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Der abgebrannte Wagen vom NSU Zeugen Florian H. © Wolf Wetzel

NSU Komplex Baden-Württemberg

Polizei ignorierte und verschwieg wichtigen Augenzeugen. Jetzt redet er.

Florian H. verbrannte in seinem Auto noch bevor er zum Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn aussagen konnte. Offiziell ist der Fall abgehakt als Selbstmord. Wie ein "neuer" Augenzeuge jetzt berichtet, war aber ein zweiter Mann am Tatort. Der Zeuge meldete sich bei der Polizei und wurde ignoriert. Jetzt sagt er öffentlich aus - exklusiv im MiGAZIN.

Von Mittwoch, 11.03.2015, 21:05 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.07.2015, 0:12 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Zur Zeit tagt im Stuttgarter Landtag der Untersuchungsausschuss Rechtsterrorismus zur Aufarbeitung der Kontakte und Aktivitäten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in Baden-Württemberg und der Todesumstände der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter, die 2007 in Heilbronn erschossen wurde. Sie gilt als zehntes und letztes Opfer des NSU – wenn man den Tod des Zeugen Florian Heilig als Selbstmord verbucht, um den es in diesem Beitrag geht. Den Ermittlern zufolge soll sich Florian Heilig aus Liebeskummer mit Benzin übergossen und dann selbst verbrannt haben. An dem Tag, an dem er Aussagen aus dem Jahr 2011 wiederholen bzw. präzisieren wollte.

Florian Heilig war bis 2011 in der Neonazi-Szene rund um Heilbronn aktiv. In dieser Zeit hatte er u.a. auch Beate Zschäpe getroffen. Mitte 2011 machte er Aussagen zu dem Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007 und nannte dabei Namen und Verbindungen zu weiteren neonazistischen Gruppierungen. Diese stehen in völligem Widerspruch zu den Überzeugungen der Generalstaatsanschwaltschaft, sie passen überhaupt nicht in die Anklageschrift: Dort wird die Behauptung aufgestellt, dass der Mordanschlag auf die beiden Polizisten in Heilbronn zufällig und symbolisch war und dass es „erwiesen“ sei, dass die beiden NSU-Mitglieder Mundlos und Böhnhard die Tat alleine ausgeführt hätten.

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Florian Heilig wurde mehrmals von seinen ehemaligen Kameraden bedroht. Immer wieder artikulierte er laut, dass er um sein Leben fürchtete. Er kam ins Aussteigerprogramm des LKA Stuttgart (BIG Rex), beschützt hatte er sich dennoch nie gefühlt. Trotzdem war er bereit, an jenem Montag, den 16. September 2013 seine Aussagen aus dem Jahr 2011 zu wiederholen bzw. zu präzisieren.

An die Selbstmord-These glauben Polizei und Staatsanwaltschaft. Auch das Innenministerium in Baden-Württemberg besteht bis heute auf ein Suizid-Ereignis:

„In einem Schreiben an den Landtags-Untersuchungsausschuss bekräftigt das Innenministerium das offizielle Ermittlungsergebnis, wonach es sich um einen Suizid handelte. Die Faktenlage lasse keine andere Schlussfolgerung zu, als dass sich Florian H. durch Verbrennen selbst getötet habe. Weitere Maßnahmen im Todesermittlungsverfahren seien deshalb abgelehnt worden. Mehrere Zeugen hätten Florians Fahrzeug am späteren Brandort bemerkt. Dabei sei immer nur eine Person am Wagen gesehen worden.“ 1

Die Eltern und die Schwester widersprachen dieser Behauptung von Anfang an – zuletzt als Zeugen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss/PUA. Sie sind mit diesen Zweifeln nicht allein.

Nun kommen Beobachtungen eines Fahrlehrers hinzu, der sich als Zeuge der Polizei zur Verfügung gestellt hatte, aber nie gehört, nie befragt wurde. Im Gegenteil. Selbst die Tatsache, dass es ihn gibt, wurde in den Ermittlungsakten verschwiegen. Ein glücklicher Umstand ist es zu verdanken, dass sich dieser Zeuge beim Autor dieses Beitrages meldete und seine Beobachtungen vom 16. September 2013 auf dem Cannstatter Wasen wiedergab – kurz bevor das Auto brannte, in dem Florian Heilig auf qualvolle Weise umgekommen war.

