Bades Meinung
Wiedergänger Punktesystem. Zur aktuellen Diskussion um ein Einwanderungsgesetz.
In Sachen Einwanderung lernt Politik langsam in diesem Land: In den 1980er und 1990er Jahren war es in der politischen Diskussion in Deutschland offenkundig noch zu früh für das damals immer wieder geforderte klassische Punktesystem nach kanadischen Vorbild. Heute ist es dafür zu spät, weil sich das kanadische und das deutsche Migrationsrecht längst in der Mitte getroffen haben. Aber für ein ‚Einwanderungsgesetz’, das diesen Namen verdient, ist es noch nicht zu spät, sagt als politikkritischer Zeitzeuge Klaus J. Bade, der diese Diskussion seit den 1980er Jahren begleitet und mitgestaltet hat.
Von Prof. Dr. Klaus J. Bade Mittwoch, 04.02.2015, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 13.12.2023, 13:15 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Ein bleicher Wiedergänger schleicht durch die Einwanderungsdiskussion in Deutschland: das Punktesystem nach kanadischem Vorbild. Es hatte als transatlantisches Modell seine große Zeit in den Diskussionen der 1980er und 1990er Jahre. Es wurde von konservativer Seite damals stets mit dem Totschlagargument blockiert, Deutschland sei ‚kein Einwanderungsland’ und schon gar kein ‚klassisches’.
Und doch fand das Punktesystem einen zentralen Platz in den 2001 vorgelegten Empfehlungen der von Rita Süssmuth geleiteten Unabhängigen Kommission Zuwanderung. Auf ihre Ergebnisse wartete ungeduldig der seinerzeitige Bundesinnenminister Otto Schily; denn auf seinem Tisch lag längst der Entwurf des Zuwanderungsgesetzes, den er mit der Berufung auf Ergebnisse dieser Kommission begründen wollte.
Das Punktesystem wurde, allerdings in stark reduzierter Form, auch in den Entwurf des Zuwanderungsgesetzes übernommen. Vorgesehen war im Gesetz ferner ein unabhängiger Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration (Zuwanderungsrat). Er sollte Zuwanderungssteuerung und Integrationsförderung kontinuierlich beraten und zugleich die Umsetzung und Ausrichtung des Punktesystems begleiten.
„Bei der neu vom Zaun gebrochenen Diskussion um ein ‚Einwanderungsgesetz’ kann von einem Punktesystem im ursprünglichen kanadischen Sinne heute für Deutschland nicht mehr die Rede sein. Ein ‚Einwanderungsgesetz’ für die zu mehr als drei Vierteln aus Europa und insbesondere aus der Europäischen Union stammende Zuwanderung wäre nur ein einladender klingendes Firmenschild; denn in Europa gilt Freizügigkeit.“
Der Zuwanderungsrat war hochrangig besetzt, gut ausgestattet, faktisch dem Rat der ‚Wirtschaftsweisen’ gleichgestellt und sollte zu Fragen von Migration und Integration jährlich ebenfalls ein umfassendes Gutachten vorlegen. Er wurde von Bundesinnenminister Schily im Vorgriff auf das Gesetz schon 2003 einberufen. Schily bat mich, den Vorsitz im Zuwanderungsrat zu übernehmen. Ich lehnte ab, empfahl Rita Süssmuth, die dieses Amt übernahm, in dem ich dann als ihr Stellvertreter fungierte.
Aber es war für das Punktesystem in Deutschland noch immer zu früh. Das zeigte sich auf dem Weg zum Zuwanderungsgesetz, das nach verheerendem politischen Hickhack erst 2005 in Kraft treten konnte: Der Zuwanderungsrat wurde im Zuge der strittigen weiteren Gesetzesausarbeitung, trotz seiner nach wie vor umfassenden Ausstattung, in seinen Aufgaben immer mehr beschnitten und schließlich weitgehend auf eine beratende Funktion für das Punktesystem reduziert. Damit war klar, dass der Zuwanderungsrat mit dem Punktsystem stehen oder fallen würde.
Um den von der konservativen Opposition blockierten Weg zur parlamentarischen Entscheidung für das rot-grüne Gesetzesvorhaben ohne erneute Anrufung eines Vermittlungsausschusses freizumachen, wurde das Punktesystem in einer parteiübergreifenden Besprechung im Bundeskanzleramt Anfang Juni 2004 aus dem Gesetzentwurf gestrichen. Mit dem Punktesystem fiel, rechtlich nur folgerichtig, aber begleitet von einer üblen politischen und medialen Denunziationskampagne, auch der Zuwanderungsrat, der in seiner kritischen Arbeit von der Opposition und vor allem von den irritierten Behörden zunehmend misstrauisch beobachtet worden war.
