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"Dschinns" von Fatma Aydemir, erschienen im Carl Hanser Verlag

Unerzählte Geschichten

Gespräch mit Fatma Aydemir zu ihrem neuen Roman „Dschinns“

Eine „Gastarbeiterfamilie“, sechs Personen, sechs Vorstellungen und Erfahrungen. Im neuen Buch von Fatma Aydemir geht es um Migration, Assimilation, Frauenunterdrückung und Geheimnisse innerhalb der Familie. Die Autorin erklärt im MiGAZIN-Gespräch, warum ihr Perspektiven wichtig sind und was diese bisher unerzählten Geschichten bewirken können.

Von Donnerstag, 24.03.2022, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 24.03.2022, 5:45 Uhr Lesedauer: 11 Minuten  |  

In ihrem neuen Roman „Dschinns“ erzählt Fatma Aydemir die Geschichte einer sogenannten Gastarbeiterfamilie aus der Türkei, die in der Suche nach Abendbrot nach Deutschland ausgewandert ist. Die Geschichte fängt mit dem Tod des Familienvaters an, einem tragischen Ereignis, das alle Mitglieder der erschöpften Familie zusammenbringt. Nach und nach fangen sie endlich an, miteinander zu reden und ihre Geheimnisse zu enthüllen.

Aus Perspektive jedes Familienmitglieds wird erzählt, was die Familie durchgemacht hat. Das Buch handelt nicht nur von der Geschichte der Assimilation und Fremdheit in Deutschland, sondern auch in der türkischen Heimat. Und es geht um die Fremdheit einzelner Familienmitglieder innerhalb der eigenen Familie. „Dschinns“ stellt dar, wie die Unterdrückung, sei es durch den autoritären Staat, patriarchale Strukturen und rassistische Gesellschaft, Menschen für immer traumatisiert und Familien auseinandernimmt.

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Omid Rezaee: Frau Aydemir, was hat Sie in der ersten Linie bewegt, einen Roman über eine sogenannte Gastarbeiterfamilie in Deutschland zu schreiben?

Fatma Aydemir: Die Idee für „Dschinns“ entstand aus der Figur Hüseyin heraus. Das erste, was ich von dem Roman hatte, war tatsächlich das erste Kapitel: dieser Mann, der der ersten Generation der sogenannten Gastarbeiter:innen angehört und der in dem Moment, in dem er in die Rente gehen kann, gar nicht mehr imstande ist, seine Freiheit zu genießen. Er stirbt direkt am Anfang der Geschichte. Ich kenne solche Männer. Es ist eine traurige Geschichte, die sich immer wieder fortsetzt: Entweder sind sie in der Rente zu krank, um noch ihr Leben und ihre Rente genießen zu können, oder sie sterben tatsächlich sehr früh. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, ich weiß nicht besonders viel über sie, was in ihnen vorgeht, wie es ihnen ergangen ist, bevor sie ausgewandert sind, wie es ihnen nach der Auswanderung ergangen ist. Dadurch entstanden viele Fragen um die Figur Hüseyin herum. Also habe ich entschieden, seine Familienmitglieder nach und nach in jedem Kapitel abzuklappen, um von ihnen zu erfahren, wer Hüseyin gewesen ist.

Könnte man sagen, dass „Dschinns“ die literarische Fortsetzung Ihres Essays „Arbeit“ ist, der 2019 in dem Band „Eure Heimat ist unser Albtraum“ erschienen ist?

Der Anfang des Romans ist tatsächlich in der Zeit entstanden, als ich gerade den Essay für „Arbeit“ fertig geschrieben hatte. Man könnte sagen, dass ich in diesem Roman über dasselbe Problem auf eine poetische Weise nachgedacht habe. In „Dschinns“ steht aber vielmehr im Zentrum, wie die Sorgen der ersten Generation von Arbeitsmigrant:innen die nachfolgenden Generationen beeinflussen.

