Neue Prämissen
Grundlagen der Migrationsgesellschaft
Vor etwa 20 Jahren verfassten führende Wissenschaftler das "Manifest der 60" - auch als Reaktion auf die die Übergriffe in Rostock Lichtenhagen, Mölln und Solingen. Seitdem hat sich viel verändert, einige grundlegende Probleme sind aber geblieben. Zeit für ein neues Manifest?
Von Robert Westermann Mittwoch, 22.10.2014, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 21.08.2015, 10:48 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Im Dezember 2013 hat Klaus J. Bade an die Veröffentlichung des „Manifestes der 60“ vor zwanzig Jahren erinnert. Anlass dieser „empörten Reaktion der Wissenschaft“ waren sowohl die gewaltsamen Übergriffe und Brandanschläge in Rostock Lichtenhagen, Mölln und Solingen, als auch die vehemente Verweigerung der Politik, soziale Transformationsprozesse hin zu einem „De-facto-Einwanderungsland“ anzuerkennen.
Aus heutiger Perspektive muss das „Manifest der 60“ für den politischen Umgang mit den Themen „Migration und Integration“ als Meilenstein betrachtet werden. Der Druck, der auch im Nachgang der Veröffentlichung in institutionalisierter Form vom Rat für Migration (1998) und dem Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2009) ausging, hat zu wegweisenden Reformen und letztlich dazu geführt, dass in allen Parteien des Bundestages die Meinung geteilt wird, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und auch in Zukunft bleibt.
Trotz alledem gibt es offene Fragen. Bade hat in seinem Rückblick darauf hingewiesen, dass einzelne Forderungen des Manifestes von der Politik immer noch nicht umgesetzt sind. Er nennt hier z.B. eine generelle Akzeptanz zur Einwanderungsgesellschaft und der Wandel von einer Integrationspolitik für Migranten zu einer teilhabeorientierten Gesellschaftspolitik für Alle. Des Weiteren fehle eine „konzeptorientierte Einwanderungspolitik“ und mit Maßnahmen wie Punktesystemen und Aufnahmequoten die Eröffnung legaler Zugangswege.
Auch wenn diese Positionen unerfüllt blieben, könnte man versucht sein, zu urteilen, dass im Vergleich zum Jahr 1993 insbesondere die Politik auf der Bundesebene ihre „Lektionen“ gelernt hat und endlich mit den sozialen Realitäten und Veränderungsprozessen Schritt hält. Dies ließe jedoch außer Acht, dass sich in den letzten zwanzig Jahren die Anforderungen an eine zeitgemäße Migrations- und Integrationspolitik grundlegend verändert haben: Es scheint schon länger überfällig, in Politik und Wissenschaft wieder stärker über die Grundlagen einer zukunftsfähigen Migrationsgesellschaft zu diskutieren.
Super-Diversity
Anlass hierfür geben vor allem Forschungsergebnisse über die Diversifizierung und Intensivierung globaler Migration. Dies basiert auf der Tatsache, dass es einerseits immer mehr Menschen gibt, die mit zeitlich begrenzter bzw. langfristiger Perspektive zwischen zwei oder mehr Orten pendeln und wandern. Zum anderen hat sich die Art und Weise, wie dies geschieht, radikal verändert.
Waren es in der Zeit der Gastarbeiterprogramme, in den 1950er bis 1970er Jahren, noch große homogene Gruppen von Einwanderern, die die soziale Landschaft von Einwanderungsgesellschaften veränderten, ist es in den letzten zwanzig Jahren zu einer rapiden Zunahme von kleineren und zugleich heterogeneren Migrationsformationen gekommen, die sich in Bezug auf Fluktuation, soziale Herkunft, Ausmaß an Organisation und rechtlichem Status stark voneinander unterscheiden.
Dieser veränderte Grad an Komplexität in Bezug auf Migrationsprozesse sowie damit verbundene Phänomene sozialen Wandels ist in den letzten Jahren unter dem Stichwort ‚Super-Diversity’ erforscht worden. Vor allem in urbanen Räumen wurde nachgewiesen, dass sich der Grad an ethnischer, religiöser, sprachlicher und sozio-kultureller Vielfalt in Folge einer ‚neuen Migration’ deutlich erhöht hat.
Eine wesentliche Erkenntnis dieser Forschungen ist, dass ‚klassische Kategorisierungen’ von Einwanderergruppen nach ethnischer und nationaler Herkunft kaum noch greifen. Dies liegt zum einen daran, dass Zugehörigkeiten immer weniger eindeutig sind bzw. eindeutig wahrgenommen werden; zum anderen variiert der (Rechts-)Status von Einwanderern erheblich, welches zu unter-schiedlichsten Bedürfnissen sowie In- und Exklusionsdynamiken führt. 1
Post-Multikulturalismus
Die Frage, die sich hier stellt, ist, wie reagiert die Politik auf neue Formen von Migration und Diversität? Bis vor 10-15 Jahren wäre diese Frage noch relativ einfach zu beantworten gewesen: Mit Ideen und Programmen, die sich im engeren oder weiteren Sinne auf Konzepte des Multikulturalismus beziehen. Dazu gehörte das Werben für Respekt und Toleranz gegenüber ‚Minderheiten-Kulturen’ und die ideelle und institutionelle Förderung von Gruppenidentitäten und Traditionen von Einwanderern bzw. wie es Nevim Çil treffend beschreibt „die Entdeckung der kulinarischen Vielfalt und die Geburtsstunde der Ethnisierung von Menschen mit Migrationshintergrund“. 2
Seit 2010 steht auch in Deutschland fest, dass „Multikulti“ nicht nur „out“, sondern absolut „gescheitert“ ist 3, welches einherging mit einer vorangegangenen Kritik an Konzepten des Multikulturalismus sowohl vom linken als auch vom rechten politischen Spektrum: Die einen machten ihn verantwortlich für das Entstehen sogenannter ‚Parallelgesellschaften’ und dem angeblichen Anwachsen von Terrorismus und Extremismus; andere kritisierten die „Blindheit“ gegenüber sozialer Ungleichheit und struktureller Diskriminierung, welches sozio-ökonomische Asymmetrien zwischen ‚Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft’ verfestige.
