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Ekrem Şenol, Gründer und Chefredakteur von MiGAZIN © MiG

Gastarbeiter

Undankbarkeit überwinden

60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: Zwischen dem Dank an die Gastarbeiter aus der Türkei und dem Umgang mit ihnen klafft eine riesige Lücke. Die Lebensrealität ist geprägt von Ablehnung.

Von Freitag, 29.10.2021, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 16.01.2022, 14:27 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Es ist wieder so weit. Das deutsch-türkische Abkommen zur Anwerbung von Gastarbeitern feiert am 30. Oktober 2021 einen weiteren runden Jahrestag, den sechzigsten. Und wie es sich gehört, wird dieses historische Ereignis auf höchster Ebene gebührend gewürdigt. Das Bundespräsidialamt fand treffende Worte, so wie es sich für dieses Haus gehört. Wer persönlich betroffen ist von dieser Geschichte, dürfte von den Reden des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zumindest berührt gewesen sein – Gastarbeiter, ihre Kinder, Enkel, Großenkel.

Er sprach die erniedrigenden Leibesvisitationen der Angeworbenen und ihre prekären Lebensumstände in den Anfangsjahren genauso an wie tiefdunkle Kapitel dieser Geschichte: Mölln, Solingen, Hanau, NSU. Trotz aller Widrigkeiten hätten diese Menschen „Großes“ geleistet für die Bundesrepublik. Das verdiene „Respekt“.

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Derweil Ali irgendwo in Konya

Ali, 46, in Deutschland geboren, verheiratet, zwei Kinder, ausgebildeter Schlosser und immer in Lohn und Arbeit. Er muss sich um seinen Vater kümmern seit seinem Schlaganfall, ein ehemaliger Gastarbeiter, inzwischen in Rente und zurück in der Türkei. Dafür reisen er oder seine Frau so oft es geht in die Türkei. Der Vater darf selbst als Pflegefall nicht zurück nach Deutschland. Es gilt der ausländerrechtliche Grundsatz: einmal weg, immer weg.

Als Ali in der Türkei ist, sich um einen Pfleger kümmert, fällt coronabedingt der internationale Flugverkehr aus. Er reist erst nach über einem halben Jahr wieder zurück nach Deutschland und wird gleich zur Ausländerbehörde bestellt. Er habe sich länger als sechs Monate im Ausland aufgehalten. Das Gesetz sehe vor, dass sein Aufenthaltstitel erloschen sei. Seine Familie, seine Arbeit, sein Leben in Deutschland, seine Eigentumswohnung, sein erkrankter Vater, seine Kinder mit deutscher Staatsbürgerschaft interessieren die Behörde nicht. Er müsse einen Antrag stellen oder Widerspruch einlegen und gegebenenfalls klagen – aus der Türkei!

Derweil Fatma irgendwo in Izmir

Fatma, 76, ist ehemalige Gastarbeiterin und wohlverdient Rentnerin. „Habe keinen einzigen Pfennig Sozialhilfe bekommen“, sagt sie stolz zurückblickend auf ihr Leben in Deutschland. Auf Anraten ihrer Ärzte nach mehr Sonne, hat sie sich vor einigen Jahren entschlossen, ihren Lebensabend in der Türkei zu verbringen. Von der für deutsche Verhältnisse knappen Rente kann sie sich in der Türkei mehr leisten, versprach sie sich. Sie gab ihre Wohnung auf und zog um nach Izmir. Schon nach einem Jahr bereute sie ihren Entschluss; Sehnsucht nach Darmstadt, wo sie über 50 Jahre gelebt und gearbeitet hat.

Eine Rückkehr sei aber ausgeschlossen, so die Auskunft der Behörden. Sie habe Deutschland mit ihrem Umzug verlassen, ihr Aufenthaltstitel laut Gesetz erloschen. Ausnahmen griffen bei ihr nicht, weil sie aufgrund ihrer knappen Rente Anspruch auf Sozialhilfe hätte, wenn sie einen Antrag stellen würde. Dass sie keinen Antrag stellen wolle, dies auch schriftlich unterschreibe, auf ihren Anspruch verzichte, interessiere die Behörden nicht.

