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Sevim Dagdelen, migrations- und integrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag

Debatte um Einwanderungsgesetz

Der Nützlichkeitsrassismus wird hoffähig

Die Debatte um ein neues Einwanderungsgesetz mit Punktesystem hält an. SPD und Grüne fordern es, die Union ist unentschlossen. Die Linke hingegen ist dagegen. Der Fachkräftemangel sei ein Märchen und ein Punktesystem Nützlichkeitsrassismus. Von Sevim Dağdelen

Von Freitag, 06.02.2015, 10:50 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 14.06.2015, 20:25 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Jahrzehntelang übten sich die bundesdeutsche Politik, Justiz, die Sicherheitsdienste und Polizei sowie die Mainstreammedien ganz im Stile der drei Affen im „nichts sehen, nichts hören und nichts sagen“. Gezielt wurde bei neonazistischer und rassistischer Gewalt weggesehen, verdrängt und schöngeredet. Nach einem Bombenanschlag auf Migranten in Düsseldorf-Wehrhahn am 27. Juli 2000 erlebte Deutschland dann den „kurzen Sommer der Staatsantifa“ und nach dem Anschlag auf die Düsseldorfer Synagoge am 2. Oktober 2000 den „Aufstand der Anständigen“.

In der Folge kam es neben dem ersten NPD-Verbotsverfahren – das aber einige Jahre später wegen der Durchdingung der NPD-Führung mit Verfassungsschutzspitzeln scheiterte – im selben Jahr 2001 zur Green-Card-Initiative durch den ehemaligen Bundeskanzler Schröder und dem Vorschlag für ein Einwanderungsgesetz durch die Süssmuth-Kommission. Die neue Devise lautete nun, Europa und Deutschland brauchen eine veränderte „Zuwanderungspolitik“, um ökonomisch florieren zu können. Es wurde nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand zwischen „nützlichen“ und „unnützen“ Migranten unterschieden. Die deutsche Wirtschaft forderte immer offener eine Öffnung Deutschlands für den globalen Arbeitsmarkt und die Liberalisierung der Zuwanderungsbeschränkungen zumindest für bestimmte Arbeitnehmergruppen. Neben dem freien Waren- und Kapitaltransfer forderte sie die freie Verfügbarkeit von Arbeitskräften ein. Das Einwanderungsgesetz mit dem in dieser Zeit diskutierten Punktesystem als Kriterienkatalog der „Auswahl“ von geeigneten Migranten sollte die „gewünschte“ Arbeitsmigration nach Deutschland regeln.

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Damals wie heute offenbar(t)en diese Debatten einen immanenten Rassismus. Die Debatte um die selektive Aufnahme von ausländischen Arbeitskräften weicht vermeintlich alte Schranken und Instrumentarien der rassistischen Abschottungspolitik der Jahre nach Beendigung der „Gastarbeiteranwerbung“ auf, um die explizite Einteilung in „nützlich“ und „unnütz“ salonfähig zu machen. Der Rassismus bleibt von seinem Wesen her gleich.

Des Kaisers neuen Kleider: „Punktesystem“

Aktuell wird die „neue“ Einwanderungsdebatte im Schlepptau der Pegida-Märsche und deren verschiedenen Ableger geführt. Befeuert durch den Anschlag auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ wird nun mittels des Vehikels der Ablehnung des Islamismus über ein generelles Bedrohungsgefühl in Form der vermeintlichen „Überfremdung“ die Einwanderungsdebatte in der Öffentlichkeit aufgegriffen. Dabei verbindet diese Debatte auch die traditionelle Argumentation der etablierten Parteien, von einer quantitativen und qualitativen Grenze (der Belastbarkeit), die nicht überschritten werden dürfe. Während dabei die CSU nach altem Muster erneut nach einer Verschärfung der Asylpolitik ruft, wollen CDU, SPD und Grüne – unabhängig von Differenzen zwischen ihnen und innerhalb der Parteien – die selektive Steuerung der Einwanderung nach Kosten-Nutzen-Kalkül auf eine „neue“ gesetzliche Grundlage stellen.

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Doch tatsächlich kann für die zu mehr als drei Vierteln aus Europa und insbesondere aus der Europäischen Union stammenden Migranten kein Einwanderungsgesetz greifen, da für sie in Europa Freizügigkeit gilt und nichts zu steuern ist, wie Prof. Dr. Klaus J. Bade in seinem Beitrag für MiGAZIN ausführt. Die Einwanderung von Asylsuchenden lässt sich ebenfalls nicht begrenzen, sollen beim Schutz von Flüchtlingen nicht Grundgesetz und internationales Recht außer Kraft gesetzt werden, wie es z.T. beim Familiennachzug geschieht. Es geht also um so genannte „Drittstaatsangehörige“, Menschen die nicht aus anderen EU-Staaten kommen.

