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Berichte von Augenzeugen

Was Flüchtlinge auf der gefährlichsten Fluchtroute der Welt erleben

Menschenhandel, Gewalt und Tod. Die gefährlichste Fluchtroute der Welt führt durch Libyen über das Mittelmeer nach Europa. Was die Menschen bei ihrer Flucht durchmachen und welche Rolle Europa dabei spielt, fasst Jutta Geray zusammen.

Von Jutta Geray Mittwoch, 12.07.2017, 4:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 13.07.2017, 16:41 Uhr Lesedauer: 11 Minuten  |  

Libyen ist das Haupttransitland für Menschen aus afrikanischen Ländern, die über das Mittelmeer in die EU flüchten. Im vergangenen Jahr gelangten 180.000 Menschen über Libyen nach Italien, 4579 Menschen starben auf der zentralen Mittelmeer-Route. Im ersten Halbjahr 2017 kamen bereits 85.150 Menschen über die Route von Libyen nach Italien, 2150 Menschen verloren ihr Leben auf dieser gefährlichsten Route der Welt. Nirgendwo sonst sterben mehr Menschen auf dem Fluchtweg, als an der südlichen EU-Grenze.

Bereits in Libyen droht Flüchtlingen Gewalt und Lebensgefahr von allen Seiten. Sie sind begehrte Beute im libyschen Menschenhandelssystem. Milizen, rein kriminelle Banden aber auch staatliche Flüchtlingsgefängnisse versuchen das maximale aus ihnen heraus zu pressen und „motivieren“ sie mit Misshandlung und Folter zu weiteren Geldzahlungen oder zwingen sie zur Sklavenarbeit, wenn nichts mehr zu holen ist. Nach einem UN Bericht vom April 2017 gibt es in Libyen inzwischen in aller Öffentlichkeit Sklavenmärkte, auf denen Flüchtlinge verkauft werden.

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Ende 2016 unterstanden nach UN Kenntnissen, 24 Internierungseinrichtungen dem Innenministerium der neuen Einheitsregierung, darin waren bis zu 7000 Menschen wegen „illegalen Grenzübertritt“ auf unbestimmte Zeit gefangen.

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Aus den Zeugenaussagen, die Amnesty seit 2011 von Flüchtlingen sammelt und aus dem Bericht der UN zu Libyen vom Dezember 2016 wird klar: Alle bislang entstandenen staatlichen Institutionen – vom Gefängnis bis zur Küstenwache – sind direkt oder indirekt Teil eines brutalen Menschenhandelssystems.

In der Hand krimineller Banden

Ahmed, ein 18-Jähriger aus Somalia erlebte, wie ein 19- jähriger Syrer verdurstete, weil die Menschenhändler den zur Arbeit gezwungenen Gefangenen das Wasser verweigerten. Ein 24-jähriger Eritreer erlebte, wie Menschenhändler einen behinderten Mann aus dem Bus warfen und in der Wüste zum Sterben zurückließen. Eine 22-Jährige aus Eritrea erzählt, wie sie Zeugin einer Gruppenvergewaltigung wurde. Die Menschenhändler behaupteten, die Frau hätte das Reisegeld nicht bezahlt und ließen sie von Mitgliedern einer kriminellen Bande vergewaltigen. Die 22-jährige Ramya aus Eritrea, erzählt, wie Bewacher sich jeden Abend unter den Gefangenen Frauen aussuchten und vergewaltigten. Eine Frau aus Eritrea berichtet von ihrer Gefangenschaft in der Gewalt einer islamistischen Miliz. Sie schlugen die Frauen bis sie zum Islam konvertierten, anschließend nahmen sie die Gefangenen als Sexsklavinnen und nannten es „Heirat“. Frauen berichten, dass Vergewaltigung in Libyen Alltag ist. Viele wussten vor der Abreise davon und verhüteten, um nicht schwanger zu werden.

Ein interner Bericht von deutschen Diplomaten aus Niger an das Auswärtige Amt, der Ende Januar 2017 der Öffentlichkeit zugespielt wurde und Handy-Fotos und -Videos von Überlebenden als Quelle nennt, erzählt von einem Privatgefängnis in dem „fünf Erschießungen wöchentlich“ stattfanden. Mit Ankündigung, um „Raum für Neuankömmlinge zu schaffen.“ Der „menschliche Durchsatz“ sollte erhöht werden, für den Profit der Betreiber.

Folter in staatlicher Haft

Alle Zeugen berichten, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt aus einem staatlichen Flüchtlingsgefängnis wieder heraus zu kommen: Freikauf oder Flucht. Ein Ehepaar aus Eritrea berichtet, dass der Mann regelmäßig ausgepeitscht, mit heißem Wasser verbrüht oder in eine Kiste gesperrt wurde. Seine Frau wurde regelmäßig vom Leiter des Gefängnisses geschlagen. Das Ehepaar konnte sich mithilfe von Verwandten freikaufen.

Ein Zeuge erzählt, wie er täglich misshandelt wurde, hungerte und versalzene Wasserrationen bekam. Sie gaben ihm immer wieder ein Telefon mit der Aufforderung, seine Familie anzurufen, die Geld überweisen sollten. Seine Familie war tot, da verliehen sie ihn als Arbeitssklaven in der Landwirtschaft und auf Baustellen. Nach 3 Monaten konnte er den Aufsehern entkommen.

Eine Untersuchung der UN in Libyen von November 2015 dokumentiert, dass auch Schwangere die in den staatlichen Gefängnissen ein Kind zur Welt brachten, keinen Zugang zu medizinischer Hilfe hatten. Die UN erfuhr von mehreren Fällen, bei denen die Mutter oder ihr neugeborenes Kind starben.

