Zwanzig Jahre
Manifest der 60: Deutschland und die Einwanderung (1993)
Das “Manifest der Sechzig” markierte in Deutschland ein festes Datum in der öffentlichen Diskussion um Migration und Integration. Wer das Buch zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen einschätzen und bewerten will, muss es vor seinem zeitgeschichtlichen Hintergrund sehen. Erinnerungen des Herausgebers Klaus J. Bade.
Von Prof. Dr. Klaus J. Bade Freitag, 06.12.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 11.12.2013, 0:35 Uhr Lesedauer: 25 Minuten |
Im November 1993 ging das Manifest der Sechzig 1 bei C. H. Beck in den Druck, das am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück konzipiert worden war. Das Erscheinen dieser politikkritischen Programmschrift markierte in Deutschland ein festes Datum in der öffentlichen Diskussion um Migration und Integration. Wer das Manifest der Sechzig zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen einschätzen und bewerten will, muss es vor seinem zeitgeschichtlichen Hintergrund sehen.
Politische Erkenntnisverweigerung im Einwanderungsland
Die Integration der damals noch ‚Ausländer‘ genannten Einwanderer war im Deutschland der 1980er Jahre stetig vorangeschritten, im kommunalen Alltagserleben ebenso wie im Spiegel von Umfragen. Aus einer ‚Ausländerfrage‘ war eine Einwanderungsfrage, aus einem ‚Zuwanderungsland‘ ein echtes Einwanderungsland geworden. In seinen Grenzen begann sich eine kulturell vielfältige Einwanderungsgesellschaft zu entfalten.
Dieser unübersehbare Kultur- und Sozialprozess, der im griesgrämigen Einwanderungsland wider Willen zur verschämten Rede vom ‚De-facto-Einwanderungsland‘ führte, wurde politisch nicht zur Kenntnis genommen und in defensiver Erkenntnisverweigerung verdrängt. Es galt, zum Teil auch parteiübergreifend, das von der CDU noch bis zum Dresdener Parteitag 1992 aufrecht erhaltenen Motto: ‚Deutschland ist kein Einwanderungsland‘. Dabei zeigte sich ein Paradox: Auf der kommunalen Ebene, also dort, wo sich Einwanderung vor aller Bürger Augen ereignete, wurde die fortschreitende soziale Integration der Einwanderer pragmatisch gefördert. Politik auf der Bundes- und zum Teil auch auf der Länderebene hingegen beharrte gleichzeitig darauf, dass Deutschland ein ‚Einwanderungsland‘ weder sein noch werden dürfe.
Die 1980er Jahre wurden deshalb in der politischen Gestaltung auf der Bundes- und vielfach auch auf der Länderebene – anders als auf der kommunalen Ebene – ein verlorenes Jahrzehnt: Es fehlte an den von Wissenschaftlern, aber auch von Gewerkschaften, Kirchen, Mittlerorganisatonen, Ausländerbeauftragten und Migrantenorganisationen immer wieder vergeblich geforderten transparenten und der Bevölkerung zureichend vermittelten Konzepten für Migrations- und insbesondere Integrationspolitik als Kernbereiche der Gesellschaftspolitik.
Hintergrund von Irritationen und Frustrationen über Einwanderungsfragen bei vielen Bürgern war diese Abwesenheit von konzeptorientierter Politik in einer alltäglich erlebbaren und doch politisch für nicht-existent erklärten Einwanderungssituation. An deren Stelle traten vielfach populistische Ersatzhandlungen. Das galt vor allem für die immer wiederkehrenden, berüchtigten Anti-Ausländer- und Anti-Asylkampagnen zu Wahlkampfzeiten.
Besonders die politische und mediale Asyldebatte provozierte eine gefährliche Mischung von Wut und Angst: Die zentrale Anti-Asyl-Argumentation drehte sich dabei oft in immer gleichen Zirkeln: In der Regel wurden nur ca. 5 Prozent der Antragsteller als im engeren Sinne ‚politisch verfolgt‘ anerkannt und damit für asylberechtigt erklärt. Das von Politikern und Medien wider besseres Wissen immer wieder in Umlauf gebrachte und nicht aus der Welt zu schaffende falsche Argument, die abgelehnten übrigen 95 Prozent der Antragsteller seien ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘, war reine Demagogie. Es blamierte sich regelmäßig vor der Tatsache, dass einem erheblichen Teil der Antragsteller und ihren Angehörigen trotz der Ablehnung aus verschiedenen Gründen ein Flüchtlingsstatus zugesprochen oder doch Abschiebeschutz in Gestalt von Duldung auf Zeit gewährt werden musste.
