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Bahareh Sharifi © privat, bearb. MiG

Deutungshoheit und die (Willkommens)Kultur

Warum eine Rassismus-Debatte unmöglich ist

Die aktuelle Flüchtlingssituation zeigt eindrucksvoll: nachhaltige Bekämpfung von Rassismus kann nur gelingen, wenn privilegierte Gruppen sich von ihrem bisherigen Monopol auf Deutungshoheit verabschieden. Von Bahareh Sharifi

Von Mittwoch, 07.10.2015, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 08.10.2015, 0:47 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Die vermeintliche, gesellschaftliche Spaltung, die wir glauben in den derzeitigen Entwicklungen feststellen zu können, beschreibt lediglich zwei Pole einer Gesellschaft, die von ihrem Selbstverständnis nicht abrücken will. So waren es auch nicht die politischen Kämpfe der Geflüchteten-Aktivist*innen am Rindermarkt 2013, die die Menschen in München auf die Straße brachten, sondern der derzeit um sich greifende Drang beim deutschen Sommermärchen Teil 2 dabei gewesen zu sein. Es scheint, als wollen sich alle bei ihrem Einsatz überbieten, gefolgt von dem sich gegenseitig auf die Schulter klopfen und der medialen Inszenierung als Weltmeister der Willkommenskultur.

Aber während die Mehrheitsgesellschaft in Facebook-Gruppen „Stadt XY hilft“ oder „Stricken/Backen/Töpfern für Flüchtlinge“ ihr Engagement in ellenlangen Posts Revue passieren lässt, stehen dem einige von uns voller Misstrauen gegenüber. Wir erinnern uns, dass die Lichterketten und Konzerte gegen Rechts den Asylkompromiss nicht verhindert haben, der Aufstand der Anständigen die NSU-Morde nicht unterbunden hat und der „ungezwungene“ Patriotismus der Fußball-WM 2006 die Salonfähigkeit rechtskonservativer Einstellung begünstigte. Wir, dass sind die mit eigener oder familiärer Asyl- und Migrationsgeschichte, für die Rassismus alltäglich ist.

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Allen voran wird dieses Unbehagen prägnant von denjenigen artikuliert, die sich vor genau drei Jahren von den deutschen Asyllagern zu Fuß oder im Bus auf den Weg gemacht haben, um in Berlin auf die fatalen Bedingungen aufmerksam zu machen, denen sie in diesem Land rechtlich unterworfen sind. Die politische Selbstorganisation von Asylsuchenden ist zwar kein Novum, denn es gibt sie mindestens so lange wie den Asylkompromiss. Aber erst der Refugee Protest March und die daran anschließenden Proteste haben es geschafft, dass Geflüchtete in der Öffentlichkeit als politische Akteure wahrgenommen wurden. Diese höchst politische Bewegung kam aber nicht von ungefähr. Es sind die direkten Nachwehen der Grünen Bewegung im Iran und des sogenannten Arabischen Frühlings, die sich in Folge auch nicht der deutschen Ausformung des europäischen Grenzregimes unterwerfen wollen.

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Wenn aber heute Plattformen zur Zimmervermittlung („Flüchtlinge Willkommen“) oder zum Online-Studium („Kiron University“) als Paradebeispiel deutscher Willkommenskultur hochgehalten werden, dann wird in den seltensten Fällen erwähnt, dass diese Projekte eigentlich erst als Reaktion auf die Refugee Proteste entwickelt wurden. Die Selbstorganisation der Geflüchteten hat sehr klar benannt, inwieweit ihnen das Recht auf Bewegungsfreiheit, der freien Wahl der Behausung, die Entscheidung über die Aufnahme einer Lohnarbeit, die Möglichkeit der politischen Partizipation und Zugänge zu Bildung abgesprochen werden. Erst diese Sichtbarmachung hat eine Dynamik in Gang gesetzt, innerhalb derer vereinzelt über alternative Zugänge nachgedacht und Projekte entwickelt wurden. Doch die Euphorie über die neu entdeckte deutsche Willkommenskultur lenkt den Blick weg von nachhaltigen politischen Forderungen und der Selbstermächtigung der Geflüchteten. Denn während die Menschen mit „Refugees Welcome“-Schildern und Wasserflaschen am Hauptbahnhof stehen, schränkt die Politik weiter die Rechte der Asylsuchenden ein.

Aber um nachhaltige politische Veränderungen scheint es sich hier auch tatsächlich nicht zu drehen. So wurde die kürzlich stattgefundene bundesweite Refugee Conference im August zum Teil medial ignoriert, bisweilen auch als „Gefährdung der Solidarität“ abgewertet. Helfen bei Leid und Not – ja, Solidarität und Unterstützung zur Veränderung der rechtlichen Gesetzgebung – nein, das geht dann doch zu weit.