Was der Zeuge am Todestag von Florian Heilig gesehen hat, schildert der Fahrlehrer gegenüber dem Autor wie folgt:

Jürgen M. 2 trifft sich am 16. September 2013 um acht Uhr morgens auf dem Cannstatter Wasen in Stuttgart mit einem Fahrschüler, um ihn auf eine Motorradprüfung vorzubereiten. Für Unterrichtstunden auf diesem Gelände hat die Fahrschule eine Sondergenehmigung. Da bereits mit Aufbauten für das bevorstehende Volksfest begonnen wurde, verlegt M. den Fahrunterricht in den hinteren, südlichen Bereich. Gegen 8:30 Uhr fällt ihm ein allein stehender Peugeot auf, der ungewöhnlich abgestellt war. Aus ca. 20 Metern Entfernung sieht er eine Person auf der Fahrerseite, im Auto sitzend. In unmittelbarer Nähe, auf der Höhe des Kofferraumes sieht er eine weitere Person, einen Mann, der eine Zigarette raucht. Er hat eine kräftige Statur. Sein Alter schätzt er grob auf 30 bis 50 Jahre.

Zu Beginn seiner zweiten Fahrstunde kommt er wieder an derselben Stelle vorbei. Er erschrickt, denn nun sieht er dasselbe Auto – ausgebrannt. Die Feuerwehr hat den Brand bereits gelöscht. Als er sich dem Auto nähert, kann er darin grob die Person in derselben Position wiedererkennen. Der 21jährige Florian Heilig ist tot.

Der Fahrlehrer geht zur Absperrung und teilt zuerst einem Polizisten, dann einer Polizistin mit, dass er vor dem Brand den rauchenden Mann in unmittelbarer Nähe des geparkten Wagens gesehen hat. Die Beamtin notiert seinen Namen und seine Telefonnummer, er nimmt seine Arbeit wieder auf. Da wenig später von einem tragischen Selbstmord die Rede ist, scheint für ihn die Angelegenheit erledigt – bis in seinem Bekanntenkreis Medienberichte über die Ungereimtheiten des angeblichen Selbstmordes Aufmerksamkeit erregen.

Zwar muss es keinen Zusammenhang zwischen dem rauchenden Mann und dem wenig später brennenden Auto geben. Wenn aber die Polizei dem Grundsatz folgt, in alle Richtungen zu ermitteln, dann ist diese Beobachtung äußerst wichtig, um herauszubekommen, wer dieser Mann ist und ob es einen Zusammenhang zu dem geparkten Auto und dem Insassen gibt. Der Fahrlehrer wurde jedoch nie befragt. Die Ermittlungsakten suggerieren sogar das Gegenteil: In der Strafanzeige der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 10.2.2014 findet sich der wahrheitswidrige Satz: „Ein Hinweis auf eine weitere Person liegt hingegen nicht vor.“

  1. Pforzheimer Zeitung, online-Portal vom 9.3.2015
  2. Name geändert
Leitartikel Politik

Seiten: 1 2

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  1. Auch die Ceska-Mordopfer und Michele Kiesewetter wurden vor ihrer Ermordung bedroht. Die Täter hatten Ortskenntnisse und wussten über die Anwesenheit der Opfer Bescheid. Aufbauend auf den Ceska-Ermittlungsergebnissen war das hypothetische Ergebnis einer Fallanalyse aus dem Jahr 2007:

    „Alle neun Opfer hatten Kontakt zu einer Gruppierung, die ihren Lebensunterhalt mit kriminellen Aktivitäten bestreitet und innerhalb derer zudem ein rigider Ehrenkodex bzw. ein rigides inneres Gesetz besteht.”
    http://friedensblick.de/8062/nsu-luegengebaeude-bricht-langsam-zusammen/

    Dass der NSU aus rassistischen Grünen einfach irgendwelche Menschen ermordete, passt nicht zu den Ermittlungsergebnissen.

  2. Sigge sagt:

    Die Aufklärungsarbeit von Wolf Wetzel ist an sich sehr verdienstvoll, dient aber allein nicht wirklich zur Wahrheitsfindung – nicht solange folgende Tatsachen ignoriert werden:

    1) Der unmittelbare Vorgesetzte von Kiesewetter war zusammen mit Kollegen aus derselben Böblinger BFE-Einheit nachweislich am Aufbau einer „Ku-Klux-Klan“-Gruppe beteiligt, die von V-Männern, u.a. dem unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommenen „Corelli“, gegründet worden war. Kiesewetters Vorgesetzter wurde hierfür kaum disziplinarrechtlich belangt, im Gegenteil, er wurde zum Zugführer befördert.

    2) Angehörige der Einheit wurden ausweislich vorliegender Videoaufnahmen im Zusammenhang mit den „Bahnhofsdemonstrationen“ in Stuttgart als gewaltprovozierende Schlägertruppe gegen Teilnehmer im Vorfeld von Demonstrationen eingesetzt.

