Richtungswechsel
Vier Tote in einer Woche
Anfang August tötete die Polizei vier Menschen. Mindestens drei von ihnen hatten einen Migrationshintergrund. Bloßer Zufall oder Fehler im System?
Von Berthe Obermanns Mittwoch, 31.08.2022, 19:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 31.08.2022, 14:49 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Die Polizei hat ein Rassismus-Problem – und das nicht erst seit gestern. Wenn aber innerhalb einer Woche vier Menschen durch Polizeigewalt sterben, zeigt dies einmal mehr, welche Auswüchse institutionelle Gewalt und rechte Strukturen bei den Sicherheitsbehörden mittlerweile angenommen haben.
Am 02.08.2022 tötete das SEK Frankfurt einen 23-jährigen, aus Somalia stammenden Wohnungslosen durch einen gezielten Kopfschuss.
Nur einen Tag später wurde in Köln ein 48-jähriger Straßenmusiker mit Migrationshintergrund, der sich gegen die Zwangsräumung seiner Mietwohnung gewehrt hatte, bei einem Polizeieinsatz erschossen. Der Getötete hatte für den Fall einer Räumung mit Suizid gedroht. Dennoch waren ausschließlich Gerichtsvollzieher und die Polizei vor Ort.
Vier Tage später, am 07.08.2022, verstarb im Kreis Recklinghausen ein 39-jähriger Mann nach Fixierung und Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei. Er hatte in seiner Wohnung randaliert. Nach dem Tod des Mannes erklärte ein Polizeisprecher, man gehe davon aus, dass der Verstorbene unter Drogeneinfluss gestanden habe. Dass Pfefferspray in Wechselwirkung mit Drogen oder Psychopharmaka tödlich sein kann, gilt als bekannt. Nunmehr hat die Staatsanwaltschaft die Obduktion des Leichnams angeordnet.
Am 08.08.2022 musste Mouhamed D. sterben. Der 16-Jährige war unbegleitet aus dem Senegal geflohen. Vor seinem Tod lebte er in einer Jugendhilfeeinrichtung in Dortmund. Ein Betreuer hatte die Polizei verständigt und am Telefon nicht nur mitgeteilt, dass der Jugendliche ein Messer bei sich trage, sondern auch explizit auf die Selbsttötungsgedanken von Mouhamed D. hingewiesen, der deshalb bereits in psychiatrischer Behandlung gewesen war.
Die Polizei rückte an. Zu elft. Die Bodycams waren ausgeschaltet. Nach dem Einsatz von Pfefferspray und dem zweimaligen Gebrauch von Distanz-Elektroimpulsgeräten (sogenannten Tasern), feuerte einer der Beamten sechs Schüsse aus einer Maschinenpistole ab. Fünf Kugeln trafen den Jugendlichen in Schulter, Bauch, Arm und Kopf.
„Fünf Schüsse auf einen Jugendlichen, der niemand anderen außer sich selbst gefährden wollte.“
Fünf Schüsse auf einen Jugendlichen, der niemand anderen außer sich selbst gefährden wollte. Hätten nicht Gespräche stattfinden können? Hätte es keine anderen Möglichkeiten gegeben als den Einsatz einer Maschinenpistole? Hätte die Polizei nichts anderes tun können, als mutmaßlich gezielte Schüsse auf Bauch und Gesicht abzufeuern? Wie kann es sein, dass eine suizidgefährdete Person nach einem Notruf auf elf Polizisten trifft? Warum war keine psychologische Betreuung vor Ort?
Diesen offenen Fragen soll nun nachgegangen werden – aus Neutralitätsgründen wird eine andere Polizeibehörde die Ermittlungen leiten, und zwar die Behörde Recklinghausen. Den dortigen Todesfall, der infolge von Fixierung und Pfeffersprayeinsatz eingetreten war, soll die Dortmunder Behörde überprüfen. Es braucht keine allzu große Fantasie, um sich auszumalen, wie neutral und unabhängig diese „Ermittlungen“ ablaufen werden.