Derweil Steinmeier im Schloss Bellevue

Steinmeier: „Heimat gibt es im Plural.“

Derweil Gastarbeiter in Deutschland

Immer mehr Menschen sind an mehreren Orten und Ländern zu Hause. Sie pendeln, haben Familien und Freunde in verschiedenen Ländern, leben multilingual, haben mehrere Pässe, sind Staatsbürger hier und da und haben mehr als nur eine Heimat. Den türkischen Gastarbeitern wird diese Selbstverständlichkeit verwehrt. Sie dürfen keine zwei Pässe haben, sind Ausländer, sind im ausländerrechtlichen Sinne nur deshalb noch immer hier, weil sie eine behördliche Erlaubnis haben.

Die Geschichten von Ali und Fatma sind nicht erfunden. Sie stehen beispielhaft für Tausende Schicksale, denen eine zweite Heimat vorenthalten wird. Sie müssen sich entscheiden zwischen Deutschland und der Türkei, zwischen ihrem Leben und ihrer Herkunft. Und sobald sie Deutschland verlassen haben, gibt es kaum einen Weg zurück. „Raus hier!“, heißt im Behördendeutsch: Aufenthaltstitel erloschen.

Wer wieder zurück nach Deutschland möchte, muss sich hinten anstellen, ein Visum beantragen, um in das Land zu kommen, das er so „großartig“ mit aufgebaut hat; so weit hinten, dass er sogar nachrangig behandelt wird, weil die Wirtschaft ihn nicht mehr benötigt, weil er kein EU-Bürger, sondern Türke ist.

Zwischen den Worten Steinmeiers – „Respekt“ gegenüber den Gastarbeitern und ihren Nachkommen – und dem Umgang Deutschlands mit diesen Menschen klafft eine riesige Lücke. Die Lebensrealität ist geprägt von purer Ablehnung und einem System, das – Jahrzehntelang genau darauf getrimmt – nur darauf lauert, dass diese Menschen einen Fuß vor die Tür setzen, um ihnen die Tür zuzuschlagen. Respektlos.

Bis zum 70. Jahrestag des Anwerbeabkommens ist genug Zeit, sich Gedanken zu machen, wie man diese Undankbarkeit überwinden kann. Es ist höchste Zeit – Zitat Steinmeier – auch „für diese Selbsterkenntnis, für diesen Perspektivwechsel“. Meinung

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  1. Levent Öztürk sagt:

    Das Unfassbare, was bis heute in Deutschland lebende Türken vor allem aus der Gastarbeiter-Generation seelisch ertragen und erleiden mussten waren die schrecklichen Ereignisse in Mölln, Solingen, Köln-Keupstr., Hanau, München und und und…ja auch die vertuschten und verdunkelten NSU-Serienmorde und die aktuelle NSU 2.0 Bedrohung, wo die Behörden noch nicht einmal ermitteln. Und als selbst die türkische Community in Deutschland 2005 mit Asli Bayram die Miss Germany gestellt hatte und alle sehr stolz darauf waren gab es auch da diesen sehr bitteren Beigeschmack, dass ihr Vater vor ihren Augen von einem Neonazi-Nachbar erschossen wurde und ihre Familie dann bei Gericht wie Schuldige behandelt wurden…ähnlich wie bei den NSU-Fällen. Am perversesten und widerwärtigsten fühlt es sich für mich als ein 1969 als Zweijähriger von seinen in und für Deutschland schaffenden Gastarbeiter-Eltern Mitgebrachter an, wenn deutsche Politiker und Medien über die geschilderten Missstände in Deutschland hinwegsehend voll ausgelastet mit der Echauffierung über angebliche Menschenrechts-, Rechtstaatlichklichkeits- bzw. Demokratie-Defizite in der Türkei beschäftigt sind und gen Türkei und alle Türkei Fingerzeig betreibend Belehrungen über Belehrungen von sich geben. Daher glaube ich nicht, dass sich in dieser Hinsicht bis zum 70. Jahrestag des Anwerbeabkommens auch nur irgendetwas ändern wird. Höchstwahrscheinlich wird lediglich die Liste Möln, Solingen, Hanau…..um einige Städte reicher werden.