In zahlreichen Büchern von Autor:innen mit sogenanntem Migrationshintergrund wird eine Art Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Kindern thematisiert. „Vater und ich“ von Dilek Güngör (2021) ist ein Beispiel. Auch in deinem vorherigen Roman „Ellbogen“ kann die Hauptfigur Hazal nichts mit ihren Eltern anfangen und spricht kaum mit ihrem Vater. Auch in „Dschinns“ begegnen wir einer Familie voller Geheimnisse, deren Mitglieder miteinander nicht sprechen können. Einige Figure sind auch nicht der Lage, mit ihrer Umgebung ins Gespräch zu kommen. Ist die Sprachlosigkeit, die durch Migration entsteht unvermeidbar oder hängt mit den Umständen von Migrant:innen und Migration zusammen?

Ich glaube nicht, dass ich darauf eine allgemeingültige Antwort geben kann. Es hat sicher etwas mit der Migrationserfahrung zu tun. Aber es gibt auch Umstände, die diese Sprachlosigkeit beeinflussen, wie der Zeitpunkt der Migration. Die Familie in meinem Buch kommt in den 70er-Jahren aus einer sehr ländlichen Gegend in der Türkei, die nicht vergleichbar mit der heutigen Türkei ist und auch nicht mit dem damaligen Deutschland. Es gab kaum Infrastrukturen, das Land befand sich zwischen zwei Putschen, das Bildungssystem war sehr fragil, vor allem in den ländlichen Regionen der Türkei war es nicht selbstverständlich, dass Mädchen zur Schule gehen. In dieser Zeit war der Kontrast zu Deutschland einfach sehr, sehr groß, viel größer als in der heutigen digitalisierten Welt. Es kommen ganz viele Faktoren zusammen, die den Kontrast verstärken zwischen dem Kontext, in dem die Eltern sozialisiert sind, und dem, in dem die Kinder sozialisiert werden. Dadurch ist es vollkommen verständlich, dass solche Gräben zwischen den Generationen entstehen in der Art und Weise, wie sie auf die Welt blicken und was sie von ihrem Leben erwarten. Außerdem handelt es sich in meinem Roman um eine kurdische Familie, die bereits in der Türkei eine Assimilation durchgemacht hat. Das heißt, die Eltern haben eine andere Muttersprache als ihre Kinder, aber sie thematisieren das nicht. Über die kurdische Herkunft wird innerhalb der Familie nicht gesprochen. Natürlich macht das etwas mit der Kommunikation unter den Familienmitgliedern.

In „Dschinns“ sind eine Reihe von Themen adressiert: Migration, Assimilation im eigenen Land und Rassismus in dem anderen, Frauenunterdrückung, Geheimnisse innerhalb der Familie. War das eine bewusste Entscheidung von Ihnen, all diese Themen in einem Roman anzusprechen oder geht es anders gar nicht? Muss man all diese Konflikte thematisieren, wenn man die Geschichte einer sogenannten Gastarbeiterfamilie erzählen möchte?

Ich gehe beim Schreiben nicht nach Themen vor, sondern nach Figuren. In diesem Buch schaue ich sechs Figuren in den Kopf. Dass ich in jedem Kapitel eine andere Perspektive annehme, führt dazu, dass unterschiedliche Erfahrungen sichtbar werden. In dem Roman geht es viel um das Konstrukt „Familie“, was es für die einzelnen Figuren bedeutet, wie sie damit hadern. Und mir war wichtig zu erzählen, wie unterschiedlich Menschen sich definieren können, die zu ein und derselben Familie gehören. Dass zum Beispiel der türkisch-kurdischen Konflikt mit reinkommt, ist für mich unvermeidbar.

„Hier in Deutschland wird ja seit über 50 Jahren angenommen, eine sehr homogene Gruppe von Leuten sei aus der Türkei gekommen, die alle Türk:innen und muslimisch wären und alle Türkisch sprächen.“

Hier in Deutschland wird ja seit über 50 Jahren angenommen, eine sehr homogene Gruppe von Leuten sei aus der Türkei gekommen, die alle Türk:innen und muslimisch wären und alle Türkisch sprächen. Das ist immer noch ein sehr dominantes Narrativ. Für mich wäre es eine unrealistische Geschichte, dieses Narrativ weiterzuführen, weil es meiner Realität nicht entspricht.

