Ein Jahr „neues“ AsylbLG
Zweifel an Verfassungskonformität
Vor gut einem Jahr wurden Ansprüche nach dem Asylbewerberleistungsgesetz eingeschränkt. Ein Rückblick auf die Rechtsprechung bundesdeutscher Sozialgerichte zeigt: Es bestehen Zweifel an der Verfassungskonformität vieler Leistungskürzungen.
Von Lisa Pollmann Freitag, 25.09.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 26.09.2020, 8:38 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Im Zuge des „Hau-Ab-Gesetzes“, offiziell unter dem Namen „Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ bekannt, sind vor gut einem Jahr umfassende Gesetzesverschärfungen in Kraft getreten, die unter anderem auch das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) betreffen. Leistungen nach dem AsylbLG, ein Sondersozialhilfesystem, stehen bestimmten ausländischen Personengruppen, darunter Asylbewerber, geduldete und vollziehbar ausreisepflichtige Personen, zur Deckung ihres Lebensunterhalts zu.
Die mit den Gesetzesänderungen („Drittes Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes“) einhergehenden Verschärfungen sind bereits vor Inkrafttreten von flüchtlingspolitischen Organisationen scharf kritisiert worden. Ein Jahr später bestätigt der Rückblick auf die Rechtsprechung diverser bundesdeutscher Sozialgerichte diese Einschätzung und stellt die Verfassungskonformität der „neuen“ Leistungskürzungen zunehmend infrage.
Keine „Schicksalsgemeinschaft“ in Sammelunterkünften
Mit der Gesetzesänderung wurde unter anderem eine neue „Bedarfsgruppe“ für Asylbewerber in Sammelunterkünften geschaffen. Diese Gruppe erhält nur noch den gekürzten Leistungssatz der Regelbedarfsstufe 2 und wird damit als konstruierte „Schicksalsgemeinschaft“ verheirateten beziehungsweise verpartnerten Personen gleichgestellt. Diverse Sozialgerichte, darunter das Sozialgericht Landshut im Oktober 2019, haben diese Leistungskürzung bereits kurz nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung als rechtswidrig eingestuft.
Zum einen fehle es an einer nachvollziehbaren Berechnungsgrundlage für den geringeren Bedarf alleinstehender Geflüchteter in einer Sammelunterkunft. Zum anderen sei nicht nachvollziehbar, dass untereinander fremde, aus unterschiedlichen Kulturkreisen stammende Personen, die zufällig in derselben Sammeleinrichtung untergebracht sind, tatsächlich vergleichbar mit einer Paarbeziehung aus „einem Topf wirtschaften“. Die bloße Annahme, dass alleinstehende Personen analog zu Paarhaushalten Einspareffekte erzielen, sei daher realitätsfern.
Verletzung von Mitwirkungspflichten und individuelles Fehlverhalten
Eine zentrale Änderung der „neuen“ AsylbLG-Regelungen sind die erweiterten Möglichkeiten zur Anspruchseinschränkung, mit dem Ziel vermeintlich individuelles „Fehlverhalten“ von Asylbewerbern, beispielsweise im Bereich der Mitwirkungspflichten, teilweise aber auch die bloße Anwesenheit im Bundesgebiet zu sanktionieren. Eine Gruppe Geflüchteter wurde im Zuge der Gesetzesverschärfungen gar gänzlich von Leistungen nach dem AsylbLG ausgeschlossen: Vollziehbar ausreisepflichtige Personen, denen bereits in einem anderen EU-Mitgliedsstaat ein internationaler Schutzstatus zuerkannt wurde und die im Zuge von Dublin-Überstellungen abgeschoben werden sollen, erhalten lediglich sogenannte sachlich und zeitlich begrenzte Überbrückungsleistungen.
Die Sozialgerichte folgen dieser Argumentation nicht zwangsläufig. Die bloße Anwesenheit im deutschen Bundesgebiet, das schlichte „Nicht-Ausreisen“ und das Stellen eines Asylantrags stellten keine sanktionsfähigen Verhaltensweisen dar. Da keine „freiwillige Dublin-Überstellung“ vorgesehen ist, kann diese auch nicht vom Betroffenen verlangt werden, so ein Beschluss des Sozialgerichts Landshut im Januar 2020.
Übrigens: In den letzten Monaten haben immer mehr Verwaltungsgerichte festgestellt, dass im Zuge von Dublin-Verfahren rücküberstellten Personen in Italien eine unmenschliche Behandlung und damit eine Verletzung von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention droht. Wurden die systemischen Mängel in Bezug auf den Zugang Geflüchteter zu Unterkunft, Verpflegung und Gesundheitsversorgung schon länger kritisch von den Gerichten bewertet, habe sich durch die Auswirkungen der Corona-Krise die Situation dahingehend verschärft, dass auch gesunde, nicht vulnerable Schutzsuchende bei einer Rückkehr nach Italien Gefahr laufen, einer unmenschlichen, erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
Auch der Kürzungstatbestand der „Um-zu-Einreise“ (Einreise zum Zwecke des Leistungsbezugs § 1a Absatz 2 AsylbLG) wird von den Sozialgerichten kritisch beurteilt. So hat beispielweise das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen im April 2020 argumentiert, dass die prägende Einreisemotivation nur schwer überprüfbar ist, jedoch ohne weiteres nicht anzunehmen ist, dass die Einreise mit der Intention des Sozialhilfebezugs erfolgt ist. Darüber hinaus sei generell unklar, ob eine „Um-zu-Einreise“ eine dauerhafte Leistungseinschränkung rechtfertigt, da diese nicht in die Kategorie der verhaltensbedingten Leistungskürzungen fällt. In Bezug auf Mitwirkungspflichten bei der Identitätsklärung stellte das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen im Juli 2020 klar, dass fehlende Passpapiere, die im Laufe der Flucht verloren gegangen oder beschlagnahmt worden sind, entgegen der neuen Gesetzesfassung ebenfalls keine AsylbLG-Kürzung rechtfertigen.
Menschenwürdiges Existenzminimum
Ein Rückblick auf die vergangenen 12 Monate verdeutlicht die Diskrepanz zwischen den verschärften AsylbLG-Kürzungen, die als Puzzleteil einer zunehmend auf Abschottung setzenden Flüchtlingspolitik zu interpretieren sind, und der Rechtsauffassung bundesdeutscher Sozialgerichte. Zwei Beschlüsse des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen bringen diese Diskrepanz besonders deutlich auf den Punkt: Unter Berufung auf eine vorangegangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu SGB II-Sanktionen wirft das Landessozialgericht die grundlegende Frage der Vereinbarkeit von AsylbLG-Kürzungen nach § 1a AsylbLG mit der im Grundgesetz garantierten Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf (Beschlüsse vom 04.12.2019 und 09.04.2020). Meinung
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