Tausendfach Hilfe

Immer mehr Freiwillige engagieren sich für Flüchtlinge

Demonstrationen vor Asylbewerberunterkünften und Brandanschläge zeichnen ein schwarzes Bild von Deutschland. Auf der anderen Seite gibt es in keinem europäischen Land ein so starkes ehrenamtliches Engagement für Flüchtlinge wie in Deutschland. Das kommt in den Medien aber oft zu kurz.

Von Dieter Sell Mittwoch, 05.08.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 10.08.2015, 16:20 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Deutsch pauken, die Kinder zum Arzt begleiten, Formulare entziffern, gemeinsam zum Job-Center gehen: Seit einem Jahren unterstützt die Bremerin Kerstin Sommer eine kurdische Flüchtlingsfamilie mit fünf Kindern aus Syrien. „Das begann mal mit einem Kaffeetrinken“, erinnert sich die 52-Jährige. Nun besucht sie die Familie wöchentlich und spricht mit Eltern und Kindern, gelegentlich mit Händen und Füßen, „aber es läuft gut“. Wie Kerstin Sommer engagieren sich in Deutschland Zehntausende Freiwillige in der Flüchtlingsarbeit. Und täglich werden es mehr.

Zwar bestimmen in den Berichten der Medien oft Angriffe auf Übergangswohnheime oder ausländerfeindliche Demonstranten die Nachrichten. Doch gleichzeitig wächst das freiwillige Engagement nirgends so stark wie in der Flüchtlingsarbeit.

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„Wir sehen fast täglich neue Initiativen“, beobachtet Birgit Pfeiffer von der Freiwilligenagentur in Bremen. Und Birgit Weber von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen in Berlin urteilt: „Das ist ein tolles Beispiel dafür, dass die Leute einfach anfangen und sich engagieren und nicht auf ein Zeichen von oben warten“. Besonders das Schicksal der Kriegsflüchtlinge aus Syrien bewegt viele.

Vereine und Initiativen haben bei der Flüchtlingsarbeit in den vergangenen drei Jahren einen Engagement-Zuwachs von durchschnittlich 70 Prozent verzeichnet, hat Serhat Karakayalı vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung berechnet. Zusammen mit dem Refugee Studies Centre der Oxford University hat er kürzlich eine Studie vorgelegt. Ergebnis: In keinem europäischen Land gibt es ein so starkes ehrenamtliches Engagement für Flüchtlinge wie in Deutschland.

„Das ist ein Schatz dieser Zivilgesellschaft, den wir gar nicht hoch genug werten können“, sagt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie. Wichtig ist ihm aber auch, dass die Freiwilligen Unterstützung bekommen, „damit sie ihren Enthusiasmus und ihr Engagement durchhalten“.

Hilfe für Helfer – Susanne Meyer (74) weiß, wovon Lilie spricht. Sie begleitet ehrenamtlich Flüchtlinge in einem Bremer Übergangswohnheim. „Learning by doing ist einfach anstrengend“, sagt sie und warnt auch: „Ich muss meine eigenen Grenzen kennen. Wer nur rödelt, macht viel Unruhe.“

Freiwilliges Engagement will also gelernt sein. Diakoniechef Lilie geht es deshalb um professionelle Begleitung, um Beratung und Coaching, weil die Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen belastend sein kann. Aber auch Grundkenntnisse etwa des Asylverfahrens seien wichtig. Doch weder beim Bundesinnenministerium noch beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gibt es Budgets zur gezielten Unterstützung Ehrenamtlicher in der Flüchtlingsarbeit. Immerhin können vereinzelt Mittel etwa zur „Multiplikatorenschulung“ abgerufen werden.

Den Hauptteil der finanziellen Last tragen hier – genauso wie bei Flüchtlings-Unterkünften und gesundheitlicher Versorgung – die Länder. Niedersachsen etwa schult Integrationslotsen, Bayern unterstützt die ehrenamtliche Sprachförderung von Flüchtlingen, Sachsen-Anhalt hat eine Netzwerkstelle „Willkommenskultur“ aufgebaut. Baden-Württemberg gibt Geld für neue Ideen, mit denen Ehrenamtliche Flüchtlinge und Asylsuchende begleiten, immerhin 1,35 Millionen Euro.

Dazu kommen Projekte wie die Internet-Portale der niedersächsischen Aktivistin Birte Vogel oder der Bremer Landeskoordinatorin des zivilgesellschaftlichen Engagements für Flüchtlinge, Lucyna Bogacki. Sie versuchen etwas, was in der gerade explosionsartig wachsenden Szene besonders schwierig ist: ordnen, einen Überblick verschaffen, Hilfesuchende und Hilfsbereite vernetzen. „Ich wollte eine Anlaufstelle für Menschen in ganz Deutschland schaffen, die sich engagieren möchten“, erläutert Birte Vogel.

Doch Ehrenamtliche wie sie arbeiten am Rande ihrer Kräfte, um die Arbeit zu schaffen. Dazu kommt: Fortbildungen für die Helfer sind schnell ausgebucht, gedruckte Leitfäden bald vergriffen.

Um zu entlasten, kann sich Birgit Pfeiffer von der Bremer Freiwilligenagentur gut vorstellen, dass in Stadtteilen Koordinationsstellen eingerichtet werden. Sie könnten wohnortnah die Bedürfnisse von Flüchtlingsfamilien und die Angebote Freiwilliger zusammenbringen. Auch ein Ombudsmann für die Freiwilligen auf Bundesebene wäre Pfeiffer zufolge wichtig, um der Arbeit mehr Gewicht zu verleihen.

Das würde Geld kosten, aber es wäre gut angelegt, meint sie. Investiere die Politik zu wenig, riskiere sie den „hilflosen Helfer“, der angesichts von Überlastung und mangelnder Orientierung unzufrieden werde: „Das gefährdet das derzeit vorherrschende positive gesellschaftliche Klima. Das ist unsere Sorge.“

Noch einen Schritt weiter in ihrer Freiwilligen-Praxis geht schon jetzt die Kölner Bürgerstiftung „KalkGestalten“, die im Stadtteil Kalk Flüchtlingen und Zuwanderern Ehrenämter vermittelt. „Wir motivieren Menschen, ihre Stärken einzubringen“, beschreibt Projektleiterin Elizaveta Khan. Der Stiftung ist es wichtig, dass sich die Flüchtlinge nicht nur als hilfebedürftige Menschen wahrnehmen, sagt Khan. Sondern als Akteure, die über Fähigkeiten verfügen und ihr Leben in eigener Regie gestalten: „Jeder ist wichtig, der hier ist.“ (epd/mig) Gesellschaft Leitartikel

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  2. Aglaja Beyes sagt:

    Toll, das Engagement der Ehrenamtlichen. Aber es zeigt mal wieder: Der Staat zieht sich zurück. Lässt diejenigen, die sich engagieren, im Regen stehen. Das gilt auch für die Integrationskurse, wo engagierte Deutschlehrer im Schnitt 20-40 Wochenstunden unterrichten. Dafür erwartet sie eine Armutsrente von durchschnittlich 500,- Euro. Und Fortbildungen im Umgang mit Traumatisierten (auch immer mehr Teilnehmer in den regulären Integrationskursen sind traumatisiert) gibt es auch für diese „professionellen“ Lehrkräfte nicht!