Framing Halle
Über verkürzte Darstellungen und übersehene Opfer
Politik und Medien erinnern an den Halle-Anschlag – allerdings mit auffälligen Einschränkungen auf die antisemitische Motivation des Täters. Dass er maßgeblich auch aus islamfeindlichen Motiven handelte, wird ausgeblendet.
Von Prof. Dr. Sabine Schiffer Samstag, 09.10.2021, 16:13 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 05.11.2024, 17:22 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Nein, hier ist nicht das Framing – also die Rahmung oder Perspektivgebung – der Stadt Halle an sich gemeint, obwohl der Anschlag von 2019 das öffentliche Bild der Stadt auch prägen dürfte. Hier geht es um das Framing des Anschlags vom 9. Oktober 2019 selbst, wofür der Namen der Stadt „Halle“ oft als Stellvertreter steht.
Der zweite Jahrestag des Anschlags in Halle mahnt, sich immer wieder mit dem Potenzial von Hass und Hetze auseinanderzusetzen. Und das erfüllen viele Institutionen, Politik und Medien vielfach – allerdings mit auffälligen Einschränkungen auf die antisemitische Motivation des Täters. Der Angreifer, der an Jom Kipur an der stabilen Synagongentür in Halle scheiterte und dann eine Passantin und den Gast eines Döner-Imbisses tötete, war getrieben von der Mordtat im neuseeländischen Christchurch, wo in einer Moschee über 50 Menschen getötet worden waren; so die Ergebnisse der Untersuchungen und Protokolle des Prozesses, der zu seiner Verurteilung führte. Erst in einer Art Revision seines Ursprungsplans entschied sich der Mörder zum Angriff auf die Synagoge, da er – von Verschwörungsmythen zerfressen – hinter muslimischer Einwanderung einen großen Plan sah, hinter dem letztendlich Juden stecken sollten; ganz im Sinne antisemitischer Weltverschwörungsideologien. Es war also kein Zufall, dass er nach dem Angriff auf die Synagoge den Döner-Imbiss ansteuerte.
Selbst der Wikipedia-Eintrag zum Anschlag in Halle ist (mit Stand vom 9.10.2021) differenziert in Bezug auf den Sachverhalt, differenzierter als so manche Mediendarstellung – und ich pflege für gewöhnlich einen sehr kritischen Blick auf Wikipedia. Dort heißt es korrekt:
Der Anschlag in Halle (Saale) am 9. Oktober 2019 war der Versuch eines Massenmordes an Juden an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Der Rechtsextremist Stephan Balliet (B.) versuchte mit Waffengewalt, in die Synagoge im Paulusviertel einzudringen, um dort versammelte Personen zu töten. Nachdem ihm dies misslungen war, erschoss er vor dem Gebäude die Passantin Jana Lange und kurz darauf in dem Imbiss „Kiez-Döner“ den Gast Kevin Schwarze.
„Insgesamt dominiert ein selektives und die Opfergruppe der Muslime ausschließendes Framing in vielen der Kommentare zum traurigen Jahrestag.“
Insgesamt dominiert ein selektives und die Opfergruppe der Muslime ausschließendes Framing in vielen der Kommentare zum traurigen Jahrestag.
Betrachten wir den Wikipedia-Eintrag „Anschlag in Halle (Saale) 2019“ – über die Versionsgeschichte ist nachprüfbar, ob und wie er weiter verändert wird – genauer: Auch dort werden „die antisemitischen Motive des Angriffs auf die Synagoge“ besonders hervorgehoben. Das ist vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte auch verständlich und wichtig. Dass im Wikipedia-Artikel der „Döner-Imbiss“ als zweite Anlaufstelle erwähnt wird, ist im Vergleich zum Verweis auf einen „Imbiss“ in vielen Medien schon ein wichtiger Hinweis, aber das zweite Motiv des Täters – nämlich sein antimuslimisches – wird hier nicht explizit genannt. Aus den Schriften des Angeklagten, die bei seiner Gerichtsverhandlung vorlagen, ging jedoch klar hervor, dass der Mörder zweier „Zufallsopfer“ nicht ganz zufällig, sondern bewusst die besagte Döner-Bude ansteuerte, weil er auch Muslime töten wollte – wie u. a. der Mitteldeutsche Rundfunk berichtet.
Weiter unten im Wikipedia-Artikel heißt es zu seinen Motiven: „Doch wolle er vorrangig Juden ermorden, da diese auch hinter muslimischer Einwanderung nach Europa steckten“. Das verschwörungsmythische Denken des Täters wird hier ebenso deutlich wie seine Motivverschränkung zwischen Antisemitismus und Muslimenhass, sowie Hass auf Araber und Schwarze. Frauenhass könnte zudem dazu beigetragen haben, dass er die weibliche Passantin einfach erschoss – auch dies passt in ein rechtsterroristisch-chauvinistisches Denken, wie unter anderem Panorama (NDR) herausarbeitete. Wer bis zum Schluss des Artikels liest, kann also durchaus von den weiteren und ebenso menschenverachtenden Motiven des Täters erfahren, die über seine antisemitische Motivation hinausgehen. Der Täter wird zu lebenslanger Haft mit Sicherheitsverwahrung verurteilt.