Und wenn ich über den Familienbegriff nachdenke, ist mir klar, dass patriarchale Strukturen eine große Rolle spielen und dass es dabei eben nicht nur darum geht, zu sagen: Frauen werden unterdrückt, Männer sind die Unterdrücker, fertig, sondern zu zeigen, dass die männlichen Figuren in diesem Buch eben genauso unter diesen Strukturen leiden. Es gibt Figuren, die innerhalb dieser Familienkonstellation heteronormative Beziehungsformen in Frage stellen, weil ich finde, dass das zum Familiendiskurs dazu gehört. Es ist 2022 und Familie wird immer noch von vielen Menschen als ideale Konstellation gesehen. Ich finde es extrem gefährlich, immer davon auszugehen, dass die Familie zwingend ein Schutzraum für Menschen wäre. Für viele Menschen ist es einfach nicht so.

Ein interessanter Punkt in dem Roman ist, dass diese Arbeitsmigrant:innen nichts vom Holocaust gehört hatten und nichts von der deutschen Geschichte wussten. Hat Ihrer Meinung nach diese Unwissenheit ihr Leben in Deutschland beeinflusst? Überspitzt könnte man fragen: Wären diese Menschen nicht nach Deutschland ausgewandert, wenn sie vom Holucast gewusst hätten?

„Es ist schwierig zu sagen, die Leute wären nicht gegangen, wenn sie vom Holocaust gewusst hätten, denn wer seine Familie nicht durchbringen kann, wäre natürlich trotzdem gegangen, aber vielleicht mit einer anderen Vorsicht.“

Das kann ich nicht sagen, aber wahrscheinlich hätten sich die Menschen bewusster entschieden und sich andere Gedanken gemacht. Denn es ist ja nicht so, dass diese Leute aus Langeweile nach Deutschland gekommen sind. Es handelte sich um einen Überlebenskampf angesichts der wirtschaftlich katastrophalen Zustände in der damaligen Türkei, viele Menschen hatten einfach keine andere Möglichkeit als auszuwandern. Und das Anwerbeabkommen war ja auch im Interesse des türkischen Staats. Insofern ist es schwierig zu sagen, die Leute wären nicht gegangen, wenn sie vom Holocaust gewusst hätten, denn wer seine Familie nicht durchbringen kann, wäre natürlich trotzdem gegangen, aber vielleicht mit einer anderen Vorsicht.

Ein relativ bekanntes Phänomen unter Migrant:innen ist, dass sie erst nach der Auswanderung, nachdem sie in einem anderen Land unterkommen, mit der Suche nach ihren Wurzeln anfangen. Das führt sogar zum extremen Nationalismus und einer unrealistischen Nostalgie nach der sogenannten Heimat. Zum Beispiel ist die iranische migrantische Gesellschaft teilweise davon geprägt, aber auch die türkische. Ist das, was auch der Familie von „Dschinns“ passiert? Die Suche nach der kurdischen Herkunft nach zwei Generationen?

Das ist schwer zu vergleichen. Es gibt sehr viele Leute, die ja lange Zeit gar nicht wissen, dass sie eine kurdische Herkunft haben, aufgrund dieser sehr extremen Assimilationspolitik in der Türkei. Über Jahrzehnte hinweg wurde dort kurdischen Menschen gesagt, sie würden nicht existieren, ihre Sprache sei ausgedacht, und wenn sie etwas anderes behaupteten, seien sie Verräter und würden bestraft. Im Zuge dessen würde ich sagen, es gibt viele Familien, auch gerade in Deutschland, bei denen diese kurdische Herkunft abgelegt und verschwiegen wurde.

In der Familie, von der ich erzähle, gibt es eben die Tochter Peri, die die erste in der Familie ist, die an die Uni geht und sich da stark politisiert. Peri fängt an, aus einer linken Perspektive über Unterdrückung nachzudenken, somit auch über die eigene Familiengeschichte und die kurdische Bewegung, die ja in den 90er-Jahren schon sehr im Fokus stand und kriminalisiert wurde. Ihr großer Bruder Hakan wiederum will nichts damit zu tun haben. Er versteht sich als Türke und bewegt sich in der türkischen Diaspora, die eine sehr romantische Beziehung mit der Türkei hat und das Land idealisiert. Mir war es wichtig zu erzählen, dass Menschen innerhalb derselben Familie ihre Identitäten ganz unterschiedliche konstruieren können. Und gerade in der Diaspora spielen Fragen nach Herkunft und Zusammenhalt immer eine größere Rolle als bei Menschen, die zur Mehrheitsgesellschaft gehören.