Rechtliche Absicherung und politische Partizipation sind die eine Sache, aktive Mitgestaltung des gesellschaftlichen und kulturellen Selbstverständnisses die andere. Auch in anderen sozialen Bereichen erleben wir massive Abwehr, wenn die Deutungshoheit privilegierter Gruppen in Frage gestellt wird. Privilegien meint aber keineswegs nur ökonomische Vorteile. Privilegien bedeutet vielmehr den Fernseher anzuschalten oder ein Buch aufzuschlagen und sich selbst repräsentiert zu sehen. Es bedeutet auch, nicht racial profiling, also einer „verdachtsunabhängigen Kontrolle“ der Polizei ausgesetzt zu sein oder sich keine Sorgen darum machen zu müssen, eine Wohnung einfach aufgrund des Namens nicht zu bekommen. Privilegien haben bedeuten, nicht über solche Ausschlüsse und Restriktionen nicht nachdenken zu müssen, Anderen solche Erfahrungen absprechen zu können. Wir haben dies in den letzten Jahren bei der Blackface- und Kinderbuchdebatte erlebt, als die Benennung von Rassismus im Kulturbereich als Zensur bezeichnet wurde. Wir haben es aber auch bei der Aufschrei- und Professx-Debatte erlebt, als die Sichtbarmachung von alltäglichem Sexismus und der Thematisierung von sprachlicher Geschlechtsbinarität schlicht als Tugendterror bagatellisiert und lächerlich gemacht wurden. Aktuell Meinung

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  1. Johnny Van Hove sagt:

    Es hilft nicht pauschal in unverrückbaren Kontinuitäten der Unterdrückung zu denken. Die erhebliche zivilgesellschaftliche Veränderung und Mobilisation GEGEN die von einer Vielzahl von Medien und Regierungen getragene Dämonisierung der Flüchtlinge war bis vor 4 Wochen nicht mal vorstellbar. Die Mobilisierung ist beachtlich und bedarf Differenzierung.

  2. vkiss sagt:

    Also erst einmal finde ich es eine Frechheit, dass in diesem Artikel allen ernstes behauptet wird, dass der ungezwungene Patriotismus in Zusammenhang mit der Fußball WM rechtskonservative Einstellungen begünstigt hätte. So eine Behauptung ist dermaßen undifferenziert und einfältig, dass man ab diesem Punkt den ganzen Text schon gar nicht mehr ernst nehmen kann.
    Des Weiteren scheint die Autorin auch nicht besonders viel Grundwissen vom geltenden Asylrecht zu haben. Als Asylsuchender hat man KEIN gesetzliches oder moralisches Recht auf gesellschaftliche Partizipation oder politisch angeordnete Integration. Und zwar aus gutem Grund. Es geht lediglich darum dem Asylsuchenden als politisch Verfolgten oder Kriegsflüchtling einen sicheren Aufenthalt in einem sicheren Land zu gewährleisten. Und dies auch nur für einen begrenzten Zeitraum, solange die Gefahr eben andauert. Und dieses Asylrecht hat man als Flüchtling auch nicht in jedem beliebigen Land seiner Wahl, sondern ausschließlich in dem ersten sicheren Land das man betritt. Dieses Recht auf Asyl ist dann auch schon alles. Dazu gehört natürlich auch eine menschenwürdige Versorgung der Grundbedüfnisse. Darüber hinaus hat man als Asylsuchender KEINE weiteren Forderungen zu stellen, weil man schlicht und ergreifend kein Recht darauf hat. Und es besteht absolut kein Grund diese Gesetzgebungen zu ändern. Kein Land der Welt könnte es auch nur annähernd bewerkstelligen jedem Asylsuchenden eine “aktive Mitgestaltung am gesellschaftlichen und kulturellen Selbstverständniss“ zu gewährleisten. Im Asylrecht geht es vollkommen selbstverständlich erst einmal um völlig andere Dinge. Jedem halbwegs normal denkenden Menschen sollte so etwas völlig klar sein. Ansonsten sollte man sich dringend einmal darüber informieren aus welchem Grund unser international geltendes Recht auf Asyl überhaupt existiert und geschaffen wurde.
    Die “Einschränkung der Rechte von Asylsuchenden“ von der die Autorin hier spricht ist ganz einfach nicht existent. Jeder Mensch der momentan hier in Deutschland ankommt bekommt eine warme Unterkunft, wird anständig versorgt und erhält jede Hilfe die er braucht. WELTWEIT betreibt Deutschland die humanste und menschenwürdigste Flüchtlingspolitik überhaupt. Genau aus diesem Grund haben wir ja auch diesen Flüchtlingsansturm.
    In diesem Zusammenhang von irgendwelchen Einschränkungen der Rechte von Asylsuchenden zu sprechen zeugt von absoluter Unwissenheit und wenig Bezug zur Realität. Mal ganz abgesehen davon kann diese menschenwürdige Versorgung der Grundbedüfnisse auch nur dann sichergestellt sein, wenn ein Land überhaupt die Kapazitäten dafür hat. Und diese stößt in Deutschland schon lange an ihre Grenzen.
    Wenn ein Mensch allerdings nicht aus Gründen der Verfolgung oder Bedrohung in einem anderen Land leben möchte, dann ist er kein Asylsuchender sondern ein klassischer Einwanderer. Hierfür gelten international völlig andere Gesetzgebungen und Richtlinien. Das wäre dann nochmal ein völlig anderes Thema.
    In diesem Artikel ist von “Veränderung der rechtlichen Gesetzgebung“ die Rede. Welche Gesetzgebungen sind denn hier genau gemeint frage ich mich? In einer derartig ausufernden politischen und menschlichen Notsituation die in Deutschland gerade stattfindet, sollte es doch erst einmal darum gehen die geltenden internationalen Gesetzgebungen und Abkommen überhaupt EINZUHALTEN. Schließlich sind diese genau für solche Situationen geschaffen worden. Das geltende Asylrecht und die bestehenden Einwandererungsgesetze existieren nicht um unschuldige flüchtende Menschen zu schikanieren und sie ihrer Rechte zu berauben. Sondern sie existieren um eben genau diese Rechte zu schützen und den einzelnen Ländern eine vernünftige und menschenrechtsorientierte Asyl- und Einwanderungspolitik zu ermöglichen. Aber da genau diese Gesetze derzeit hauptsächlich von Deutschland in einer radikalen und flechendeckenden Weise gebrochen werden, entsteht absolutes Chaos und eine Spaltung der deutschen Gesellschaft.
    Dieser Artikel ist leider so derart oberflächlich und dermaßen am Thema vorbei, dass er rein gar nichts zur derzeitigen Debatte beiträgt.
    Bevor man derart naiv irgendwelche Gesetzesänderungen fordert sollte man sich erst einmal über die geltenden Gesetze gründlich informieren und auch die dazu vorliegenden offiziellen Zahlen studieren. Allein daraus wird nämlich schon deutlich, dass wir es hier in großer Mehrzahl nicht mit Asylsuchenden sondern eindeutig mit Einwanderern zutun haben.
    Ich befürchte allerdings, dass die Autorin dieses Artikels leider auch von dieser Thematik nicht die geringste Ahnung hat…

