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Drohmail-Polizeiskandal

„NSU 2.0“-Betroffene fordern weitere Aufklärung

Hessens Innenminister Beuth hat die Polizei von den Verwicklungen in die NSU-2.0-Drohschreiben bereits freigesprochen. Ermittler gehen von einem Einzeltäter aus. Die Betroffenen halten dagegen und stellen "drängende Fragen".

Donnerstag, 06.05.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 05.05.2021, 20:31 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Nach erster Durchsicht der beschlagnahmten Computerdaten habe sich der Verdacht gegen den als mutmaßlichen Verfasser der mit „NSU 2.0“ gezeichneten Drohschreiben festgenommenen Mann erhärtet. Das teilten die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main und das Hessische Landeskriminalamt am Mittwoch auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit. Sonderermittler Hanspeter Mener sagte, nach derzeitigen Stand der Erkenntnisse gehe er bei den rechtsextremistischen Drohmails von einem Alleintäter aus. Der leitende Oberstaatsanwalt Albrecht Schreiber betonte aber, die Ermittlungen seien noch längst nicht abgeschlossen, eine Reihe von Fragen müsse noch geklärt werden.

Dabei geht es vor allem darum, wie der 53-jährige erwerbslose Berliner an die gesperrten persönlichen Informationen über einige der bedrohten Frauen des öffentlichen Lebens gekommen ist. Diese Daten über die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yılız und die hessische Linken-Fraktionschefin Janine Wissler waren vor Versendung der Drohschreiben aus Polizeicomputern in Frankfurt und Wiesbaden abgerufen worden. Es gebe aber keinerlei Hinweise darauf, dass hessische Polizeibeamte mit dem Täter zusammengearbeitet hätten. Sonderermittler Mener hält es nach eigenen Angaben für möglich, dass sie der inzwischen in Untersuchungshaft sitzende Verdächtige unter Vorspiegelung falscher Tatsachen telefonisch auf den Polizeirevieren erhalten hat.

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Ermittler: Arbeitsloser Einzeltäter

In einem Schriftwechsel mit dem Berliner Landesamt für Ordnungs- und Bürgerangelegenheiten habe der Mann vor Jahren selbst beschrieben, wie man missbräuchlich bei Behörden persönliche Daten erhalten könne und eingeräumt, das er auch schon entsprechend vorgegangen sei. Außerdem sei der Beschuldigte rechtskräftig wegen Amtsanmaßung verurteilt worden, weil er sich 1992 als Kriminalbeamter ausgegeben habe. Polizei und Justiz erklärten aber auf der Pressekonferenz in Frankfurt, es lägen keine Erkenntnisse vor, dass einer der nach der Datenabfrage vernommenen Polizeibeamten etwas von einem derartigen Anruf gesagt habe.

Dem Verdächtigen, der seit Jahren arbeitslos war, kamen die Ermittler auf die Spur, weil er sich in rechten Internetforen in einer Weise geäußert hatte, die auffallend dem Stil der Drohschreiben glich. Polizei und Justiz sprachen von viel kriminalistischer Kleinarbeit bis zu der Festnahme am Montagabend.

Betroffene fordern weitere Ermittlungen

Betroffene der Drohschreiben fordern derweil weitere Ermittlungen und Antworten auf „drängender Fragen“. „Es gibt keinen Grund für Entwarnung“, heißt es in der Erklärung, die auf Initiative der Bundesvorsitzenden und hessischen Fraktionsvorsitzenden der Linken, Janine Wissler, am Mittwoch in Wiesbaden veröffentlicht wurde. Zu den Unterzeichnerinnen gehören außerdem die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die Kabarettistin und Schauspielerin Idil Baydar, die Fraktionsvorsitzende der Linken in Berlin, Anne Helm, die stellvertretende Bundesvorsitzende der Linken, Martina Renner, und die Journalistin Hengameh Yaghoobifarah.

Die Festnahme eines Tatverdächtigen zweieinhalb Jahre nach Beginn der inzwischen mehr als 100 Drohschreiben sei ein wichtiger Ermittlungserfolg, erklären die Unterzeichnerinnen. Nun müssten die Fragen geklärt werden, wie der Tatverdächtige an Daten aus Polizeicomputern in Frankfurt am Main, Wiesbaden, Hamburg und Berlin und an eine im Einwohnermelderegister gesperrte Adresse kommen konnte.

Kritik an Innenminister

Auch müsse aufgeklärt werden, welche Verbindungen der in Berlin Festgenommene nach Hessen habe und ob es Verbindungen zu einer rechtsextremistischen Anschlagsserie in Berlin-Neukölln gebe. Außerdem sei merkwürdig, dass bei dem wegen Körperverletzung Vorbestraften eine Schusswaffe gefunden worden sei.

Die Unterzeichnerinnen äußerten sich „irritiert“ darüber, dass der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) die Polizei von einer Verwicklung in die Drohschreiben freigesprochen habe, obwohl die Herkunft der vertraulichen Daten noch nicht geklärt sei. „Dass unbekannte Anrufer sich als Polizisten ausgeben und die Daten einer gesamten Familie aus einem Polizeicomputer abfragen können, erscheint wenig plausibel“, heißt es in der Erklärung. (epd/mig) Leitartikel Panorama

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  1. Levent Öztürk sagt:

    Vielen Dank, dass hier bei Migazin dieses Thema erörtert wird. Ansonsten gibt es in der deutschen Medienlandschaft das übliche Schweigen samt der Wegduckerei, Wegschauerei und der investigativen Untätigkeit der deutschen Medien, worauf sich die Behörden bei solchen Themen stets verlassen können. Wurden die NSU Serienmorde bezüglich der Aufklärung existenter Hintermänner und Netzwerke per Schreddern von Beweisdokumenten vertuscht und dadurch, dass restliche Beweise zu Staatsdokumenten proklamiert und für 120 Jahre weggesperrt wurden, wird der NSU 2.0 Skandal nun ebenfalls verdunkelt und vertuscht statt aufgeklärt, die Betroffenen werden von Behörden, der Politik und auch von den Medien im Stich gelassen. Was für eine Schande und was für eine erschreckende Entwicklung und was für eine durch Wegschauen und investigative Untätigkeit geprägte inakzeptable Haltung der deutschen Medien.