Auch die NGO „Ärzte ohne Grenzen“, die noch Zugang zu ein paar staatlichen Flüchtlingsgefängnissen hat, kommt zu dem Schluss, dass staatliche Gefängnisse ebenso in den Menschenhandel involviert sind wie private Milizen und Banden: „Sie betreiben ein kriminelles Geschäft mit Erpressungen. Die Leute müssen sich freikaufen. Die Lager haben eine Art Belegungsminimum. Wenn im Winter weniger Transitmigranten nachkommen, werden andere Ausländer verhaftet, die regulär im Land leben. Dieses Geschäft ist sehr genau dokumentiert.“

Der einzige Fluchtweg nach Europa

Trotz dieser brutalen und lebensgefährlichen Bedingungen für Flüchtlinge, die sich auch in den Herkunftsländern der Überlebenden herumgesprochen haben, flüchteten im Jahr 2016 mehr Menschen über Libyen in die EU als zuvor und der Trend setzte sich im ersten Halbjahr 2017 fort. Nur das im Chaos versunkene Libyen ist noch offen, die anderen Nordafrikanischen Staaten haben ihre Grenzen für Transitflüchtlinge mit Hilfe der EU schon längst dichtgemacht. Sichere und legale Wege nach Europa gibt es für Flüchtlinge nicht.

Land der Milizen

Seit dem Sturz des alten Regimes ist Libyen Staats- und Rechtsfreie Zone, Städte und Regionen werden von Milizen beherrscht, die in der Revolution gegen das Gaddafi-Regime kämpften und von rein kriminellen Banden. Sie konkurrieren um ihren Anteil im Handel mit Waffen, Drogen und Menschen – die legale Wirtschaft ist inzwischen fast vollkommen zusammengebrochen – langfristig geht es aber auch um die Teilhabe an der Macht eines künftigen libyschen Staates.

Der gewählte Parlamentsrat aus Tobruk und die selbst ernannte „Regierung zur nationalen Rettung“ (National Salvation Government), die Tripolis eroberte, kämpften um Kontrolle im Osten beziehungsweise Westen Libyens und seit 2014 gegeneinander mit dem Ziel, Kontrolle über das ganze Land zu erlangen. Für Tobruk kämpft die Koalition „Operation Dignity“, die sich aus traditionellen Stammesmilizen und während der Revolution desertierten früheren Armeeeinheiten zusammensetzt. Für die Regierung in Tripolis kämpfte die Koalition „National Dawn“ aus städtischen Milizen im Westen. Nach einem militärischen Patt und unter hohem ausländischen Druck vereinbarten die beiden Konkurrenten am 17. Dezember 2015 eine Einheitsregierung unter Fayiz as-Sarradsch. Doch sobald die Ministerliste fertig war, versagten beide Lager der „Einheitsregierung“ die Unterstützung und sahen ihre jeweils eigenen Interessen und Anteile an der künftigen Regierung nicht genügend berücksichtigt.

Die „Einheitsregierung“ hat noch nicht einmal über die ganze Hauptstadt Kontrolle und ist auf die Loyalität der Milizen aus Tripolis angewiesen. Mit ihr gibt es nun drei konkurrierende „Regierungen“ im Land und noch bevor die „Einheitsregierung“ innerhalb Libyens anerkannt oder mit neuen Verhandlungen tatsächlich legitimiert wird, bildet die EU bereits die staatliche Küstenwache aus und plant die Bildung einer Marine und einer Garde, zur Stärkung und zum Schutz der neuen Regierung. Das Hauptziel der EU: Libyen soll Transitflüchtlinge künftig in libyschen Gewässern aufhalten und zurückbringen. Aktuell Panorama

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  1. Ingo Straube sagt:

    Das die EU, insbesonders Deutschland, kein Einwanderungsgesetz hat, ist dummdreister politischer Unwille, würde aberdie inhumane Ausbeutung anderswo ebensowenig ändern wie den Genozid im Mittelmeer, in Lybien und anderswo. Aber jedes Vorankommen beginnt damit, aus dem Sessel aufzustehen und die Füße voreinander zu setzen.
    Denn: Um dem eigenen Verrecken zu entgehen, werden Menschen immer kleinste Chancen nutzen und jedes Risiko in Kauf nehmen.
    Es gibt nur die Alternative von „Marshalplänen“: siehe: http://www.epochtimes.de/politik/welt/g-20-und-der-marshall-plan-fuer-afrika-warum-die-armen-laender-nicht-auf-die-beine-kommen-a2163063.html, um Fluchtursachen zu bekämpfen.
    Bis wohlhabendere Regionen dieser Erde humane Vernunft
    annehmen, werden noch viele Millionen elend krepieren..

  2. Eman sagt:

    Gegen die hier beschriebenen Zustände war die Gaddafi-Diktatur ja das reine Paradies wie dessen Zukunftspläne für den Aufbau einer Wasserversorgung oder die Einführung einer goldgedeckten Währung für Nordafrika.

    Die Zukunftspläne der „Demokraten“ bestehen hauptsächlich daraus, allen Flüchtlingen eine sichere und preiswerte alternative Flucht nach Europa zu ermöglichen. Doch welche Zukunft erwartet den meisten Asylanten hier?
    Wenn Arbeit gefunden, dann sind es meist stumpfe präkere Dumpinglohn-Beschäftigungen. Schon die Kommunikation bereitet viele Asylanten Probleme. Die Drogenproblematiken- wie Opfer werden öffentlich erst gar nicht thematisiert. Die „Deutsche Gastfreundschaft“ hört doch schon dort auf, wo reiche Grünenwähler ihre Villen stehen haben – die Bildung von „Ghettos“ ist vorprogrammiert. Ausnahmen bestätigen die Regel.