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Hakan Demir © Foto: Jannis Chavakis, Zeichnung: MiG

Von Neukölln in den Bundestag

„Hakan, das ist ein Wespennest“

Hakan Demir ist Enkel von Gastarbeiter:innen und tritt für den Bundestag an. Alle zwei Wochen berichtet er uns von seinem Wahlkampf. Diesmal beschreibt er, warum er sich zum Israel-Palästina-Konflikt geäußert hat.

Von Mittwoch, 19.05.2021, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 18.05.2021, 12:15 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

„Hakan, das ist ein Wespennest“, sagte eine Parteikollegin und riet mir davon ab. Aber ich glaube, dass es die Aufgabe von Politiker:innen ist, sich zu positionieren – gerade, wenn die Antworten nicht eindeutig sind. Die Regel ist, dass man immer differenziert bleiben muss.

Doch wie treffen wir eigentlich gute Entscheidungen? In den letzten Tagen habe ich mich das öfter gefragt. 20 000 Entscheidungen treffen wir laut Wissenschaft jeden Tag – T-Shirt oder Pulli, Müsli oder doch Gözleme, Bus oder Tram, Tweet oder Insta-Post. Die Zahl der Alternativen nimmt zu. Forscher:innen sprechen von Multi-Optionalität. Die Entscheidung an sich setzt immer Freiheit voraus. Und diese Freiheit kann auch eine Last sein. Das habe ich jetzt wieder gespürt.

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Soll ich mich zum Konflikt in Israel und Palästina äußern? Was schreibe ich über die Opfer auf beiden Seiten? Was wird mein Hauptgedanke sein? Das war eine schwierige Entscheidung und ich will hier gar nicht inhaltlich werden, sondern nur darüber schreiben, was ich mir vorher für Gedanken gemacht habe. Vielleicht erging es auch vielen anderen so?

Fakt ist: Wüssten wir immer vorher Bescheid, was richtig oder falsch ist, bräuchten wir uns nicht zu entscheiden. Eine Entscheidung ist also immer auch ein Risiko, sich zu täuschen, falsch zu liegen. Und das passiert auch natürlich mir. Oder anders gesagt: „Prepare to be wrong.“

Ich habe anfangs gezögert, weil ich ein schlechtes Gefühl hatte. Egal, was man schrieb, man wurde von der einen oder anderen Seite kritisiert. Das gehört dazu. Hinzu kommt, dass ich als Neuköllner Bundestagskandidat, also eines Bezirks, in dem Menschen aus 150 Staaten leben und als Bürger dieses Landes, das eine besondere Verantwortung für den Staat Israel hat, mich positionieren muss. Ich kann nicht wegschauen.

Ich hatte vorher bei anderen Kolleg:innen gesehen, dass sie häufig nur die eine Seite beleuchteten und die andere Seite erst gar nicht nannten. Entweder wurde nur von Israel gesprochen oder nur von Palästina. Das wurde in den vielen Kommentaren kritisiert. Ich konnte das ehrlich gesagt nachvollziehen.

Also schrieb ich auf Twitter:

1/3 Ich sehe seit Tagen Menschen in #Israel und #Palästina, die Angst um ihr Leben haben. Wie kann man da nicht den einen zurufen: Hört auf, Raketen abzufeuern! Und dann den anderen: Hört auf, Bomben zu werfen!?

2/3 Der Konflikt ist zu vielschichtig, als dass man ihm mit Tweets gerecht werden könnte. Fakt ist aber: Die Menschen dort haben keinen Krieg, sondern Frieden verdient. In Gedanken bin ich bei den Opfern & ihren Angehörigen.

3/3 Ich verurteile die antisemitischen Vorfälle und antisemitische Gewalt in Deutschland. Wir dulden keine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Wir müssen zusammenhalten. #Synagoge

Ich hatte keinen Shitstorm – weder von der einen noch der anderen Seite. Das heißt nicht, dass es ein guter Tweet war, aber ich hatte das Gefühl, dass die menschliche Dimension der Opfer auf beiden Seiten klarer wurde und meine absolute Position, dass ich den Antisemitismus in Deutschland ablehne. Am Ende bleibt ein schlechtes Gefühl, nicht wegen meines Statements, sondern wegen der Menschen vor Ort. Sie leiden weiterhin. In Gedanken bin ich bei ihnen. Meinung

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  1. Levent Öztürk sagt:

    Gut gemacht! Ein Hinterfragen, womit und wodurch denn heute in 2021 die Ermordung von 63 unschuldigen Kindern zu rechtfertigen sei, hätte mit sofortiger Wirkung das Projekt „Bundestag“ beendet. Das Erste was ein Politiker lernen muss ist: Immer im Fahrwasser bleiben und dabei sehr viel reden aber nichts sagen.