Gedicht

Geht nicht, gibt‘s nicht, haben wir nicht!

Es ist ein Konflikt: Wohlstand versus Notsituation, Festung gegen Küste, Mensch gegen Mensch, Unmenschlichkeit gegen Menschlichkeit. Von Sarah Gaad

Von Freitag, 12.02.2016, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 14.02.2016, 20:18 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Und trotzdem:
Wir sind gekommen. Getrieben vom Gefühl der Menschlichkeit, das Menschlichste an uns überhaupt!
Wir sind geblieben. Dafür haben wir mit unserem Leben gekämpft, um unseren Kindern und Kindeskindern ein Leben zu ermöglichen.
Wir wurden geduldet und abgeschoben. Auch wenn es verfassungswidrig war, und trotzdem haben wir nicht aufgegeben.

Wir laufen, schreien, atmen, um nicht stehenzubleiben, weil das unser Tod bedeuten könnte.
Grenzen entstehen. Zäune und Mauern werden errichtet. Sie verlaufen überall, sie durchlaufen uns, wir geben auf, wir geben einen Fingerabdruck.
Wir verlieren die Kontrolle über das Leben. Wir geben nicht auf, nicht jetzt.

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Sie, die ihre Wirtschaft in unseren Ländern zum Funktionieren bringen, richten Chaos an. Damit es ihnen besser geht.
Sie, die ihre Grenzen dicht machen, erklären uns zu Verbrechern. Damit es ihnen nicht schlechter geht.
Unser Menschenleben ist wertvoll, egal woher und wohin wir Menschen wollen. Sie wissen das, aber sie schätzen uns nicht.

Wir kämpfen in unserem Namen, im Namen der Gleichberechtigung. Eure Grenzen werden nicht halten.
Es ist ein Konflikt: Wohlstand versus Notsituation, Festung gegen Küste, Mensch gegen Mensch, Unmenschlichkeit gegen Menschlichkeit.
Von Macht und Ohnmacht, unsere Werte gegen ihre Werte, ich gegen dich. Aber auf welcher Seite bewegst Du dich?

Wir sind Frischfleisch, billig, gut für das Geschäft. Wir verhandeln und werden verkauft. Die Hunde bellen und fallen wie wild über uns her.
„Not this station, next station“, sagen sie zu uns. Es spielt keine Rolle hier oder dort, wo auch immer, es ist uns egal!
Wir drehen uns nicht um. Wir schweigen und stellen uns dumm. Wir sollen sie alle lieben –
trotz Tränen und Spucke.

„Frieden!“, flüstern wir. Aber sie bewerfen uns mit Kriegen – die uns jede Hoffnung stehlen.
„Asyl“, rufen wir. Aber sie beschenken uns mit Zurückweisungen – die unsere Träume einfrieren.
„Hilfe“, schreien wir. Aber wir haben zu lange gewartet und unser Leben aufs Spiel gesetzt –
denn es wurde uns schon viel früher genommen.

Ich bin in Vergessenheit geraten, ich weiß nicht mehr, wer ich bin – vielleicht fällt es mir oder dir übermorgen wieder ein.
Ich erhalte ein Alter, einen Namen und ein neues Gesicht. Ich verstehe nicht. Meine Mutter würde es mir erklären. Ich vermisse sie.
Ich bin ein Mensch, ich bin geboren, ich habe eine Bedeutung. Ich weiß, wer ich bin und ich weiß, dass sie es nicht wissen wollen.

Ich bin asylsuchend. Oder doch lieber geduldet. Aber eigentlich bin ich Flüchtling. Nein, ich bin das Problem, für mich, für dich, und für sie.
Ich gebe mich zu erkennen, interessiere mich und denke. Ich habe ein Geschlecht, aber die Flucht bin nicht ich.
Ich höre, ich sehe, ich funktioniere, ich bin geflüchtet. Ich existiere. Es ist meine Identität –
und doch bin ich an erster Stelle Mensch.

Und dennoch:
Sie zeigen Solidarität. Aber sie diskriminieren mich. Weil ich lebe.
Ich sage, ich bin Mensch.
Sie zeigen Engagement. Aber sie verurteilen mich. Weil ich glaube.
Ich fürchte, ich bin Mensch.
Sie zeigen Courage. Aber sie verweigern mich. Weil ich bestimme.
Ich frage, bin ich Mensch?

Attentat, Vergewaltigung, Mord – wir sind, wie wir sind.
Rassismus, Sexismus und Homophobismus – sie sind, wie sie sind.
Scham, Schuld und Angst – das sind wir, so sind wir.

Gott, wieso wurden wir als testosterongesteuert und radikal geboren?
– siehst Du das in uns?
Vater, wieso wurde uns vorgeworfen wir seien gefährlich und kriminell?
– hälst Du das von uns?
Mutter, wieso sammelst du uns ein und streichelst uns?
– ohne Sorge zu tragen um uns?

Am Ende riechen wir uns und muffeln, miefen und stinken.
Wir schmecken uns und verfaulen, verrotten und verwesen.
Wir hören uns und heulen, schreien und brüllen.
Wir sehen uns und leiden, zweifeln und fürchten.
Wir fühlen uns und schämen uns. Wir fühlen uns und zerreißen uns. Wir fühlen uns nicht. Wir fühlen nichts, denn sie sagen: „Geht nicht, gibt‘s nicht, haben wir nicht!“ Aktuell Feuilleton Videos

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  1. dr. martin steinmetz sagt:

    Hallo Sarah,
    herzlichen Dank für deinen sehr klugen, gerechten, aufrichtigen und einfühlsamen Text.
    Beste Grüße
    M.Stz

  2. Rainer Möller sagt:

    Bemerkenswert die Gegenüberstellung!

    „Attentat Vergewaltigung, Mord – wir (die Migranten) sind, wie wir sind.
    Rassismus, Sexismus, Homophobismus – sie (die Sesshaften) sind, wie sie sind.“
    Da denk ich doch: Rassismus, Sexismus und Homophobismus sind dem Attentat, der Vergewaltigung und dem Mord bei weitem vorzuziehen.