3.025 Seiten
Schriftliches Urteil im NSU-Prozess liegt vor
Knapp zwei Jahre nach Verkündung des Urteils im NSU-Prozess hat das Oberlandesgericht München das schriftliche Urteil fertiggestellt. Für das Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“ wird das Urteil dem NSU-Komplex nicht gerecht. Inzwischen wisse man viel mehr.
Mittwoch, 22.04.2020, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 22.04.2020, 0:50 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Das Oberlandesgericht (OLG) München hat im Strafverfahren gegen die Rechtsterroristin Beate Zschäpe das schriftliche Urteil fertiggestellt. Das 3.025 Seiten umfassende Urteil des 6. Strafsenates sei am Dienstag zu den Akten genommen worden und werde nun in Kürze an die Anwälte der Angeklagten und die Bundesanwaltschaft verschickt, teilte das OLG mit. Die Revisionsführer hätten ab der Zustellung einen Monat Zeit, ihre bereits eingelegte Revision zu begründen. Das Urteil im NSU-Prozess war bereits im Juli 2018 verkündet worden – seither wurde auf die schriftliche Ausfertigung des Urteils gewartet.
Die Hauptangeklagte Zschäpe war damals nach fünf Jahren Verhandlung zu lebenslanger Haft wegen Mordes in zehn Fällen verurteilt worden. Dabei wurde auch die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Die Mitangeklagten Ralf Wohlleben, Holger G., André E. und Carsten S. wurden ebenfalls verurteilt. Wohlleben erhielt wegen Beihilfe zum Mord zehn Jahren Haft. Holger G. und André E. wurden wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu drei Jahren beziehungsweise zwei Jahren und sechs Monate Haft verurteilt, Carsten S. zu drei Jahren Jugendstrafe wegen Beihilfe zum Mord.
Das Urteil hatte bereits nach seiner mündlichen Verkündung heftige Kritik ausgelöst. Das Strafmaß für Ralf Wohlleben und André E. wird heute noch als ein „fatales Zeichen an die Betroffenen und an die Neonazi-Szene“ gewertet. Im Falle Emingers hatte das Gericht schon nach seiner Urteilsbegründung den Haftbefehl auf, weil bei dem Strafmaß eine Untersuchungshaft unverhältnismäßig sei. Im Publikum anwesende Rechtsextremisten reagierten mit Applaus und Jubel auf die Freilassung Emingers. Eine Woche später wurde auch Ralf Wohlleben von der Untersuchungshaft entlassen. Beide sind weiter auf freiem Fuß und dem Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“ zufolge weiterhin „aktive Neonazis“.
„Nazis und Rassisten wurden ermuntert“
„Der Quasi-Freispruch kommt einer Amnestie für das ‚Netzwerk der Kameraden‘ gleich, von dem der NSU in seinem Bekennervideo sprach. Nazis und Rassisten wurden ermuntert, weiterzumachen“, kritisiert Teresa Ramani, Pressesprecherin des Aktionsbündnisses.
Etwa ein Jahr nach der Urteilsverkündung erschossen Nazis im Juli 2019 den Politiker Walter Lübcke. Einer der mutmaßlichen Täter war schon 2006 in die polizeilichen Ermittlungen zum NSU-Mord an Halit Yozgat einbezogen. Im Oktober 2019 folgte der antisemitische Anschlag auf die voll besuchte Synagoge in Halle. Weil dieser misslang, erschoss der Täter zwei Menschen, darunter einen Besucher im Kiez-Döner. Am 19. Februar ermordete ein Rassist in Hanau neun Menschen. „In Geist, Intention und teilweise in der Ausführung sind Parallelen zwischen den Morden an Walter Lübcke, denen von Halle, dem Massaker von Hanau und der Mordserie des NSU unübersehbar“, so Ramani.
Aktionsbündnis kritisiert Trio-These
Das Aktionsbündnis kritisiert, dass schon in der mündlichen Urteilsverkündung der Vorsitzende Richter Manfred Götzl die These vom NSU als „Trio“ vertreten hatte. Anträge der Opferfamilien, das Netzwerk der NSU-Unterstützer in Dortmund und Kassel aufzuklären, hatte das OLG abgelehnt. Das Bündnis kritisiert auch, dass in der mündlichen Urteilsverkündung auch die Polizei „von jeglicher Verantwortung freigesprochen“ und eine Erwähnung der Inlandsgeheimdienste vom Senat „mit keinem Wort für nötig erachtet“ wurde.
Ramani: „Fast zwei Jahre nach der Urteilsverkündung wissen wir heute mehr über rassistische und neonazistische Strukturen in der Polizei. Wir wissen, dass Polizisten für Morddrohungen an der Rechtsanwältin der Familie Şimşek, Seda Başay-Yıldız, verantwortlich sind. Allein in Hessen stehen aktuell 38 Polizisten wegen neonazistischer Aktivitäten unter Verdacht. Wir wissen auch, dass der hessische Verfassungsschutz die Akten mit Bezug zum NSU mit unverhältnismäßig langen Sperrfristen versah.“ Die Sperrungen erschwerten auch die Ermittlungen zum Mord an Walter Lübcke und zu möglichen Verbindungslinien zum NSU. Das Aktionsbündnis fordert die Freigabe der Akten und eine Enquete-Kommission zu rassistischen Strukturen in den Sicherheitsbehörden.
Daimagüler: Mit dem Verschweigen nicht abfinden
Mehmet Daimagüler, Nebenklagevertreter im NSU-Prozess, wirft dem Staat vor, „endlich“ ein Schlussstrich ziehen zu wollen. „Aus dem Verschweigen des Staates soll ein Schweigen der Gesellschaft werden. Wenn wir uns aber mit dem großen Verschweigen abfinden, dann sollten wir auch nicht überrascht sein, dass Nazis und Rassisten weiter drohen und morden, dass Menschen sterben und dass die Zustände nicht besser, sondern schlechter werden“, erklärt Daimagüler.
Die rechtsextrem motivierte Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) war 2011 aufgedeckt worden. Den Taten von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe fielen zwischen 2000 und 2007 nach Behördenerkenntnissen in acht Städten neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin zum Opfer. Zschäpe stand als einzige Überlebende des Trios vor Gericht, ebenso wie vier Helfer der Gruppe. Böhnhardt und Mundlos sollen sich 2011 auf der Flucht vor der Polizei das Leben genommen haben. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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