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Ulle Schauws, Sprecherin für Kulturpolitik und Frauenpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag © Die Grünen

Gemeinsame deutsche Geschichten?

Erinnerungs-Interkultur in der Einwanderungsgesellschaft

Wie kann die Erinnerungskultur den Realitäten der Einwanderungsgesellschaft gerecht werden? Und wie können wir zu einer Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte kommen? Von Ulle Schauws, kulturpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag.

Von Montag, 01.06.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 07.06.2015, 12:51 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Für einen verantwortungsvollen Umgang Deutschlands mit dem millionenfachen Massenmord der Nationalsozialisten und für die Aufarbeitung des bisher noch „weißen Flecks“ der deutschen Kolonialgeschichte brauchen wir eine lebendige, sich kontinuierlich erneuernde und vielfältige Erinnerungs-Interkultur. Nicht nur, aber vor allem auch, um den immer wiederkehrenden „Tendenzen zu einem Schlussstrich“ oder auch Banalisierungsversuchen konsequent entgegenzutreten.

Studien zeigen uns seit Jahren, dass antisemitische und menschenfeindliche Einstellungen in Deutschland bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein verbreitet sind. Die Einwanderungsgesellschaft ist in Deutschland längst gelebte Realität, eine gemeinsame deutsche Erinnerungs-Interkultur und eine Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus leider noch nicht.

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Wie also kann die Erinnerungskultur den Realitäten der Einwanderungsgesellschaft gerecht werden? Und wie können wir endlich zu einer Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte kommen und dabei die Perspektiven der Kolonialisierten angemessen einbeziehen? Das sind wichtige aktuelle Fragen und Herausforderungen, an denen wir gemeinsam mit allen Beteiligten arbeiten wollen und auf die wir gemeinsam Antworten finden sollten.

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Multiperspektivität ermöglichen und Konflikte gemeinsam aushalten

In deutschen Klassenzimmern und bei Gedenkstättenfahrten treffen bereits jeden Tag vielfältige Geschichten und Erinnerungen an Unrecht, Verfolgung und Ermordung aufeinander, aber auch unterschiedlichste Tätergeschichten. Um mögliche Opfer- bzw. Täterkonkurrenzen zu vermeiden und der gelebten Vielfalt an Geschichten gerecht zu werden, brauchen wir eine multiperspektivische Geschichtspädagogik. Das Trainieren von Perspektivwechseln oder auch das Aushalten von Unterschieden und Konflikten sind wichtige Lernziele auf dem Weg zu einem kritischen Geschichtsbewusstsein in der Einwanderungsgesellschaft.

Es geht also um eine Öffnung und Erweiterung der bisherigen Erinnerungen und Geschichtsvermittlung hin zu einer Erinnerungs-Interkultur – und zwar für alle. Mit einer Sonderpädagogik für Menschen mit Migrantionsgeschichte kann diese Horizonterweiterung nicht gelingen. Erinnerung darf kein Mittel zur „Grenzkontrolle“ von Migrantinnen und Migranten und kein „Integrationssiegel“ sein. Die Auseinandersetzung mit den Nachwirkungen des Nationalsozialismus ist keinesfalls abgeschlossen und Erinnerungskulturen sind grundsätzlich brüchig. Sie müssen deshalb kontinuierlich zusammen neu erkämpft und demokratisch ausgehandelt werden.

Antisemitische Einstellungen in Deutschland müssen in ihrer gesamten strukturellen Bandbreite thematisiert werde. Dafür brauchen wir jeweils passende pädagogische Konzepte. Erinnerungskultur darf aber nicht dazu benutzt werden, einzelne Gesellschaftsgruppen zu stigmatisieren. Es geht vielmehr darum, Rassismus und Antisemitismus gemeinsam zu analysieren und zu bekämpfen.

In der postmigrantischen Gesellschaft verknüpfen und vermischen sich unterschiedliche Geschichten und Perspektiven. Aufpassen müssen wir allerdings, dass die unterschiedlichen Erinnerungen weder dazu führen, dass die millionenfachen Massenmorde des Nationalsozialismus relativiert werden, noch andere Opfergeschichten trivialisiert. LehrerInnenn und PädagogInnen müssen deshalb auf diese komplizierte Gemengelage gut vorbereitet werden, um die jeweiligen Geschichten und Perspektiven entsprechend kontextualisieren zu können.

Damit ein gemeinsames postmigrantisches Erinnerungsnarrativ entstehen kann, brauchen wir öffentliche Debatten und Auseinandersetzungen über die bestehende Vielfalt von Opfererfahrungen und Perspektiven in der Einwanderungsgesellschaft. Das kann nicht allein durch offizielle Gedenkakte, die von oben staatlich verordnet werden geschehen, sondern muss das Ergebnis demokratischer Auseinandersetzungen sein. Eine entscheidende Rolle spielen dabei zivilgesellschaftliche Initiativen. Auch die kritische Aufarbeitung des Nationalsozialismus wurde von der Zivilgesellschaft gegen den Staat erkämpft, denn Erinnerungskulturen sind immer auch „Kämpfe um historische Wahrheiten“.

Kolonialzeit selbstkritisch aufarbeiten und Wissen vermitteln

Postkolonialismus heißt auch anzuerkennen, dass der Kolonialismus in unseren Köpfen weiterlebt. Denn der Kolonialismus hat nicht nur die kolonisierten Länder verändert, sondern auch die Kolonisatoren. Bis heute prägen einerseits kolonialistische Bilder unser Denken, andererseits sind ganze Wissensbestände von den Kolonialmächten ausgelöscht worden. Eine ernstgemeinte Auseinandersetzung mit der eigenen Kolonialgeschichte hat in Deutschland noch nicht stattgefunden, sie wurde bisher weitgehend verdrängt. Die Geschichten und Perspektiven der kolonisierten Länder müssen wir endlich im öffentlichen Raum aber auch in Schulen und in der außerschulischen Bildungsarbeit sichtbar machen und vermitteln. Ergänzend zu einer kritischen Aufarbeitung ist auch eine „psychologische Wiedergutmachung“ gegenüber den kolonialisierten Ländern notwendig.

Vor allem zivilgesellschaftliche Akteure haben bisher die Debatten um Raubgüter, Schulbücher und die Umbenennung von Straßennamen erkämpft und vorangetrieben. Eine ernstgemeinte Aufarbeitung braucht aber neben engagierten postkolonialen Initiativen auch politisches Engagement und die Unterstützung öffentlicher Institutionen. Und sie kann nur im Rahmen eines gleichberechtigten Dialogs mit den Nachfahren der Kolonisierten in Deutschland erfolgen.

Auch hier stehen wir vor der Aufgabe, die Kolonialgeschichte aufzuarbeiten, ohne die millionenfachen Massenmorde des Nationalsozialismus in Frage zu stellen. Wir brauchen eine doppelte Perspektive, mit der sowohl die Kontinuitäten kolonialer als auch nationalsozialistischer Welt- und Selbstbilder in den Blick genommen aber auch unterschieden werden können. Leitartikel Meinung Politik

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  1. Pingback: Gemeinsame deutsche Geschichten? Erinnerungs-Interkultur in der Einwanderungsgesellschaft › Ulle Schauws MdB

  2. Gustav sagt:

    Wie will man sich eigentlich erinnern, wenn man auf der anderen Seite möglichst bindungslos und nicht-national sein soll?

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