Buchtipp zum Wochenende
„Heimstraße 52“ von Selim Özdoğan
Vom Gefühl des Fremdseins und der Heimatlosigkeit, von Heimweh und Alltag, von Glücksmomenten und der Sehnsucht nach Stabilität erzählt Selim Özdoğan gefühlvoll und feinsinnig in seinem Roman Heimstraße 52.
Von Paula Remann Freitag, 17.05.2013, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 22.05.2013, 0:20 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Der 1971 in Köln geborene Autor schildert in seinem Fortsetzungsroman das Leben der Protagonistin Gül. (Der Vorgänger „Die Tochter des Schmieds“ erzählt von ihrer Kindheit und Jugend). Die junge Türkin ist nun verheiratet und Mutter von zwei kleinen Mädchen. Ende der 60er Jahre lässt sie ihre Kinder bei Verwandten in der Türkei zurück, um ihrem Mann nach Deutschland zu folgen. Getrieben von dem Wunsch nach einem besseren Leben, Geld und Sicherheit, versucht das Ehepaar, sich im Deutschland der 60er und 70er Jahre zurechtzufinden.
„Lang war die Reise, lang wie die Reisen im Märchen.“ Besonders Gül erlebt das ihr fremde Deutschland oft als verwirrend und kompliziert. Sie hat Heimweh nach ihrem alten Leben in dem kleinen Dorf in Anatolien, ihrem Vater, den Schwestern und vor allem ihren Töchtern. Jeden Tag wartet sie auf Briefe aus der Heimat, die ihr für kurze Zeit das erleichternde Gefühl geben, am Leben ihrer weit entfernten Familie Anteil nehmen zu können. Doch obwohl Sehnsucht und Heimweh ihre Gefühlswelt bestimmen, lässt Gül sich nicht unterkriegen und bemüht sich erfolgreich, ihren neuen Alltag zu meistern. Sie arbeitet fleißig, kümmert sich um den Haushalt und um ihren Mann, der, allem Fleiß zum Trotz, sein Geld gerne für Alkohol und Glücksspiele ausgibt.
Aber trotz diverser Hindernisse schleicht sich nach und nach der Alltag in das Leben der kleinen Familie ein. Die Jahre vergehen, Gül kann ihre Töchter nach Deutschland holen und das vormals fremde Land wird zu einer zweiten Heimat.
Obwohl die türkische Familie in Deutschland Arbeit, eine Wohnung und viele Freunde hat, steht immer auch die Frage im Raum, wann endlich die Zeit gekommen ist, wieder in die Türkei zurückzukehren.
Eines Tages, als ihre ältere Tochter bereits verheiratet ist, beschließt Gül, dass dieser Moment für sie nun gekommen ist. Gemeinsam mit ihrer zweiten Tochter zieht sie zurück in ihr bereits fertig gebautes Haus in der Türkei. Doch obwohl sie überglücklich ist, endlich wieder daheim zu sein und ihren Vater jeden Tag sehen zu können, muss Gül erkennen, dass das Gefühl von Fremdsein auch in der eigenen Heimat vorherrschen kann.
Einfühlsam baut Selim Özdoğan eine Welt, die geprägt ist von Fremd- und Anderssein, von Heimweh und Sehnsucht. Mithilfe der vielschichtigen Gefühlswelt der Protagonistin Gül erzählt er von Sprachproblemen, Missverständnissen und der immerwährenden Sehnsucht nach Geborgenheit – selbst an Orten, die man als Heimat bezeichnet.
Die Geschichte von Gül und ihrer Familie ist exemplarisch für eine ganze Generation von Einwanderern, die im Kontext der Anwerbeabkommen nach Deutschland kommen, immer getrieben vom Wunsch nach einem besseren Leben. Deutschland steht zu dieser Zeit für Wohlstand und ausgezeichnete Lebensbedingungen. Zu leicht wird vergessen, welche Kosten der Umzug in ein fremdes Land immer auch mit sich bringt.
Sprachprobleme und kulturelle Unterschiede bestimmen den Alltag. Inmitten dieser zahlreichen Herausforderungen versucht jeder, ob Einwanderer oder Deutscher, sein Leben erfolgreich zu meistern.
Selim Özdoğans Roman ist still und unaufdringlich, Güls Geschichte weder einzigartig noch besonders dramatisch. Beim Lesen schwingt immer auch eine gewisse Melancholie mit. Doch der Autor schafft es meisterhaft, diese Schwermut nicht Überhand gewinnen zu lassen, in den richtigen Momenten belebt er die Geschichte mit lustigen Anekdoten und positiven Wendungen.
Auch Gül ist, trotz ihrem immer zu spürenden Heimweh, keinesfalls eine traurige Person. Sie ist tatkräftig, liebevoll und belebt das Buch mit ihrer immensen Gefühlswelt.
Heimstraße 52 ist ein absolut lesenswerter Roman, der auf sehr ruhige Weise zum Nachdenken anregen kann und dem Leser porträtiert, welche Leistung es ist, die Fremde als Heimat sehen zu können. Aktuell Rezension
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