Wohl wissend, dass es für das Punktesystem bis auf weiteres keine Chance mehr gab, hatte der Zuwanderungsrat in seinem ersten, im Herbst 2004 vorgelegten Jahresgutachten unter anderem eine Migrationssteuerung mithilfe einer Engpassdiagnose am Arbeitsmarkt vorgeschlagen. Das war eine kleine, flexible und streng arbeitsmarktorientierte Ersatzlösung für das im Sommer 2004 der diffusen Angst vor ‚ungesteuerter Zuwanderung’ zum Opfer gefallene große und nur bedingt arbeitsmarktorientierte Punktesystem:
Bei akutem und absehbar nicht durch inländische Arbeitskräfte zu befriedigendem Arbeitskräftemangel sollten – zwar flexibel, aber streng am Bedarf orientiert – ausländische Fachkräfte zugelassen werden. Es ging um nach Berufsgruppen oder Branchen jeweils festzulegende Kontingente, bis zu einem jährlichen Gesamtmaximum von 25.000.
Dieser Vorschlag wurde – wie zuvor das Punktesystem – von Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerseite gleichermaßen begrüßt. Von den innenpolitischen Streitern der Oppostion aber wurde das Konzept aufs neue mit den eingeübten populistischen Mayday-Reflexen als Programm zur Überflutung Deutschlands mit Migranten denunziert.
Willkommene Hilfestellung leisteten dabei ein gezieltes Missverständnis und ein unglückliches Zusammentreffen zweier Nachrichten in den Medien: zum einen wurde die maximale Zahl von 25.000 als Jahresquote missverstanden; zum anderen traf die Veröffentlichung des Vorschlages des Zuwanderungsrates zusammen mit der Ankündigung des Opel-Konzerns, 4000 Fachkräfte freizustellen, so dass die Medien fast zwei Wochen lang titelten: ‚Opel entlässt 4.000 Fachkräfte – Zuwanderungsrat verlangt jährliche Zuwanderung von 25.000 ausländische Fachkräften!’
Damit war das Ende besiegelt, die Schmutzarbeit erledigten politische und mediale Denunzianten. Sie wurden immer aggressiver, als sich herumsprach, dass der Zuwanderungsrat sogar erwog, seine Arbeit auch ohne Ausstattung und rechtliche sowie politische Legitimation fortzusetzen.
Am Ende der üblen Kampagne wurde der politisch und medial verteufelte Zuwanderungsrat vom Bundesministerium des Inneren handstreichartig und ohne Presseerklärung am Tag vor Heiligabend 2004, also unmittelbar vor Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes, durch eine kurze Notiz stillschweigend abgeschafft. Die Nachricht fand, gezielt in die Weihnachtspause gesetzt, in den Medien keinerlei Beachtung.
Das Gutachten des Zuwanderungsrates selbst wurde über Jahre hinweg politisch totgeschwiegen. Es war – im Gegensatz zum Gutachten der Unabhängigen Kommission Zuwanderung von 2001, das von Beginn an auf der Seite des Bundesministeriums des Innern stand – im Netz nur auf größten Umwegen überhaupt erreichbar.
Deshalb konnte in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, das Jahresgutachten des Zuwanderungsrates von 2004 sei identisch mit dem ebenfalls ersten und einzigen Gutachten der Unabhängigen Kommission Zuwanderung von 2001. Das war ein Missverständnis, das auch dadurch befördert wurde, dass in beiden Fällen Rita Süssmuth den Vorsitz innehatte.
„Und wenn es den anderen Volkswirtschaften wieder besser geht, werden die Zuwanderungen aus Europa zurückgehen. Aber der eklatante Zuwanderungsbedarf in Deutschland wird aus demographischen Gründen bleiben, weil die Eltern der Kinder von morgen gestern schon nicht mehr geboren worden sind.“
Erst in den letzten Jahren fand das Gutachten des Zuwanderungsrates einen Platz auf der Seite des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, nicht aber auf derjenigen des Bundesministeriums des Inneren, dem der Zuwanderungsrat zugeordnet gewesen war.
Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch mit Rita Süssmuth am Rande der letzten Sitzung des Zuwanderungsrates: Wir waren uns einig darüber, dass es nur wenige Jahre dauern würde, bis vor dem Hintergrund des immer deutlicher Fahrt aufnehmenden demographischen Wandels unsere Vorschläge ganz neu entdeckt werden würden – und dann wahrscheinlich ganz ohne Erinnerung an den missliebigen Zuwanderungsrat.
