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Lisa Pollmann © privat, Zeichnung MiG

Spahn-Logik

Familienbesuche in der Heimat für Corona verantwortlich

Gesundheitsminister Spahn macht Reiserückkehrer aus der Türkei und der Balkanregion zu Sündenböcken für die Corona-Pandemie - und ignoriert das Versagen der Politik.

Von Mittwoch, 26.05.2021, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 25.05.2021, 14:58 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Und wieder einmal sind die Migrant:innen Schuld. Diesmal trifft es unsere Mitbürger:innen mit Wurzeln in der Türkei und den Ländern der Balkanregion, die laut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn den Ausbruch der zweiten Corona-Welle im vergangenen Herbst besonders stark befeuert haben sollen. Statt allgemein über Reiserückkehrer:innen und ihren möglichen Einfluss auf steigende Fallzahlen zu sprechen, nennt Spahn explizit „Verwandtschaftsbesuche“ in der Türkei und auf dem Balkan als Ursache für die sich damals zuspitzende Pandemielage. Die deutsche Mittelklassefamilie, die ihren wohlverdienten Urlaub auf Mallorca oder in Griechenland verbracht hat, soll sich vermutlich nicht angesprochen fühlen.

Interessanterweise geht Jens Spahn in seiner Kritik auch nicht darauf ein, dass es gerade die Reiserückkehrer:innen aus der Türkei sind, die strenge Testauflagen zu erfüllen haben. Während Urlauber:innen aus anderen, meist europäischen Ländern, der Testpflicht vielfach erst nach ihrer Rückkehr in Deutschland nachkommen mussten, wurde von Türkeireisenden schon immer ein negatives PCR-Testergebnis vor Einreise in Deutschland verlangt. Umso fraglicher also, warum gerade die getesteten Türkei-Rückkehrer:innen so überproportional zur Ausbreitung des Covid-Geschehens im vergangenen Herbst beigetragen haben sollen.

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Auch scheint Spahn den Umstand zu ignorieren, dass Besuche im Heimatland in der Regel nicht dem klassischen Erholungsurlaub entsprechen, sondern in vielen Fällen eine Notwendigkeit darstellen, um familiären Verpflichtungen nachzukommen. Diesen feinen Unterschied hat schon Horst Seehofer 2019 nicht verstanden, als er lieber pauschal Stimmung gegen sogenannte „Syrien Urlauber:innen“ machte und mit Abschiebungen drohte, statt die „Reisemotive“ differenziert zu betrachten.

„Jens Spahn bedient mit seiner Aussage zu Verwandtschaftsbesuchen die gleichen rassistischen Vorurteile wie bereits der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz vor einigen Monaten.“

Jens Spahn bedient mit seiner Aussage zu Verwandtschaftsbesuchen die gleichen rassistischen Vorurteile wie bereits der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz vor einigen Monaten. Kurz erklärte bereits zu Beginn der zweiten Corona-Welle im Dezember 2020 Migrant:innen mit Wurzeln am Balkan und der Türkei aufgrund ihrer vermeintlichen „Reiseaktivitäten“ zum Sündenbock der Pandemie. Man kann nur erahnen wie sich derart pauschalisierende Anschuldigungen für die vielen, in systemrelevanten Bereichen Beschäftigten mit Migrationshintergrund anfühlen muss. Weder Kurz noch Spahn scheinen darüber nachgedacht zu haben. Denn es sind häufig Migrant:innen, die während der Pandemie in systemrelevanten Berufen wichtige gesellschaftliche Aufgaben erfüllen und gerade aufgrund ihrer Tätigkeit in Pflege & Co. einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Homeoffice ist schließlich ein Privileg, welches vielen systemrelevanten Berufsgruppen vorenthalten bleibt.

Dass in der Pandemie manche Menschen gleicher oder eben auch ungleicher als andere sind, zeigt jedoch nicht nur die Diskussion zu Reiserückkehrer:innen. Bereits zu Beginn der Corona-Pandemie haben zahlreiche medizinische- und flüchtlingspolitische Organisationen auf das hohe Infektionsrisiko in Sammelunterkünften für Geflüchtete aufmerksam gemacht. Angesichts zahlreicher Corona-Ausbrüche in Flüchtlingsunterkünften und Kollektivquarantänen forderten sie gebetsmühlenartig eine dezentrale Unterbringung von Schutzsuchenden und effizientere Quarantäne-Konzepte. Die Politik reagierte jedoch mehr als schleppend.