Dabei wäre – insbesondere aufgrund der massiven Häufung von Todesfällen – eine unabhängige und unvoreingenommene Ermittlung von enormer Wichtigkeit. Wirft man einen Blick in die Vergangenheit, wird nämlich offensichtlich, dass es sich bei den vier Toten um mehr als bloße Einzelfälle handelt. So hat das Bündnis „Death in Custody“ ermittelt, dass in Deutschland seit 1990 insgesamt 213 von Rassismus betroffene Personen im Gewahrsam und durch Polizeigewalt zu Tode gekommen sind. Oury Jalloh, der 2005 im Polizeigewahrsam in Dessau an eine Matratze gefesselt und schließlich angezündet wurde, dürfte der bekannteste unter ihnen sein. Doch er ist bei Weitem nicht der einzige; zumal die Dunkelziffer vermutlich deutlich höher ist.
„Besonders erschütternd ist jedoch, dass die meisten dieser Fälle weder aufgearbeitet noch geahndet werden und die Polizei in erster Linie sich selbst schützt.“
Dass es überhaupt wieder und wieder zu solchen Todesfällen kommt, ist für sich genommen schon ein Skandal. Besonders erschütternd ist jedoch, dass die meisten dieser Fälle weder aufgearbeitet noch geahndet werden und die Polizei in erster Linie sich selbst schützt.
So wurde Anfang August bekannt, dass Beamte der Frankfurter Polizei von Kollegen gezielt davor gewarnt wurden, ihre Handys könnten möglicherweise im Rahmen verdeckter Ermittlungen auf rechtsextreme und verfassungswidrige Inhalte durchsucht werden. Die Polizeibeamten hatten anschließend genug Zeit, um sämtliche Beweismittel zu vernichten, die auf ihre Organisierung in rechtsextremen Chatgruppen hinweisen könnten, und zwar auf solche Chatgruppen, wie sie bereits im vergangenen Jahr bei der Frankfurter Polizei aufgefallen waren.
Und nur zur Erinnerung: Seit Februar läuft am Landgericht Frankfurt das „NSU 2.0“-Verfahren wegen rechtsextremistischer Drohschreiben gegen Prominente und Behörden. Angeklagt ist ein Mann aus Berlin. Doch auch die Rolle der Polizei steht im Fokus. So wurden in mindestens vier Drohschreiben persönliche Daten der Betroffenen genutzt, die kurz zuvor von Polizeirechnern abgefragt worden waren, ohne dass dafür ein Anlass erkennbar war. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Täter unter einem Vorwand bei Polizeirevieren angerufen habe, um auf diese Weise an die Daten zu gelangen. Auffällig ist jedoch, dass sich kein einziger Beamter an die vermeintlichen Abfragen erinnern kann. Und es gibt noch zahlreiche weitere Indizien gegen die Polizei. Die Staatsanwaltschaft scheint darin allerdings keinen Grund zu sehen, Ermittlungen gegen die involvierten Beamten einzuleiten.
„Die Sicherheitsbehörden sind in erster Linie damit beschäftigt, sich selbst und ihre Stellung zu schützen, Bemühungen um Aufklärung stoßen bei Polizei, Justiz und Politik in der Regel auf Abwehr. „
Diese Ereignisse, die sich in ähnlicher Form auch in anderen Regionen Deutschlands zutragen, machen deutlich, dass es sich nicht um bloße Einzelfälle handelt, sondern vielmehr um Systemversagen. Die Sicherheitsbehörden sind in erster Linie damit beschäftigt, sich selbst und ihre Stellung zu schützen, Bemühungen um Aufklärung stoßen bei Polizei, Justiz und Politik in der Regel auf Abwehr. Ermittlungen finden zwar – zumindest in der Theorie – statt, doch zu Verurteilungen von Polizisten kommt es so gut wie nie, zumal die große Mehrheit der Fälle von Polizeigewalt gar nicht erst zur Anzeige gebracht wird.