    3) Der Fall „Axel Reichert“ und mehrere andere Fälle aus den neunziger Jahren zeigen, dass derartige Praktiken bei der Polizei Baden-Württembergs nichts Ungewöhnliches sind. So wurden zahlreiche Beamte als „Undercover-Agenten“ eingesetzt, um „False-Flag-Operationen“ durchzuführen. Ein gewisser „Axel Reichert“ gründete z.B. eine „Kameradschaft“ in Karlsruhe, die er versuchte, zu kriminellen oder in anderer Weise diskreditierenden Machenschaften anzuleiten. Die Angelegenheit ist aus einem bestimmten Grund gerichtsnotorisch, also keine „Verschwörungstheorie“: Ein Polizeikollege machte sie nämlich publik, was ihm ein Disziplinarverfahren einbrachte. Nachdem er widersprochen hatte, landete die Sache vor Gericht und wurde dadurch öffentlich – obwohl die Qualitätsmedien natürlich keine große Nummer daraus machten.

    4) Was den „Ku-Klux-Klan“ in Baden-Württemberg betrifft, hat sogar der CDU-Obmann im NSU-U-Ausschuß des Bundestages, Clemens Binninger, selbst von Beruf Polizeibeamter, die Vermutung geäußert, die Gruppierung könnte eine Behördengründung mit „Honigkuchenfunktion“ sein.

    5) Ein Onkel von Kiesewetter, Staatsschutzbeamter aus Thüringen mit bis kurz vor der Ermordung wöchentlichem Kontakt zu seiner Nichte, meldete kurz nach deren Ermordung an seine vorgesetzte Dienststelle den Verdacht, dass das Verbrechen im Zusammenhang mit den „Dönermorden“ stehen könnte, ein sehr deutlicher Hinweis darauf, dass seine Nichte ihm so etwas erzählt haben dürfte! Inzwischen hat dieser Schlüsselzeuge offenbar einen Maulkorb verpasst bekommen.

    6) Es ist davon auszugehen, dass er schon vor dem Mord entsprechende Meldungen gemacht hat, was den Mördern und deren Auftraggeber zu Ohren gekommen sein dürfte. Außerdem kann Kiesewetter selbst mehr oder weniger ernsthaft damit gedroht haben, die aus ihrer Sicht empörenden Machenschaften publik zu machen. – So ähnlich wie es der Kollege von „Axel Reichert“ machte, vor dem dieser leichtfertig mit seinem Einsatz geprahlt hatte. – Dadurch könnte Kiesewetter zum nicht mehr tragbaren Sicherheitsrisiko geworden sein.

    7) Übrigens WUSSTEN nur die Polizeibehörde und deren Mitarbeiter überhaupt, dass Kiesewetter am Tage des Mordes überhaupt Dienst hatte, und dass die Polizeistreifen regelmäßig auf dem betreffenden Parkplatz auf der Theresienwiese ihre Brotzeit einnahmen.

    8) Angesichts der Tatsache, dass es für den Mord an Michele Kiesewetter praktisch keine andere, auch nur halbwegs plausible Erklärung gibt, und angesichts der vielen Verschleierungsmaßnahmen im Laufe der Ermittlungen („Wattestäbchen-Panne“ etc.), ist allein die Tatsache, dass die hier beschriebene Erklärungsmöglichkeit weder – soweit bekannt – in den Ermittlungsarbeiten noch in der publizistischen Aufarbeitung auch nur die geringste Rolle spielt, das deutlichste Indiz dafür, dass sie zutrifft.

    9) Mordmotiv? Ist doch glasklar: Es geht um neun vorausgehenden Morde, mutmaßlich im Staatsauftrag. Da werden schon Hebel in Bewegung gesetzt. Deswegen mußten vermutlich auch „Corelli“ (in Paderborn, glaube ich), die beiden Uwe’s in Eisenach und Florian H. auf dem Cannstatter Wasen ins Gras beißen. Daß es sich um Selbstmorde bzw. eine unerkannte Zuckerkrankheit handelte, kann nicht wirklich glaubhaft gemacht werden. Es widerspricht jeder Lebenserfahrung, besonders in der gegebenen Häufung zusammen mit unzähligen anderen Ungereimtheiten.

    10) Motiv für die neun Migrantenmorde? Kann man sich aussuchen! Ich persönlich bin davon überzeugt, dass die durchaus nachweisbaren grundsätzlichen Bestrebungen der Behörden, eine „rechtsextreme Szene“ aufzubauen und in ein möglichst kriminelles Fahrwasser zu steuern, die eigentliche Voraussetzung bildeten, dass aber das Ganze zu komplex wurde und aus dem Ruder lief. Letzteres ist auch kein Wunder, denn es müssen Personen eingesetzt werden, die bereit sind, sich an Machenschaften der hier beschriebenen Art zu beteiligen. Es ist eher ein Wunder, dass nicht noch mehr Pannen publik werden, zumal die Verfassungsschutzämter anscheinend nicht zu den professionellsten Geheimdiensten gehören. (Temme war z.B. angeblich Briefträger, bevor er V-Mann-Führer beim VS wurde.) Aber allein die vielen ungeklärten Fälle (und einige wenige geklärten) sprechen Bände, wenn man sich nur die Mühe gibt, sich damit zu befassen.

    Sigge

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