Exklusiv-Buchauszug
Kleiner Bruder: Die Geschichte meiner Suche
Als sein kleiner Bruder verschwindet und alles darauf hindeutet, dass er die gefährliche Reise nach Europa angetreten hat, macht sich Ibrahima auf die Suche. Und erfährt am eigenen Leib, was der Traum von einem Leben in Europa bedeutet: Gewalt, Ausbeutung, Verzweiflung. MiGAZIN veröffentlicht einen Exklusiv-Auszug aus dem Buch.
Freitag, 14.05.2021, 5:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 21.05.2021, 9:50 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Eines Morgens sagte Bahry zu mir, „Ibrahima, heute werde ich ein ‘Programm‘ organisieren. Ich habe zu Gott gebetet, dass es sicher sein soll, und hätte gern, dass du mit an Bord gehst“. „Oke, kein Problem“, antwortete ich. Wir hatten zweitausend Euro als Preis ausgemacht. So viel kostete meine Überfahrt. Zweitausend Euro und die ganze Arbeit, die ich in drei Monaten in seinem Haus verrichtet hatte.
In der Nacht brachten sie uns ans Meer. Das Schlauchboot hatte neun Öffnungen, um es aufzupumpen, und alle mussten sich die Lunge leer pusten, mit der Handoder mit der Fußpumpe. Die Musik dieser Pumpen ist mir noch im Ohr: fu-fu-fu-fu-fu. Dort macht man alles im letzten Moment. Das Schlauchboot aufpumpen, den Motor befestigen, den Leuten einen Kompass in die Hand drücken und das Boot ins Wasser schieben. Los, geht’s. Nein, warte. Noch nicht. Ich habe etwas vergessen.
Die marokkanische Polizei hat große Scheinwerfer und kontrolliert alles von oben. Auch uns entdeckten sie, sahen, wie wir losfahren wollten, und begannen zu schreien. Die Araber pumpten weiter, ohne Luft zu holen, fu-fu-fu-fu-fu. Die Araber sind geschickt darin.
„Sicherheitshalber pumpt man das Schlauchboot ganz fest auf. Weil es manchmal auf dem Weg Luft zu verlieren beginnt. Und weil normalerweise mehr Leute an Bord sind, als an Bord sein sollten. Fu-fu-fu-fu-fu. Wir waren dreiundfünfzig Personen. Kinder, Frauen und Männer.“
Sicherheitshalber pumpt man das Schlauchboot ganz fest auf. Weil es manchmal auf dem Weg Luft zu verlieren beginnt. Und weil normalerweise mehr Leute an Bord sind, als an Bord sein sollten. Fu-fu-fu-fu-fu. Wir waren dreiundfünfzig Personen. Kinder, Frauen und Männer.
… den Motor befestigen, einen Kompass in die Hand drücken und ins Wasser schieben. Los, fahrt. Jetzt aber. Du bist dem Schicksal ausgeliefert.
Du blickst dich in alle vier Himmelsrichtungen um, und alles ist nur eine Sache: das Meer. Und du hast noch nie auf dem Meer gesessen. Dann geht der Motor aus, weil der Kapitän den Gang gewechselt hat oder was weiß ich warum, auf jeden Fall geht der Motor aus.
Sie begannen an dem Seil zu ziehen, das am Motor hängt, sie zogen, zogen, zogen. Bis sie verzweifelten. Schließlich startete der Motor wieder, und wir fuhren weiter, weit weg von der Küste. Dort blickst du dich wieder in alle vier Himmelsrichtungen um und siehst um dich herum nur eins: das Meer. Du kannst nicht schwimmen. Dann streikt der Kompass.
Bevor wir losfuhren, erklärte uns der Araber, „Wenn die Nadel zwischen null und fünfzehn anzeigt, fahrt ihr in die richtige Richtung, aber wenn die Nadel von fünfzehn nach dreißig geht, heißt das falsche Richtung“. Ich weiß nicht, was passiert war, aber jemand sagte, „Der Kompass ist nass geworden“, und nun fuhren wir ohne Zahl weiter, ohne zu wissen, wohin.