So kam es dann auch: Nachdem das Zuwanderungsgesetz im Bereich der Migrationssteuerung, der Opposition zuliebe, zunächst als eine Art Zuwanderungsverhinderungsgesetz (‚Gesetz zur Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung’) umgesetzt und erst durch zögerliches Nachbessern seinen ursprünglichen Intentionen näher gebracht worden war, wurde schon 2007 über eine ‚Allianz’ zur Sicherung des Fachkräftebedarfs nachgedacht, wobei sogar das seinerzeit verteufelte Maximalkontingent von jährlich 25.000 qualifizierten Zuwanderern, wie von ungefähr, in den politischen Diskurs zurückkehrte.
Aber es sollte noch weitere fünf Jahre dauern, bis 2012 mit der Blue Card für qualifizierte Zuwanderer aus Drittstaaten, mit der Zulassung von Hochqualifizierten zur freien Arbeitsplatzsuche für ein halbes Jahr und mit den Zuwanderungserleichterungen für gesuchte Fachkräfte für Mangelberufe eine Art kleines Punktesystem Wirklichkeit wurde, begleitet durch Integrationserleichterungen am Arbeitsmarkt im Rahmen des Anerkennungsgesetzes.
In den 1990er Jahren und bis zum Zuwanderungsgesetz von 2005 war es mithin für das Punktesystem in Deutschland politikgeschichtlich offenkundig noch zu früh. Und für die, die sich dafür historisch zu früh engagierten, galt die umgekehrte Version des berühmten Gorbatschow-Wortes: Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben.
Heute aber ist es für das Punktesystem im vollen und klassischen Sinne wiederum historisch zu spät, denn in Deutschland wie in Kanada haben sich Mischsysteme herausgebildet, die sich in einiger Hinsicht durchaus ähnlich sind: In Deutschland gibt es heute eine Art kleines Punktesystem und Kanada hat sich von seinem offenen Punktesystem verabschiedet und dem in Deutschland von jeher gültigen Arbeitsmarktbezug Vorrang eingeräumt.
Was in den Jahren vor und nach der Jahrhundertwende zu früh war, kommt heute zu also spät: Bei der neu vom Zaun gebrochenen Diskussion um ein ‚Einwanderungsgesetz’ kann von einem Punktesystem im ursprünglichen kanadischen Sinne heute für Deutschland nicht mehr die Rede sein. Ein ‚Einwanderungsgesetz’ für die zu mehr als drei Vierteln aus Europa und insbesondere aus der Europäischen Union stammende Zuwanderung wäre nur ein einladender klingendes Firmenschild; denn in Europa gilt Freizügigkeit. Da ist nichts mehr zu steuern und was sozialrechtlich zu klären war, ist weitgehend geklärt.
Allerdings könnte der Wildwuchs von Regelungen, der in der Anpassung des ursprünglich sperrigen Gesetzes an die Realität entstanden ist, beschnitten, besser zusammengeführt und dann in der Tat unter dem Stichwort ‚Einwanderungsgesetz’ vereinigt werden.
Aber es geht um mehr: Deutschland ist heute am Arbeitsmarkt der Profiteur der Struktur- und Wachstumskrisen in anderen Staaten der Europäischen Union. Das kann, darf und wird auf Dauer nicht so bleiben. Und wenn es den anderen Volkswirtschaften wieder besser geht, werden die Zuwanderungen aus Europa zurückgehen. Aber der eklatante Zuwanderungsbedarf in Deutschland wird aus demographischen Gründen bleiben, weil die Eltern der Kinder von morgen gestern schon nicht mehr geboren worden sind.
Umso mehr muss sich Deutschland, wie seit Jahren gefordert, zukunftsorientiert um Zuwanderungen aus Drittstaaten weit jenseits der Europäischen Union kümmern. Und bei einem Blick auf die dazu verfügbaren gesetzlichen Steuerungsregularien fällt sofort auf: Sie wirken, von den genannten Sonderregelungen abgesehen, wie ein Stacheldrahtverhau um den in diesem Bereich noch immer gültigen Anwerbestopp, bei dem die Zuwanderung nur eine gnädig gewährte Ausnahme von der defensiven Regel ist.
Und dazu hilfreich wäre für das Einwanderungsland Deutschland dann in der Tat ein ,Einwanderungsgesetz’, das diesen Namen verdient, weil es zur Öffnung für Zuwanderung nach außen und zu ihrer Akzeptanz im Innern beiträgt. Aktuell Meinung
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