Fake News und Ausgangssperren
In Lateinamerika breitet sich das Corona-Virus immer schneller aus
Die Zahl der Neuinfektionen mit dem Corona-Virus steigt in vielen Ländern Lateinamerikas deutlich. Die Regierungen reagieren sehr unterschiedlich. Brasilien ruft dabei weltweit Empörung hervor. Am stärksten sind ethnische Minderheiten betroffen.
Von Susann Kreutzmann Donnerstag, 04.06.2020, 5:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 02.06.2020, 21:36 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Lateinamerika ist das neue Epizentrum der Corona-Pandemie. Rund eine Million Menschen sind offiziell infiziert. Die Dunkelziffer könnte wegen fehlender Testkapazitäten laut Experten acht Mal so hoch sein. Besonders schwer ist Brasilien mit knapp 30.000 Toten betroffen. Die Bilder von Massengräbern in Manaus und São Paulo gehen um die Welt. Doch Präsident Jair Bolsonaro spricht weiter von Fake-News und einer „kleinen Grippe“. Da zwei ausgewiesene Experten innerhalb eines Monats im Streit mit Bolsonaro zurückgetreten sind, steht das Land zudem ohne Gesundheitsminister da.
Regierungen vieler lateinamerikanischer Länder haben hingegen schnell Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus ergriffen, wie etwa Argentinien. „Von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts kann man sich erholen, vom Tod aber nicht“, begründete Präsident Alberto Fernández die strikten Quarantänemaßnahmen. Schnell schichtete die Regierung trotz Schuldenkrise Mittel für die öffentliche Gesundheit um und erarbeitete mit den Provinzen eine einheitliche Strategie. Das Resultat: Eine landesweite Ausbreitung konnte eingedämmt werden. 86 Prozent der Fälle konzentrieren sich auf den Großraum Buenos Aires. Hier allerdings sind die Menschen in den Slums und tristen Vororten überproportional betroffen.
„Die Pandemie betrifft die Ärmsten und die ethnischen Minderheiten am stärksten“, sagt der Politikwissenschaftler Joan Costa-Font von der London School of Economics in einem Interview mit der Zeitung „Folha de São Paulo“. Die Reicheren könnten zu Hause bleiben und arbeiten, die Armen nicht. „Denn es gibt das Problem der informellen Arbeit, das sehr groß ist in Lateinamerika.“ Deshalb sei auch der Prozentsatz derjenigen, die Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen einhalten könnten, sehr viel geringer als in Europa.
Drastische Maßnahmen in Peru
Die Zahl der Corona-Infektionen steigt auch in Mexiko, Chile, Kolumbien und Peru deutlich, obwohl die Regierungen sehr unterschiedlich reagieren. Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador reiste zu Beginn der Krise noch durchs Land und rief dazu auf, „mit Küssen und Umarmungen“ gegen das Virus zu kämpfen. Inzwischen hat er Experten das Krisenmanagement überlassen.
Peru verhängte zügig drastische Maßnahmen. Seit dem 16. März gilt eine strikte Ausgangssperre, Männer und Frauen dürfen nur an unterschiedlichen Tagen das Haus verlassen und das auch nur, um einzukaufen, in die Apotheke oder zum Arzt zu gehen. In Chile verhängte Präsident Sebastian Piñera eine Quarantäne für den Großraum Santiago.
Gesundheitssysteme kurz vor dem Kollaps
Derweil stehen die Gesundheitssysteme beider Länder kurz vor dem Kollaps. Die Regierungen haben jeweils in den vergangenen Jahren die öffentlichen Ausgaben dafür massiv gekürzt. So gibt es in ganz Peru nach Angaben der Stiftung Getúlio Vargas nur 800 Intensivbetten für 32 Millionen Einwohner. Das entspricht einem Verhältnis von 2,6 Intensivbetten für 100.000 Einwohner. Selbst für Lateinamerika ist dieser Wert außerordentlich gering. Zum Vergleich: Deutschland verfügt nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) über 34, Italien über 8,6 Intensivbetten je 100.000 Einwohner.
Im Krisenland Venezuela brach das Gesundheitssystem wegen der tiefen wirtschaftlichen Krise schon vor dem Corona-Ausbruch zusammen. Seitdem werden die wenigen bis dahin noch erhältlichen Lebensmittel noch knapper und teurer. Die UN befürchten eine Hungerkrise und setzen das weltweit ölreichste Land mit Staaten wie Syrien und Afghanistan auf eine Stufe. Selbst Krankenhäuser haben oft weder Strom noch Wasser, und Benzin gibt es landesweit fast gar nicht mehr.
Soziale und wirtschaftliche Krise befürchtet
Einzig Uruguay verfügt über ein gut funktionierendes Gesundheitssystem. Die Regierung schloss zwar Schulen und verbot öffentliche Veranstaltungen, verhängte aber keine Ausgangsbeschränkungen. Dennoch blieben rund 90 Prozent der Menschen zu Hause. Bis jetzt sind in dem kleinen Land offiziell 22 Menschen an einer Corona-Infektion gestorben.
Die Pandemie wird die meisten Länder Lateinamerikas in eine neue schwere soziale und wirtschaftliche Krise stürzen. Entwicklungsexperten erwarten, dass 29 Millionen Menschen in der Region in Armut zurückfallen. Schon jetzt haben Hunger und Unterernährung zugenommen. Viele Arbeitsmigranten, die in die großen Städten gezogen waren, haben ihre Arbeit verloren und kehren in ihre Dörfer zurück und verbreiten so das Virus. So hat es sich in Brasilien vom ersten Hotspot São Paulo in den ärmeren Nordosten und die Amazonas-Region verbreitet. (epd/mig) Aktuell Ausland
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