  3. Nina sagt:

    Danke für diesen sehr lesenswerten und wichtigen Artikel!

  4. TvT sagt:

    vkiss hat in seinem Kommentar alles gesagt, was es zu diesem Artikel zu sagen gibt. Sehr viel überzeugender als das Geschriebene der Autorin.

  5. Mirka Baumgärtner sagt:

    Liebe Bahareh, toller Artikel! Habe ihn durch Zufall gelesen. Bin sehr stolz auf Dich und schicke Dir nur das Beste! Eine alte Schulfreundin

  6. Mariele sagt:

    Schade wenn eine Autorin in einem alternativen Medium ebenso unreflektiert schreibt, wie wir es vom Mainstream kennen.

    Dieses Land hat seit 70 Jahren einigermaßen Frieden WEIL es Gesetze gibt und die hier lebenden diese respektieren.

    Und WIR kann auch heissen, wir, die hier seit Generationen leben und uns tag täglich rassistischen Situationen gegenüber sehen.

    Nicht nur die Rechte der Asylsuchenden werden eingeschränkt, sondern im gleichen Moment auch die Rechte der hier Lebenden UND das wird am Ende ALLE treffen und aus einem freien Deutschland …

    Als Erstes MUSS also die Einhaltung der bestehenden Gesetze gefordert werden, um dann die Kriegsursachen zu beseitigen.

    Alles andere ist weder sozial, noch demokratisch, noch gerecht –
    für die MENSCHEN
    auf beiden Seiten.

    https://www.youtube.com/watch?v=I2HCBggY_Cc

    Meine Oma und meine Mutter sind Flüchtlinge gewesen und sie aren dankbar für Unterkunft und ein wenig Essen.
    Heute fordern die Flüchtlinge 4 Mahlzeiten am Tag (was viele hiesige Menschen nicht haben und die Tafeln seit 1990 von Null auf Tausend hochexplodiert sind, …) und Rechte,
    für die sie sich in der eigenen Heimat nicht genug eingesetzt haben?
    Ist dem so?
    Oder nicht?
    Wie konnte es dort zu Krieg kommen?

    ALL diese FRAGEN MÜSSEN wir uns gerade hier JETZT stellen, egal ob HeimatDeutscher oder Zugewanderter oder oder oder,
    denn wenn wir UNS ALLE den Frieden und die Rechtsordnung und den christliche Glauben hier nicht als Wurzeln und fruchtbaren Boden erhalten,
    dann wird in Kürze hier ebenso Krieg und Elend herrschen,
    wie in anderen Teilen der Welt, es wird keine Sozialleistungen geben,
    für die die Menschen hier seit Generationen hart arbeiten, es wird keine Krankenversorgung geben, etc. etc.

    DAS mögen wir bitte alle immer berücksichtigen.
    Die Welt wandelt sich, immer und immer und doch sollten wir alle danach streben in FRIEDEN, FREISEIN, FÜLLE und FREUDE auf einer gesunden und fruchtbaren Mutter Erde zu LEBEN.