Es geht um Glaubwürdigkeit
Merkel: Im Mordfall Lübcke nach NSU-Verbindungen schauen
Bundeskanzlerin Merkel fordert Aufklärung im Mordfall Lübcke, auch NSU-Verbindungen müssten untersucht werden. Sonst drohe ein "vollkommener Verlust der Glaubwürdigkeit". Derweil tauchten neue Drohmails auf, in Hessen demonstrierten Menschen gegen Rechtsextremismus.
Montag, 24.06.2019, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 27.06.2019, 15:45 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Im Fall des getöteten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine umfassende Aufklärung möglicher Verbindungen zur rechtsterroristischen Gruppe NSU gefordert. Noch liefen die Ermittlungen, aber manches zeige, dass es zwischen dem mutmaßlichen Täter und dieser Zeit Verbindungen gebe, sagte Merkel am Samstag auf dem evangelischen Kirchentag in Dortmund. Sie sage das „mit aller Vorsichtigkeit“, betonte sie.
„Wir haben den Betroffenen damals Versprechungen gegeben“, sagte Merkel mit Blick auf die Opfer des NSU. Wenn man jetzt nicht genau nach Verbindungen schaue, „haben wir einen vollkommenen Verlust der Glaubwürdigkeit“, sagte Merkel. „Und das ist natürlich das Gegenteil von dem, was wir brauchen: Vertrauen“.
Seehofer will engere Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden
Bundesinnenminister Horst Seehofer mahnte (CSU) eine engere Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern an. Der Rechtsextremismus dieser Tage sei eine gefährliche Bedrohung für die freiheitliche Grundordnung insgesamt, aber auch für einzelne Personen des öffentlichen Lebens – von der Kommunalpolitik bis hin zur Bundespolitik, sagte er am Donnerstag in Berlin.
Deshalb müsse die Arbeit der Sicherheitsbehörden zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und insbesondere der gewaltbereiten Personen und Netzwerke deutlich verstärkt werden. In keinem Bereich könne die absolute Sicherheit gewährleistet werden, aber es sei die Pflicht als Politiker, das Menschenmögliche zu tun, um jene zu schützen, die bedroht würden, fügte er hinzu.
Neue Droh-Mails gegen Politiker
Nach dem Mord an Lübcke sind bei mehreren Politikern in Deutschland neue Drohungen eingegangen. Die Kölner Polizei bestätigte, dass die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) bedroht worden sei. Sie war bereits 2015 bei einem Messerattentat lebensgefährlich verletzt worden. Der inzwischen zu 14 Jahren Haft verurteilte Täter war in der Neonazi-Szene aktiv gewesen.
Die bundesweiten Ermittlungen zu den neuen Drohungen übernahmen die Generalstaatsanwaltschaft Berlin und das Landeskriminalamt Berlin. Ob die Droh-Mails vom 19. Juni gegen Institutionen und Personen des öffentlichen Lebens in Zusammenhang stünden mit weiteren bundesweiten Drohschreiben mit rechtsextremistischem Hintergrund, zu denen bereits in Berlin ermittelt werde, sei derzeit Gegenstand der Ermittlungen, teilten die beiden Behörden mit. Weitere Angaben wurden nicht gemacht.
Demonstration in Hessen
Am Samstag demonstrierten rund 2.600 Menschen in Nordhessen gegen Rechtsextremismus. 600 Menschen versammelten sich nach Polizeiangaben am Marktplatz von Lübckes Wohnort Wolfhagen zu einer Mahnwache, in Kassel zogen rund 2.000 Menschen durch die Innenstadt.
Teilnehmer hielten ein Transparent mit der Aufschrift: „Für Frieden im Miteinander, gegen Hass, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit“. „Lübcke wurde als Christ ermordet, und er ist nach der verheerenden NS-Diktatur der erste Vertreter Hessens und der Bundesrepublik, der durch Rechtsextremisten ermordet wurde“, sagte der evangelische Dekan Gernot Gerlach.
Auschwitz Komitee fordert Durchgreifen gegen rechte Szene
Holocaust-Überlebende forderten am Samstag ein konsequentes Durchgreifen der Sicherheitsbehörden gegen die rechte Szene. Alle staatlichen Institutionen, vom Verfassungsschutz bis hin zur Polizei, seien jetzt in der Pflicht, ihre internen und externen Erkenntnisse über rechtsextreme Gruppen und Personen öffentlich zu machen, erklärte das Internationale Auschwitz Komitee in Berlin.
Die Überlebenden des Holocaust reagierten mit großer Verunsicherung und Beunruhigung auf die Nachrichten aus Deutschland und fragten sich, ob angesichts von allzu viel schläfrigem Selbstbewusstsein in Politik und Gesellschaft das massiv gewachsene Potenzial rechten Hasses und rechter Gewalt nicht viel zu lange verharmlost und unterschätzt worden ist, hieß es weiter. „In diesen Tagen geht es wirklich um eine neue Qualität dieses Hasses und der rechtsextremen Gefahr in Deutschland“, erklärte der Exekutiv-Vizepräsident des Auschwitz Komitees, Christoph Heubner.
Mehr rechtsextreme Gewalttaten
Tatsächlich ist die Zahl rechtsextremer Gewalttaten im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. Während 2017 noch 1130 solcher Taten erfasst worden sind, sind es 2018 bereits 1.156 gewesen, teilte das Bundesinnenministerium mit. Laut dem Bericht, der am Donnerstag vorgestellt werden soll, seien Ende 2018 rund 24.100 Personen in Deutschland als rechtsextrem eingestuft gewesen. Im Jahr zuvor waren es geringfügig weniger (24.000).
Fast jeder Zweite von ihnen gelte als „gewaltbereit“, heißt es in einem Bericht des Boulevardblattes „Bild“. 2018 habe es sechs versuchte Tötungsdelikte gegeben, die als „mutmaßlich rechtsextremistisch“ eingestuft worden seien. Alle hätten einen fremdenfeindlichen Hintergrund gehabt. Zu den Feindbildern der Rechtsextremisten gehörten neben „Ausländern“ auch Politiker, zitierte das Blatt.
Zusammenhang mit der NSU
Lübcke wurde am 2. Juni spätabends vor seinem Wohnhaus mit einem Kopfschuss getötet. Ein Verdächtiger sitzt seit vergangener Woche in Haft. Die Ermittler vermuten einen rechtsextremen Hintergrund. Spekuliert wurde auch über mögliche Verbindungen zum NSU.
Die rechte Terror-Gruppe soll zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen ermordet haben: acht türkische Migranten, einen griechischen Einwanderer und eine Polizistin. Die Taten wurden erst 2011 aufgedeckt und zogen eine Reihe von Ermittlungen und Untersuchungsausschüssen nach sich, die offenbarten, wie die Behörden dabei versagten, die rechtsextremen Motive der Taten zu erkennen. (epd/mig) Leitartikel Politik
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