Und hier schielen CDU/CSU, SPD und Grüne wie die FDP und AfD gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft auf die Hochqualifizierten und Fachkräfte mit besonders gefragten Berufsqualifikationen. Deutschland ist heute schon am Arbeitsmarkt der Profiteur der Struktur- und Wachstumskrisen in anderen Staaten der Europäischen Union (EU). Das kann und soll zwar so bleiben. Aber, vor dem Hintergrund, dass die derzeit krisengeschüttelten EU-Staaten im Falle ihrer volkswirtschaftlichen Gesundung ihre Fachkräfte wieder wie ein Magnet zurück in die Herkunftsländer ziehen würden, soll ein Einwanderungsgesetz über ein Punktesystem den Fachkräftebedarf aus Drittstaaten abdecken; Brain-Drain oder Brain-Trust hin oder her. Die betroffenen Länder haben ihre Rolle in der internationalen Arbeitsteilung des globalen Kapitalismus zu spielen, so wie die Menschen hier und die, die kommen, als Manövriermasse des neoliberalen Umbauprojekts in der EU und Deutschland.

SPD und Grüne verfolgen dabei die Idee eines Punktesystems weiter, das sie mit dem so genannten „Zuwanderungsgesetz“ im Jahr 2004 nicht durchsetzen konnten und das als schlagkräftige Waffe in der internationalen Konkurrenz um die „fähigsten Köpfe“ dienen soll. Das dabei von allen als vorbildhaft verklärte Modell Kanada hat sich allerdings laut Prof. Bade von seinem ursprünglich „offenen Punktesystem“ verabschiedet und „dem in Deutschland von jeher gültigen Arbeitsmarktbezug Vorrang eingeräumt“. Aktuell Meinung

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  1. Volkswirtin sagt:

    @aloo massala Ihre Erkenntnis kommt um Jahrzehnte zu spät. Wenn der Geist erst einmal aus der Flasche ist … Ich für meinen Teil habe überhaupt kein Problem mit echten Facharbeitern aus dem Ausland. Das Problem liegt darin, dass ca. 45 % aller Ausgaben in den Bereich „Arbeit und Soziales“ fließen. Das Problem ist nicht die Wirtschaft, sondern das Geschrei nach unverantwortlicher Umverteilung, die sich in immer mehr Lasten niederschlägt.

  2. aloo masala sagt:

    @Volkswirtin

    Die Frage ist, wem nützen die „nützlichen“ Arbeitskräfte. Dem Volk, der Wirtschaft oder beiden?

    Die Politik der letzten 25 Jahre zeigt, dass es der Wirtschaft gut geht, die Reichen immer reicher werden und sich die Schere zwischen arm und reich immer weiter öffnet. Das ist für mich ein Indikator, dass der Nützlichkeitsrassismus der Politik in erster Linie der Wirtschaft und nicht dem Volk dient.

    Mich stören Facharbeiter aus dem Ausland ebenfalls nicht. Denn Deutschland gehört zu den rücksichtslosen Wirtschaftsmächten, die ihre Interessen auch im Ausland durchsetzen. Wer freie Marktwirtschaft international fordert, muss damit rechnen, dass die Habenixe aus der ganzen Welt hierher kommen, um sich das zu holen, was ihnen in der Heimat verwehrt wird.

    Was mich stört ist, dass dem Volk Märchen vom angeblichen Facharbeitermangel erzählt werden und dass sich als Folge davon die Wut der Bürger sich gegen die Falschen richtet, nämlich gegen die Einwanderer und nicht gegen die Hauptverursacher aus der Politik und der Wirtschaft.

  3. Fragender sagt:

    In Deutschland ist man schon fast auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar, wenn man mal zwei Jahre arbeitslos gewesen ist. Da kann man qualifiziert sein, wie man will.

    „Open Boarders“ klingt ja immer ganz toll. Wo die ganzen gering bis gar nicht Qualifizierten, zumeist auch noch ohne Sprachkenntnisse, alle in einem hoch technisierten Industrieland arbeiten sollen, wird dann gerne vergessen.

    In Deutschland bleibt auch jetzt schon keine Kartoffel ungeernet, kein Zementsack ungeschleppt und kein Fenster ungeputzt, weil es an Hilfsarbeitern mangeln würde.

    Mit dem, was Frau Dagdelen möchte, tut man weder den Zuwanderern noch der bestehenden Gesellschaft einen Gefallen.