Vor diesem Hintergrund wuchsen in weiten Teilen der Öffentlichkeit Überforderungsvorstellungen, soziale und kulturelle Ängste. Das hatte auch mit dramatischen Veränderungen im Wanderungsgeschehen selbst zu tun.
Politische Ratlosigkeit und Bürgerangst
Der Kalte Krieg hatte in Europa jahrzehntelang die Ost-West-Migration gedrosselt und damit im Westen auch die alten Ängste davor zurücktreten lassen. Als der Limes des Kalten Krieges Ende der 1980er Jahre zerbrach, wurde deutlich, dass er auch ein Bollwerk gegen die Ost-West-Wanderung gewesen war. 1989 bis 1992 wurden in Deutschland rund eine Million Asylsuchende gezählt; nicht eingerechnet unzählige Flüchtlinge, die keine Asylanträge stellten, weil sie sich damit nicht gegen ihr Herkunftsland stellen wollten. Die meisten stammten aus dem in Krieg und Bürgerkrieg blutig zerfallenden Vielvölkerstaat Exjugoslawien. Hinzu kam die um die Jahrzehntwende jährlich abrupt in die Hunderttausende hochschnellende Zahl von Aussiedlern aus Südost- und besonders aus Osteuropa sowie zusätzlich noch die im Vereinigungsprozess rapide steigende, nunmehr innerdeutsche Ost-West-Migration.
Dieses Zusammentreffen der verschiedenen, stark wachsenden Zuwanderungen und die Furcht vor ihrer weiteren Entfaltung schien furchterregende ‚Migrationsszenarien‘ und populistische Migrations-Menetekel zu bestätigen: Bedrohungsvisionen von gewaltigen ‚Strömen‘ und ‚Fluten‘ zunächst aus dem Osten Europas, dann möglicherweise auch aus dem Süden der Welt, schienen konkrete Gestalt anzunehmen.
Vergeblich warfen engagierte Wissenschaftler, Ausländerbeauftragte und Praktiker der Ausländerarbeit schon in den 1980er und besonders in den frühen 1990er Jahren immer wieder Hinweise in die erregte Debatte, dass viele Asylsuchende, Flüchtlinge und andere, z.B. saisonal beschäftigte Ausländer, das Land wieder verließen oder, wie z.B. Zehntausende von Roma-Flüchtlingen Anfang der 1990er Jahre, mehr oder minder zwangsweise ‚rückgeführt‘ wurden. Vergebens: Demographische Argumente vermochten gegen die alltägliche Erfahrung der de facto zunehmenden und von vielen Zeitgenossen als soziale und kulturelle Bedrohung empfundenen Begegnungen mit stets neuen ‚Fremden‘ immer weniger auszurichten; denn Kulturangst reagiert nicht auf rationale Argumente. Das lange fahrlässig gefüllte Fass lief über.
Bürgerwut und Explosion der Gewalt
Vor dem Hintergrund stark steigender Zuwanderungen und fehlender Konzepte zu ihrer Gestaltung schlugen die aufgestauten Frustrationen im vereinigten Deutschland Anfang der 1990er Jahre beobachtbar zunehmend um in fremdenfeindliche Aggressivität. „Wir warnen davor, das zentrale Politikfeld der Zuwanderung und Eingliederung zugewanderter Minderheiten weiter zu vernachlässigen“, warnte noch Ende August 1991 ein von mir initiierter, von mehreren Zeitungen übernommener Aufruf engagierter Professoren verschiedener Fachrichtungen: „Die Probleme der Zuwanderung und Eingliederung eingewanderter Minderheiten müssen endlich als entscheidende Zukunftsaufgabe deutscher und europäischer Politik begriffen und mit umfassenden Konzepten beantwortet werden. Die Lage wird sich zuspitzen, wenn nicht vorausschauend politisch gehandelt wird.“ 2
- Das Manifest der 60: Deutschland und die Einwanderung, hg.v. Klaus J. Bade, München 1994 (Download www.kjbade.de‚ ›Bücher‹).
- Klaus J. Bade, Homo Migrans. Wanderungen aus und nach Deutschland. Erfahrungen und Fragen, Stuttgart 1994, S. 80ff.; vgl. ders., Ausländer – Aussiedler – Asyl. Eine Bestandsaufnahme, München 1994, S. 92ff.
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