Laut einer Studie der Ruhr-Universität Bochum zeigen lediglich neun Prozent der Opfer von Polizeigewalt die Tat an; oft in Absprache mit Strafverteidigern, die um die geringen Erfolgsaussichten wissen. Bei Geflüchteten, die sich noch im Asylverfahren befinden, kommt hinzu, dass sie entweder nicht über ihre Rechte informiert wurden oder schlichtweg Angst haben, sich dem Staat entgegenzustellen und dadurch unter Umständen die Möglichkeit aufs Spiel zu setzen, einen Schutzstatus in Deutschland zu erhalten.
Doch auch für andere Betroffene gilt: Bei Verfahren gegen Polizeibeamte braucht es „stärkere“ Beweise als in allen anderen Prozessen. Hinzu kommt, dass Anzeigen gegen Polizisten in der Regel Gegenanzeigen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach sich ziehen. Die Hürden hierfür sind niedrig. So reicht es beispielsweise schon aus, wenn eine Person, die von der Polizei abtransportiert wird, sich windet, mit den Beinen strampelt oder den Körper versteift.
„Eine Studie der Ruhr-Universität Bochum hat ergeben, dass 93 Prozent der Ermittlungsverfahren gegen Polizisten eingestellt werden.“
In den wenigen Fällen, in denen es doch zu einer Anzeige durch die Betroffenen kommt, sind die Erfolgsaussichten gering. So hat die bereits erwähnte Studie der Ruhr-Universität Bochum ergeben, dass 93 Prozent der Ermittlungsverfahren gegen Polizisten eingestellt werden. Sofern es doch zu einer Anklage kam, endeten nur sieben der insgesamt 3.400 untersuchten Fälle damit, dass ein Polizist auch verurteilt wurde. Denn: Sofern es keine anderen Beweismittel gegen die Polizei gibt, glaubt die Staatsanwaltschaft in der Regel den Beamten. Schließlich arbeiten Staatsanwaltschaft und Polizei im selben Lager. Häufig kennen sie sich persönlich.
Hierdurch wird von vornherein verhindert, dass Polizisten zur Rechenschaft gezogen werden. Solange sich dies nicht ändert, werden Racial Profiling und körperliche Übergriffe bei Polizeieinsätzen weiterhin an der Tagesordnung sein, wird es auch in Zukunft zu Todesfällen im Gewahrsam sowie zu gezielten Schüssen durch die Polizei kommen. Umso wichtiger wäre es, endlich unabhängige Ermittlungen zu gewährleisten und nicht weiter die Augen zu verschließen vor institutioneller Gewalt und strukturellem Rassismus. Schließlich verschlimmert das Ausbleiben einer Aufarbeitung die Situation noch zusätzlich und ruft – insbesondere im Umfeld der Betroffenen – Empörung, Ängste und Unverständnis hervor. Und dies zu Recht.
„Denn es ist zumindest mehr als fraglich, ob die Polizei auch zu elft angerückt wäre, wenn ein weißer, christlicher Jugendlicher mit Suizidgedanken ein Messer bei sich getragen hätte.“
Denn es ist zumindest mehr als fraglich, ob die Polizei auch zu elft angerückt wäre, wenn ein weißer, christlicher Jugendlicher mit Suizidgedanken ein Messer bei sich getragen hätte. Wäre auch er erschossen worden? Hätte die Polizei in einem solchen Fall ebenfalls keine andere Möglichkeit gesehen, als mehrere Kugeln abzufeuern?
Es darf nicht sein, dass Staat und Institutionen darüber entscheiden, welche Leben Relevanz haben und welche nicht. Solange diskriminierende, rassistische und rechtsextreme Äußerungen vom eigenen Personal geduldet werden, solange sich Polizei und andere staatliche Stellen gegenseitig decken und es keine unabhängigen Ermittlungen gegen Polizeibeamte gibt, ist es kaum möglich, sich in diesem Land sicher zu fühlen; zumindest nicht als Schwarzer Mensch oder PoC, als Person mit Migrationshintergrund oder Psychiatrieerfahrung, als Wohnungsloser oder Mensch in einer prekären Lebenssituation, kurzum: als Mensch, der nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft ist. Meinung
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