis auf gräuliche Boxershorts und Pantoffeln, der einen Einkaufswagen vor sich herschob; darin eine Lidl-Tüte, in die er seine Klamotten gestopft hatte. Niemand beachtete ihn, als er den Hof überquerte.

Mit noch tiefer geröteten Wangen starrte Scharif Maria an. »Frag sie, ob sie auch was gegen gebrochene Herzen tun können«, forderte er den Dolmetscher auf.

Maria lächelte, gab aber keine Antwort.

»Wisst ihr, wir waren fünfzehn vor fünfzehn Jahren, vielleicht habt ihr auch für uns einen Platz in einem Minderjährigenheim«, witzelte Omar auf Englisch, und die Belgier lachten. Omar begann ihnen von seiner Arbeit bei den Koalitionstruppen zu erzählen.

Ich schlenderte davon, tiefer hinein in das Lagerhaus, und staunte über die vielen Ebenen auf unterschiedlicher Höhe, die über Leitern und Treppen miteinander verbunden waren. Obwohl alle Oberflächen im Gebäude entweder verrostet waren oder abblätterten, sahen die Zedernholzbalken, die Stahlträger und Betonplatten aus, als hielten sie bestimmt noch ein Jahrhundert durch. Ich betrat einen zweiten Hof, an dessen anderem Ende das vierstöckige Bürogebäude stand. Die Glassplitter, die noch in den Fensterrahmen steckten, spiegelten die untergehende Sonne, und als ich den Blick hob, sah ich über den aufgespannten Wäscheleinen im obersten Stock eine Silhouette eine Leiter zum Turm auf dem Dach hinaufklettern.

Ich kehrte zurück, Maria und ihre Truppe waren fort, und Omar kickte mit Dschawad Zaun, Scharif und einem anderen afghanischen Jungen einen Fußball herum. Omar fragte den Schleuser, wie es mit der Alternative zur Beförderung unter dem Lkw aussehe, nämlich als Nachtfracht.

»Das hab ich früher gemacht, aber jetzt nicht mehr«, sagte Zaun mit ausgeprägtem Hazaragi-Akzent. Er hatte ein sympathisches verwittertes Gesicht, das komplett frei von Behaarung aller Art war.

»Es ist teuer. Außerdem hab ich momentan zu viele Reisende. Warum versucht ihr’s nicht einfach?« Er lächelte über Omars Zögern und sagte, zu den anderen gewandt: »Die Leute, die aus Athen kommen, haben immer erst mal Angst.« Aktuell Feuilleton

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