„Tatsächlich ist der Wikipedia-Eintrag recht detailreich und differenziert. Jedoch die Folgen für die Politik konzentrieren sich auf den Kampf gegen Antisemitismus und den Schutz jüdischer Gemeinden – zumindest in gemachten Zusagen von politischer Seite.“
Tatsächlich ist der Wikipedia-Eintrag recht detailreich und differenziert. Jedoch die Folgen für die Politik konzentrieren sich auf den Kampf gegen Antisemitismus und den Schutz jüdischer Gemeinden – zumindest in gemachten Zusagen von politischer Seite. Wenn auch die mangelnde Umsetzung immer wieder Anlass zur Kritik bietet und auch am zweiten Jahrestag wieder in Erinnerung gerufen wird, so sieht man beispielsweise anhand der Erklärung der Bundesjustizministerin Lambrecht vom 8. Oktober 2021 die Beschränkung auf die Bekämpfung von Antisemitismus.
Laut dem Wikipedia-Eintrag fällt die Unterstützung für den Döner-Imbiss von politischer Seite weniger solidarisch aus, sodass es letztendlich bürgerschaftlichem Engagement und dem einer jüdischen Studierendenvereinigung zu verdanken ist, dass der Kiez-Döner überhaupt wieder öffnen konnte.
Nimmt man die Erkenntnisse aus der Framingforschung ernst, dann bedeutet das aktuelle Shaping der Ereignisse vom 9. Oktober 2019 eine einseitige Wahrnehmung für die Gefahrenlagen für Juden und Muslime. Denn, wer nicht umfassend analysiert, kann auch nicht entsprechende Maßnahmen ergreifen, die wirklich angemessen das Gesamtproblem adressieren.
„Die Wirkmacht sprachlicher Zeichen besteht darin, eine bestimmte Perspektive auf einen Sachverhalt zu legen… Sie führen zur Betonung bestimmter Aspekte und zum Zurücktreten oder gar Ausblenden anderer, was schließlich ein ganz eigenes Bild konstruiert und die Wahrnehmung nachhaltig beeinflusst.“
Das Autorenduo George Lakoff und Mark Johnson legten in ihrem Buch Metaphors We Live By (1980) das vor, was heute in der Framing-Forschung diskutiert wird. Die Wirkmacht sprachlicher Zeichen besteht darin, eine bestimmte Perspektive auf einen Sachverhalt zu legen. Dabei entstehen Deutungsrahmen, Schablonen, einen Sachverhalt strukturieren. Sie führen zur Betonung bestimmter Aspekte und zum Zurücktreten oder gar Ausblenden anderer, was schließlich ein ganz eigenes Bild konstruiert und die Wahrnehmung nachhaltig beeinflusst. Die erzeugten Framing-Effekte können dabei zu Seh-Gewohnheiten werden, die auch unbewusst die Auswahl von Fakten bestimmen – eine Art Wahrnehmungsfilter entsteht, dem man vor allem dann ausgeliefert ist, wenn man diese Prozesse nicht kritisch reflektiert. Da wir alle nach Bestätigung dessen suchen, was wir bewusst oder unbewusst erwarten, liegt darin bereits das Potenzial zum Missverständnis von morgen. Hierin liegt eine wesentliche Grundlage für das, was in Psychologie und Diskursforschung als Affirmation oder Confirmation Bias bekannt ist.
Ob das Framing die verschiedenen menschenverachtenden Motivationen des Täters umfasst, er als Symptom einer politischen Strömung erkannt wird und ob die daraus folgenden Schutzforderungen und -maßnahmen tatsächlich alle anvisierten Hassobjekte potenzieller weiterer Täter umfassen oder einige ausschließen, steckt in diesen Konstruktionen – weshalb es nicht unerheblich ist, wie vollständig oder unvollständig das Gedenken gepflegt wird. Zu erwarten ist, wenn man die Diskurse der letzten Jahre in Betracht zieht, eine weitere Dominanzsetzung von Antisemitismus und Schutz jüdischen Lebens in Deutschland. Wie gesagt: Das ist verständlich und berechtigt, wird dennoch der neuen Dimension rechtsextremen Terrors nicht gerecht und ignoriert weitere Ziele dieses Hasses.
„Mit mehr Reflexion über diese Prozesse wäre es vielleicht möglich gewesen, die Anschlagsserie des sogenannten NSU frühzeitig als das zu erkennen, was sie war: rassistisch-motivierter Hass, der sich gegen „nahöstlich“ aussehende Menschen richtete.“
Mit mehr Reflexion über diese Prozesse wäre es vielleicht möglich gewesen, die Anschlagsserie des sogenannten NSU frühzeitig als das zu erkennen, was sie war: rassistisch-motivierter Hass, der sich gegen „nahöstlich“ aussehende Menschen richtete. Das Phänomen wurde öffentlich nach dem Auffliegen des sogenannten NSU 2011 diskutiert, nachdem klar wurde, dass die Suche nach den Mördern der vornehmlich türkisch-stämmigen Opfer von rassistischen Stereotypen geprägt war und somit prädestiniert dafür, wichtige Indizien zu übersehen und Menschen nicht zu schützen. Medien haben zumeist die jahrelange Projektion auf „ausländische Kriminellenmilieus“ von Polizei und Staatsanwaltschaft mitgetragen – entgegen dem eigenen Idealbild von Medien als Vierte Gewalt.
Tatsächlich hätte die Reihe der NSU-Morde viel kürzer sein können, wenn man auch nur in Betracht gezogen hätte, dass Eingewanderte nicht Täter, sondern Mordopfer sein können. Hanau ist von da aus nicht ganz so weit weg. Kurzschlüsse wie die Aufgezeigten haben verheerende Folgen für die weitere Gefährdung von Menschen.
Meinung
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