„Vergleichbare Beispiele für rassistisch motivierte Ungleichbehandlung von Migrant:innen bei der Pandemiebekämpfung lassen sich beliebig finden, so etwa auch die Situation ost- und südosteuropäischer Arbeitskräfte.“

Ein ähnliches Bild scheint sich nun auch bei der Impfstoffbereitstellung abzuzeichnen. So wies beispielsweise die „Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum“ erst kürzlich darauf hin, dass die nordrhein-westfälische Landesregierung die Impfung von eigentlich in Prio-Gruppe 2 eingestuften Bewohner:innen in Sammelunterkünften auf unbestimmte Zeit aussetzen wolle. Begründet werde die Aussetzung mit einem Lieferstopp des Johnson & Johnson Impfstoffes, der bei Geflüchteten und Obdachlosen zum Einsatz kommen soll. Vergleichbare Beispiele für rassistisch motivierte Ungleichbehandlung von Migrant:innen bei der Pandemiebekämpfung lassen sich beliebig finden, so etwa auch die Situation ost- und südosteuropäischer Arbeitskräfte, die in der fleischverarbeitenden Industrie aufgrund ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse ebenfalls einem überdurchschnittlich hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sind.

Interessanterweise äußern sich Spahn & Co. zu diesen Infektionsherden aber nur selten. Vermutlich weil sich der Besuch von Verwandten in der Türkei oder in Balkanländern besser dafür eignet, die Schuld bei anderen, statt in der eigenen Politik zu suchen. Meinung

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  1. Levent Öztürk sagt:

    Die Türken sind in Deutschland stets immer an allem Schuld, auch an der Corona-Pandemie. Nicht die Covidioten, Aluhut-Heinis, AfD-Mitläufer oder sonstige Corona-Leugner sind schuld an der Ausbreitung von Covid-19 in Deutschland, weil sie ohne Abstand, Anstand und Mund-Nase-Schutz sich seit über einem Jahr regelmäßig zu zigtausenden zusammenrotten und dann wieder in alle Herren Bundesländer ausschwirren…Nein es sind die in Deutschland lebenden Türken. Auch wenn in den Städten und Stadtteilen, wo es vermehr Migranten bzw. Türken gibt die Inzidenz-Werte verglichen mit den Inzidenzwerten der AfD-Hochburgen = Covidioten-Hochburgen (stets die Maximum-Werte in Deutschland, wie z.B. sächsische Schweiz, Uckermark, Bezirke in Bayern usw.) durchweg nur einen geringen Bruchteil dessen betragen. Herr Spahn kann ja Mal erklären, wo doch die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei beide ca. 83 Millionen Einwohner haben, aber es in der Türkei 46.600 und in Deutschland jedoch 87.700 also dopplet so viele Covid-Todesopfer gibt und wie das den zu erklären sei? Anscheinend hat sein türkischer Gesundheitsminister-Kollege Herr Fahrettin Koca aber so einiges mehr als richtig gemacht, dass er im Verghleich zu Herrn Bundesgesundheitsminister Spahn nur halb so viele Covid-19 Opfer zählen kann. Worauf es ja auch am Ende des Tages wohl ankommt! Diese Fakten verschweigen ja auch deutsche Medien sehr gerne.

  2. Anna sagt:

    Migranten werden leider schon lange mit Infektionskrankheiten in Verbindung gebracht, auch 2015 wurden solche Besorgnisse geäußert, von wegen „die bringen Seuchen mit“.

    So ist das also. Wer drei Mal im Jahr weit weg in Urlaub fliegt oder auf Geschäftsreise geht, das hat weder die AfD noch sonst jemanden in Sachen Infektionskrankheiten jemals interessiert, da scheint es keine Ängste gegeben zu haben im Jahr 2015. Aber bezüglich Migranten, da wurde plötzlich die Besorgnis Infektionskrankheiten geäußert.

  3. Anna sagt:

    @Levent Öztürk: Volle Zustimmung! Sie schreiben eine gute Analyse der Sündenbock- Stimmung, die es gegenüber türkischstämmigen Menschen schon länger gibt :-(