Über „Dschinns“ hinaus, Sie gehören zu dieser Generation der deutschen Autor:innen mit Migrationshintergrund, die in den letzten Jahren angefangen haben, die deutsche Geschichte aus einer anderen Perspektive zu erzählen. Die Geschichte von Gastarbeiter:innen war einigermaßen in der deutschen Literatur kaum vorgekommen. In den letzten Jahren sehen wir, dass Verlage mehr Interesse zeigen und Stimmen wie Ihnen mehr Gehör finden. Hat sich die deutsche Literaturszene Ihrer Beobachtung nach gegenüber anderen Stimmen, gegenüber migrantischen Stimmen geöffnet oder ist mindestens auf dem Weg dahin oder ist all das eine vorübergehende Tendenz, wie manche finden, ist bald damit vorbei?

„Ich stelle gerade bei den Interviews zu meinem neuen Roman fest, dass es im Vergleich zu vor fünf Jahren viel mehr Sensibilität gibt bei den Gesprächspartner:innen. Es kommen zwar immer noch recht exotisierende Fragen, aber nicht mehr so viele wie vor fünf Jahren. „

Ich hoffe natürlich nicht, dass das eine Tendenz ist, die wieder vorbeigeht. Aber ich bin auch ein bisschen skeptisch. Denn der Literaturbetrieb ist nicht nur weiß-dominiert, sondern auch ein sehr bürgerlicher Betrieb, der von der oberen Mittelschicht dominiert ist und zu dem insofern Menschen dieser Klasse einen besseren Zugang haben. Das ändert sich ein bisschen. Diese Änderung hängt auch damit zusammen, dass eine jüngere Generation in den Verlagen angekommen ist, also die Lektor:innen einfach jünger sind und einen anderen Blick auf Literatur, auf gesellschaftliche Themen und überhaupt auf die Kulturszene haben. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass es Interesse daran gibt, ein neues Publikum zu erreichen, an das man Bücher verkaufen will. Man kann also damit auch Geld verdienen. Diese neoliberale Diversity-Schiene ist ja nicht unbedingt politisch motiviert, sondern oft eine rein wirtschaftliche Entscheidung.

Was mich aber ein bisschen hoffnungsvoll stimmt, ist: Mein vorheriger Roman „Ellbogen“ ist vor genau fünf Jahren erschienen. Das heißt, ich stelle gerade bei den Interviews zu meinem neuen Roman fest, dass es im Vergleich zu vor fünf Jahren viel mehr Sensibilität gibt bei den Gesprächspartner:innen. Es kommen zwar immer noch recht exotisierende Fragen, aber nicht mehr so viele wie vor fünf Jahren. Ich glaube die Leute akzeptieren langsam, dass ich einfach nur Romane und Figuren schreiben möchte, die nicht stellvertretend für alle Migrant:innen in Deutschland stehen müssen, sondern einfach nur unerzählte Geschichte erzählen.

Und Sie sind optimistisch, dass irgendwas sich in der Gesellschaft durch Erzählen dieser unerzählten Geschichten ändern kann? Haben Sie den Anspruch in Ihren Geschichten, eine Veränderung voranzutreiben?

Ich habe eine bestimmte Haltung, die sich auch in den Geschichten widerspiegelt, die ich schreibe. Aber wenn ich einen Roman schreibe, dann nehme ich mir nicht vor, den Leser:innen zu erklären, was sie zu tun haben. Das maße ich mir nicht an und das interessiert mich auch nicht. Ich glaube aber schon, dass Geschichten uns und unseren Blick auf die Welt verändern können. Je mehr Geschichten wir einander erzählen, desto näher können wir uns kommen. Aktuell Feuilleton

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