Wir verschwanden auf dem Meer.
Wenn du dich in alle Himmelsrichtungen umschaust, siehst du nur eine Sache: das Meer, und von unter dem Wasser beginnen einige große Fleischstücke aufzusteigen, ohhhhh. Erst rauf und dann wieder runter, ohhhhh. Jemand sagte, „des dauphins“. Aber ich hatte dieses Wort noch nie gehört und fürchtete mich, ich glaubte, dass sie sich auf mich stürzen würden.
Ohhhhh ….
Mein Geist erhob sich in die Lüfte. „Alhassane hat sich in einer Nacht wie dieser auf den Weg gemacht“, dachte ich. Und ich erinnerte mich an meine ganze Familie. Erst an meinen Vater, dann an meine Mutter, schließlich an die beiden Kleinsten, Binta und Rouguiatou. Wenn du auf dem Meer sitzt, bist du an einer Wegscheide. Leben oder Tod. Dort gibt es keinen anderen Ausgang.
Die ganze Nacht verbrachten wir orientierungslos auf dem Meer. Die Leute begannen zu weinen, vor allem die Frauen, aber nicht nur die Frauen, auch der Kapitän. Er war aus dem Senegal. Ich weiß nicht, wer ihn zum Anführer der Expedition ernannt hatte. Er sagte, dass er das Meer kenne, aber ein Kapitän muss mehr Kraft im Herzen tragen, muss zeigen, dass er der Mutigste ist, doch dieser hier weinte wie ein Kind. Es ist schwer, so nach Europa zu kommen.
Ich versuchte mich an den Flügeln meines Geistes festzuhalten und nicht zu viel zu denken, doch das war nicht leicht. Vor mir sah ich das Gesicht meiner Mutter und dachte, „In einer Nacht wie dieser hat sich Alhassane auf den Weg gemacht“.
Das Meer ist sehr groß, so wie die Nacht. Aber die Nacht lässt dich, wenn du ein wenig wartest, an einer Seite zurück, und dann wird es Tag, und das Licht kommt heraus. Wieder zeigt sich die Weite des Meeres, und du denkst, impossible.
„Plötzlich begann das Schlauchboot Luft zu verlieren. Der Kapitän ließ alle auf eine Seite wechseln, und das Boot kenterte fast. Alle schrien, und dann weinten sie. Auch ich. Die Angst war mir in die Knochen gefahren.“
Plötzlich begann das Schlauchboot Luft zu verlieren. Der Kapitän ließ alle auf eine Seite wechseln, und das Boot kenterte fast. Alle schrien, und dann weinten sie. Auch ich. Die Angst war mir in die Knochen gefahren. Dann, zuletzt, blickte ich mich in alle Richtungen um und sah überall nur eine Sache: impossible.
Einige trugen eine Weste aus Lappen am Körper, andere hatten sich Fahrradschläuche um den Rücken gebunden. Ich hatte nichts dabei, und das war noch eine weitere Last, die mir Gewissensbisse bereitete. Ich überlegte, dass ich weniger Hoffnung hatte als sie.
Elf Uhr null null. Alles gleich.
Zwölf Uhr null null, und ich wartete auf den Tod. Vor allem, wenn ich mit den Fingern auf das Schlauchboot drückte und merkte, dass es keine Luft mehr hatte, es schon total schlaff war.
Dreizehn null null, und immer noch alles gleich. Ich wartete weiter auf den Tod.
Vierzehn null null, ein Hubschrauber. Zuerst hörst du ihn, dann siehst du ihn, zuletzt glaubst du es. Ja, ein Hubschrauber.
Aktuell FeuilletonBibliografische Angaben
Erscheinungstermin: 09.05.2021
fester Einband, 139 Seiten
978-3-518-47142-5
suhrkamp taschenbuch 5142, st nova
Suhrkamp Verlag, 1. Auflage, Deutsche Erstausgabe
14,00 € (D), 14,40 € (A), 20,90 Fr. (CH)
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