Dieser „Backlash against multiculturalism“ 4 hatte insbesondere in Deutschland ein integrationspolitisches Vakuum hinterlassen, welches den Nährboden für Publikationen wie „Deutschland schafft sich ab“ lieferte, aber zugleich Freiräume für die Weiterentwicklung hin zu einem inklusiveren Politikverständnis schuf. Den jüngsten Beleg dafür bot die Formulierung des Bundespräsidenten vom „neuen deutschen ‚Wir’“: Damit eng verbunden ist die Absage gegen die Vorstellung einer homogenen Aufnahmegesellschaft, in die hinein sich Einwanderer integrieren, und die verspätete, aber entscheidende Einsicht, dass Migrationsprozesse grundsätzlich eine gesamtgesellschaftlichen Wandel zur Folge haben, dessen Ausrichtung von allen mitgestaltet bzw. ausgehandelt werden muss. 5
- Vgl. Steven Vertovec: „Superdiversity“ – [zuletzt aufgerufen am 28.09.2014]
- Nevim Çil: Diversity und Multikulturalität: Macht und Ausgrenzung in modernen Gesellschaften, in: Susanne Stemmler (Hrsg.): Multikultur 2.0 – Willkommen im Einwanderungsland Deutschland, Bonn 2011, S. 192-200.
- Zitat von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Herbst 2010. Vgl. Susanne Stemmler: Jenseits des Multikulturalismus: Visionen eines postethnischen Deutschlands, in: Susanne Stemmler (Hrsg.): Multikultur 2.0 – Willkommen im Einwanderungsland Deutschland, Bonn 2011, S. 9-22.
- Vgl. Steven Vertovec; Susanne Wessendorf: The Multiculturalism Backlash: European Discourses, Policies and Practices, London 2010.
- Vgl. Joachim Gauck: „Es gibt ein neues deutsches Wir, die Einheit der Verschiedenen“
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Lieber Robert Westermann, Sie haben Recht: Wir brauchen z.B. die Mehrheits- und Einwandererbevölkerung ideell und mental zusammenbindende große Erzählung, an die zuletzt Naika Foroutan erinnert hat. Sie sollte Migration als konstitutives Element der Entwicklung von Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur nicht nur in der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit verankern. Sie sollte auch die längeren Linien der Geschichte Deutschlands und Europas einschließen, in denen sich ständig Menschen über Grenzen und oft auch Grenzen über Menschen bewegten. Dieses visionäre Selbstbild der Einwanderungsgesellschaft sollte in allen öffentlichkeitswirksamen Bereichen vermittelt und gelebt werden – von Kindertagesstätten über Schulen, Betriebe und Museen bis zur kultursensiblen Altenpflege.
Bleibt eine solche Zusammenhalt stiftende große Erzählung in der modernen Einwanderungsgesellschaft dauerhaft aus, dann könnte in der oft vergessenen Mehrheitsbevölkerung trotz insgesamt zunehmender Akzeptanz von Zuwanderung und kultureller Vielfalt die Zahl derer wachsen, die sich als ‚Fremde im eigenen Land‘ übergangen fühlen und sich deshalb ujmso mehr gegen ‚Überfremdung‘ wenden. Der internationale Vergleich mit der Entwicklung einwanderungs- bzw. fremdenfeindlicher Strömungen in anderen europäischen Einwanderungsländern sollte hier eine Warnung sein, zumal entsprechende Entwicklungen auch hierzulande schon in Gang gekommen sind. Es ist also in der Tat Zeit für ein neues Manifest – fangen Sie doch einfach an und suchen Sie nach geeigneten Autoren, so habe ich das damals auch gemacht, herzlich KJB
„Wir brauchen z.B. die Mehrheits- und Einwandererbevölkerung ideell und mental zusammenbindende große Erzählung.“
Also wo wollen Sie denn da ansetzen: Bei Vater Zeus oder der Arche Noah? Bei Adam und Eva? Geht nicht – da protestieren die Atheisten. Vielleicht einigen wir uns darauf, dass alle Deutschen von Hammurabi abstammen?
Scherz beiseite: Identität ist kein Plastikbegriff. „Identität“ heißt „identisch-sein“, zu 100, 90, 80, 70, 50 oder 0%. Wenn die einzelnen Identitätsmerkmale zu weit auseinandergehen, kann es keine „Identität“ als Gesamtheit geben. Welche Vision soll da helfen?
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